Bewusstes Leben 2023


April - August 2023


Die vererbten Gefühle der Kriegsenkel

© Foto: Sasint Tipchia – pixabay.com
© Foto: Sasint Tipchia – pixabay.com

Autorin: Sabine Tewes

Was hat meine Depression mit meiner Oma und dem Krieg zu tun?

Die Praxen der Psychotherapeuten sind voll. Es gibt lange Wartezeiten. Die Patienten? Oft Menschen, die von außen betrachtet alles haben, was man sich wünschen kann. Einen interessanten Beruf, eine gute Beziehung, nette Kinder. Ein schönes Zuhause, Freunde, genug Geld, um in den Urlaub fahren zu können. „Eigentlich habe ich alles und doch bin ich nicht glücklich. Oft fühle ich eine unerklärliche Schwere, manchmal ist alles wie in grauen Nebel gehüllt, und sehr oft weiß ich gar nicht, wie ich mich fühle. Es fällt mir schwer, das, was ich fühle, in Worte zu fassen und ich stelle mich und meine Gefühle und Bedürfnisse oft in Frage. Ich fühle mich schlecht, weil es mir nicht besser geht. Ich müsste doch dankbar sein für all das, was ich habe, und trotzdem bin ich unzufrieden oder sogar depressiv. Ich verstehe mich selber nicht. Was ist nur los mit mir? “

 

Diese Sätze höre ich so oft von meinen Patienten. Und ich höre sie vor allem von Menschen der Jahrgänge 1955-1975.

Wir machen uns dann auf die Suche nach Auslösern oder Ursachen für diese depressive Verstimmung. Oft finden wir im aktuellen Leben keine Anhaltspunkte. Wenn wir dann einen Schritt weiter gehen und in die Biographie der Kindheit einsteigen, finden sich bei vielen dieser Menschen Parallelen. Sie berichten, materiell eine gute Kindheit gehabt zu haben. Sie haben in einem schönen Haus gelebt, hatten ein eigenes Zimmer, haben ein Musikinstrument lernen dürfen. Eigentlich sei alles in Ordnung gewesen. Hinterfragt man das „eigentlich“, erfährt man folgendes: „Eigentlich habe ich überhaupt keine emotionale Verbindung zu meinen Eltern. Ich weiß gar nicht, wer meine Eltern sind. Über Gefühle wurde nie gesprochen und wenn ich emotional wurde, habe ich oft den Satz gehört: ´Geh auf dein Zimmer und komm erst wieder, wenn du dich beruhigt hast.´ Irgendwie haben sich meine Eltern nie wirklich für mich interessiert. Ich habe mich nie von ihnen gesehen gefühlt.“ 

 

Was ist da passiert?

Was viele von uns nicht präsent haben ist die Tatsache, dass wir bei Eltern aufgewachsen sind, die den Krieg erlebt haben. Den 2. Weltkrieg. Wenn meine Eltern zwischen 1925 und 1945 geboren wurden, sind sie das, was wir heute Kriegskinder nennen. Diese haben im Krieg oft Traumata erlebt. Bombenangriffe, Nächte in Luftschutzkellern, Flucht oder Vertreibung, Hunger. 

Was bedeutet Trauma eigentlich? Ein Trauma ist ein lebensbedrohliches Ereignis, dem ich hilflos und ohnmächtig ausgeliefert bin. Das ist eine Situation, die eigentlich für den Mensch nicht zu überleben ist.

Um ein Trauma zu überleben, hat die menschliche Psyche allerdings einen wunderbaren Abwehrmechanismus zur Verfügung: Abspaltung. Gefühle, die in dem Moment des eigentlichen Traumas hätten gefühlt werden müssen, werden abgespalten. Ebenso Bedürfnisse, die in dem Moment da gewesen sind. Nur durch die Abspaltung von Gefühlen und Bedürfnissen ist das Überleben möglich. Was zunächst eine sinnvolle Überlebensstrategie war, wird später dann aber zum Problem. Denn die Verbindung zu den eigenen Gefühlen bleibt oft ein Leben schwierig. 

Und das beeinflusst natürlich auch den Umgang mit den eigenen Kindern.

Diese wachsen dann - ohne es zu wissen - mit durch den Krieg traumatisierten Eltern auf. Das bedeutet oft, dass die Eltern emotional nicht so schwingungsfähig mit ihnen umgegangen sind, wie sie es als Kind gebraucht hätten. Ein Kind braucht Eltern, die die kindlichen Gefühle wahrnehmen, diese widerspiegeln und dann mit ihm aushalten, damit das Kind lernt: Das, was ich fühle, ist okay und mit mir ist alles in Ordnung. Wenn allerdings Kinder in ihrer Emotionalität eher ignoriert und abgelehnt werden oder bestimmte Gefühlsausbrüche gar mit Liebesentzug bestraft werden, hat das Kind keine Möglichkeit, seinen eigenen Gefühlen zu vertrauen. Das führt oft dazu, dass diese Kinder auch als Erwachsene sich ihrer eigenen Gefühle und Bedürfnisse nicht sicher sind. Sie fühlen etwas, stellen das aber gleichzeitig wieder in Frage. Sie vertrauen nicht ihrer Intuition und das verunsichert. Somit entsteht oft dieses diffuse Lebensgefühl von Unsicherheit und „mit mir stimmt etwas nicht“, was wir häufig in dieser Generation der sogenannten Kriegsenkel finden.

 

Wir wissen heute, dass es eine transgenerationale Weitergabe von Kriegstraumata gibt. Das heißt, auch wenn wir selbst den Krieg nicht erlebt haben, kann es gut sein, dass wir gewisse Traumafolgen unserer Vorfahren in uns tragen, ohne dass wir uns dessen bewusst sind. Möglich wäre beispielsweise, dass wir einen Teil der Trauer und Schwere in uns tragen, die eigentlich zu unserer Großmutter gehört. Die vielleicht eine Flucht erlebt hat, dabei ein Kind verloren hat oder deren Ehemann im Krieg gefallen ist. Was immer diese Oma an Trauma erlebt hat- um zu überleben musste sie ihren Schmerz abspalten, damit sie weiterhin stark sein konnte für ihre Kinder. Dieser Schmerz bleibt aber im Familiensystem gespeichert, und es kann sein, dass wir, die Kriegsenkel, zwei Generationen später ihn nun stellvertretend fühlen. Ohne natürlich zu wissen, woher er kommt. 

 

Wann immer wir etwas fühlen, was wir nicht einordnen können und was scheinbar in unserem Leben so gar keinen Sinn macht, kann es hilfreich sein zu schauen: Gibt es jemanden in meinem Familiensystem - oft zwei Generationen vorher -  für den dieses Gefühl Sinn gemacht hätte?

Viele Symptome unserer heutigen Zeit, mit der Menschen vor allem aus der Kriegsenkelgeneration zum Therapeuten kommen, lassen sich bei genauem Hinsehen als sogenannte vererbte oder übernommene Gefühle identifizieren. Es ist für den Verstand schwer vorstellbar, aber wir erben eben nicht nur bestimmte körperliche Merkmale oder Charaktereigenschaften von unseren Vorfahren, sondern auch Gefühle, die diese als Traumafolge nicht ausreichend verarbeitet haben. Mittlerweile erforscht und belegt auch die Neurowissenschaft diese epigenetischen Veränderungen im Erbgut. 

 

Gerade die depressiven Symptome, die ja leider zunehmen, lassen sich oft mit dem Schicksal unserer Vorfahren in Verbindung bringen. Wenn wir Depression mit fehlender Lebensfreude übersetzen, dann lassen sich in jeder Familie Vorfahren finden, die durch die Kriegsereignisse allen Grund hatten, ihre Lebensfreude zu verlieren. 

Auch ein auffallend ablehnendes und abwertendes Verhalten Männern gegenüber, das wir manchmal bei Frauen in der heutigen Zeit finden, die selber nie schlechte Erfahrungen gemacht haben, kann einen transgenerationalen Ursprung haben. Hier findet sich beim Nachforschen im Familiensystem oft eine Großmutter, die im Krieg Gewalt durch Soldaten erlebt hat. 

Oder ein außergewöhnlich starkes Heimweh bei Kindern während einer Klassenfahrt. Hier finden sich oft Kriegskinder in der Familiengeschichte, die während einer mehrmonatigen Kinderlandverschickung natürlich unter existentiellem Heimweh gelitten haben.

Ich kann nur jedem aus der Kriegsenkelgeneration (das sind ungefähr die Jahrgänge 1955-1975) Mut machen, erst einmal alle Gefühle bei sich ernst zu nehmen.  Wenn wir allerdings keinen plausiblen Grund oder Auslöser dafür in unserem eigenen Leben finden, lohnt sich die Frage: Für wen in meinem Familiensystem hätte dieses Gefühl damals Sinn gemacht?

 

Es ist gut und wichtig, die Gefühle, die nicht zu mir gehören, zu erkennen und von meinen eigenen zu unterscheiden.

Die Folgen dieser transgenerationalen Weitergabe von Kriegsereignissen sind sehr vielschichtig und nicht leicht bei sich selber zu erkennen. Um diese besser zu verstehen, biete ich in meiner Praxis gerne eine Familienaufstellung an. Hier kann man schauen, zu wem das Symptom oder die Gefühle wirklich gehören. Und dann zeigt sich vielleicht, dass meine Depression eigentlich zu meiner Oma gehört, die im Krieg so vieles verloren hat. Dann sehe und fühle ich vielleicht zum ersten Mal ihr Schicksal. Und dann kann ich zu ihr sagen: „Liebe Oma, jetzt  sehe ich dein Schicksal und verneige mich davor. Und ich lasse es ganz bei dir. Denn da gehört es hin. Zu dir und deiner Würde, und die lasse ich dir. Ich bin nur deine Enkelin.“ Dies wäre zum Beispiel ein schöner Lösungssatz, um frei zu werden von den übernommenen Gefühlen der Oma und somit frei für das eigene Leben. 

 

In jedem Fall macht es Sinn, sich mit der eigenen Familiengeschichte ein bisschen zu beschäftigen. Einfach mal zu schauen: Wie alt waren meine Eltern oder Großeltern eigentlich im Krieg? Wo haben sie gelebt? Was haben sie erlebt? Einiges wissen wir vielleicht, aber vieles auch nicht. Dann macht es Sinn nachzufragen. Vielleicht leben die Eltern noch - oder aber eine Tante oder ein Onkel. Je mehr ich über meine eigene Familiengeschichte in den Kriegsjahren weiß, je mehr über diese Zeit also gesprochen wird, umso weniger ist es nötig, dass die unverarbeiteten Traumata, die „unerhörten“ Ereignisse, Spuren bei den nachfolgenden Generationen hinterlassen. 

 

Wenn dieses Thema mit Ihnen in Resonanz geht und Sie sich intensiver damit auseinandersetzen möchten, kann ich Ihnen den Verein Kriegsenkel e. V. empfehlen. Unter www.kriegsenkel.de finden Sie viele hilfreiche Buchempfehlungen und Hilfsangebote zu diesem Thema.

 

Sabine Tewes ist Ärztin und Familientherapeutin und seit 2003 in eigener Praxis in Oldenburg tätig.

Termine zu Familienaufstellungs-Seminaren und Vorträgen finden Sie unter

www.familientherapie-oldenburg.de . Tel. 0441-2339502, sabine.tewes@web.de 


Dezember 2022 - April 2023


Vertrauen braucht Mut

© Foto: Lothar Dieterich - www.pixabay.com
© Foto: Lothar Dieterich - www.pixabay.com

Autorin: Verena Kast

Vertrauen und Misstrauen als Grundhaltungen

Manchen Menschen vertrauen wir einfach, anderen misstrauen wir – oder wir versuchen, das anfängliche Misstrauen zu überwinden. Wir vertrauen auch der Technik, unseren Regierungen, unseren Medikamenten – oder eben: wir misstrauen. Manchmal sind wir zu vertrauensvoll, und dann werden wir mit einer unschönen Realität konfrontiert, manchmal sind wir zu misstrauisch und spüren, wie wir auf uns selbst zurückgeworfen werden, aus unseren normalen vertrauensvollen Verbindungen, die wir sonst mit Menschen haben, herausfallen, uns unsicher fühlen, bedroht – nicht mehr aufgehoben.

Vertrauen und Misstrauen sind Grundhaltungen von uns Menschen – in den vielfältigen Beziehungen und Bezügen, in denen wir leben. Sie regeln unsere Beziehungen untereinander, und letztlich haben sie einen großen Einfluss darauf, ob wir glauben, anstehende Probleme, im Privaten, aber auch im öffentlichen Raum, lösen zu können – miteinander. Sie bestimmen darüber, wie wir die Zukunft antizipieren. 

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Wenn dir dein eigenes Kind fremd ist und es deinem Kind mit dir genauso geht

Foto: © Tom – www.pixabay.com
Foto: © Tom – www.pixabay.com

Autor: Oliver Dierssen

Interview: Julia Meyn für den mosaik Verlag

 

Wer ist Oliver Dierssen?

Ich bin niedergelassener Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie mit dem Arbeitsschwerpunkt Eltern-Kind-Interaktionsstörungen. Das Thema beschäftigt mich seit vielen Jahren. Beinahe bei allen seelischen Belastungen von Kindern und Jugendlichen zeigt sich auch eine Belastung der Eltern-Kind-Beziehung.

 

In der Einleitung zu Ihrem Buch schreiben Sie, Sie hätten nie erwartet, ein Buch über Eltern-Kind-Beziehungen zu schreiben, die von Unverständnis, Fremdheit und Abstand geprägt sind. Wie kam es, dass Sie ein solches Buch nun doch geschrieben haben?

In den wegweisenden aktuellen Elternratgebern stehen Bindung und Beziehung ganz im Mittelpunkt. Und das auch zu Recht: Bindungsorientierte Erziehung macht Kinder stark. Zu wenig geschrieben und auch gesprochen wird mir darüber, was passiert, wenn die Beziehung nicht gut gelingt. Über dieses Thema wird zu oft geschwiegen, dabei ist es hochbelastend: Was tue ich, wenn ich mit meinem Kind nicht richtig warm werde, wenn wir uns fremd bleiben und trotz aller Mühen einfach nicht verstehen?

 

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August - Dezember 2022


(Außer) Kontrolle

© Gerd Altmann – Pixabay.com
© Gerd Altmann – Pixabay.com

Autor: Ulrich Hoffmann

 

Der Zeitgeist lässt uns glauben, wir sollten jederzeit alles unter Kontrolle haben. Und wenn das nicht gelingt, wäre es unsere Schuld. Psychologen sagen, das ist der sicherste Weg in Burnout oder Depression. Denn vieles lässt sich einfach nicht kontrollieren. Andererseits steigert es unsere Lebenszufriedenheit enorm, wenn wir eine möglichst umfangreiche Selbstwirksamkeit entfalten. Deshalb ist es wichtig zu erkennen, was wir beeinflussen können und was nicht. Und herauszufinden, wie wir mit dieser Kränkung unserer Allmachtsfantasie besser klarkommen. Vielleicht kennen Sie das sogenannte »Gelassenheitsgebet«: »Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.« Da nickt doch eigentlich jede*r. Denn dagegen ist wenig einzuwenden. Aber woher nun die Gelassenheit, den Mut und die Weisheit nehmen, wenn Gott noch nicht geliefert hat? (…) Das »Gelassenheitsgebet« wird oft im Rahmen von 12-Schritt-Programmen wie bei den Anonymen Alkoholikern genutzt. Weil es die Erkenntnis auf den Punkt bringt, dass wir auf manche Dinge Einfluss haben und auf andere nicht. Und dass dagegen weder Alkohol noch andere Drogen, Sex, Shopping, TV oder Essen helfen. Wer sich im Alltag ständig an den unbeeinflussbaren Dingen die Zähne ausbeißt, braucht früher oder später Hilfe. (…)

 

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Mit dem Atem das Fundament legen

© Mitchell Griest – Unsplash.com
© Mitchell Griest – Unsplash.com

Autor: Daniel Siegel

 

In der ersten Woche dieses Programms legen wir das Fundament für die Praxis des Bewusstseinsrades, und zwar, indem wir uns auf den wichtigsten Baustein konzentrieren. Wir lernen, mithilfe des Atems unsere Aufmerksamkeit zu stabilisieren.

Bewusstes Atmen schafft eine gewisse innerliche Kohärenz, was wahrscheinlich an der Struktur der Wiederholung von Inhalation und Exhalation, Einatmen und Ausatmen liegt. Es ist tief befriedigend und erdend, etwas zu erwarten, was dann geschieht, so wie es beim Atmen der Fall ist. Es kann dem Leben eine gewisse Zuverlässigkeit und Berechenbarkeit verleihen. Für viele ist es so, dass eine solche Fokussierung auf den Atem eine Kohärenz schafft, und zwar nicht nur durch physiologische Ausgeglichenheit in der Herzregion, sondern auch durch die geistige Klarheit, die lange über die reine Übungsphase hinaus anhalten kann.

Diese Übung – sich auf den Atem zu fokussieren und zu ihm zurückzukommen, wenn der Geist abschweift – kann für die Entwicklung Ihrer Meditationspraxis das beste Werkzeug sein und ein Geschenk, das Sie im täglichen Leben immer wieder beglückt. Denn, kaum zu glauben: Wir atmen ja immer!

 

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