Gesellschaftlicher Wandel 2023/2024


Dezember 2023 - April 2024


Innerer Frieden – äußerer Frieden

© Joe auf pixabay.com
© Joe auf pixabay.com

Zum wahren Selbst finden und wahren Frieden finden

Thich Nhat Hanh

Vorwort von Jane Goodall

 

Es stimmt mich traurig, dass ich Thich Nhat Hanh nie persönlich kennengelernt habe, denn die Lektüre von »Innerer Frieden – äußerer Frieden: Zum wahren Selbst finden und Liebe in die Welt bringen« hat etwas tief in mir angerührt. Während des Zweiten Weltkriegs war ich noch ein Kind, aber mir war der Horror dieser furchtbaren Zeit – das Töten und Zerstören – sehr wohl bewusst. Wir lebten zwar nicht in einer der großen Städte, in denen deutsche Bomben und V2-Raketen Nacht für Nacht Angst und Schrecken verbreiteten, aber trotzdem mussten auch wir Schutz vor den über uns hinwegdonnernden Flugzeugen suchen, und wir spürten, wie das Haus bebte, wenn gelegentlich Bomben in der Nähe einschlugen. Menschen, die wir kannten, wurden getötet. Und als ich vom Holocaust erfuhr und die ersten Fotos der lebenden Skelette sah, die schließlich aus den Haufen Toter gerettet worden waren, schockierte mich das zutiefst. Wie konnte man so mit Menschen umgehen?

 

Wann immer ich mich ängstlich fühlte, kletterte ich auf meinen Lieblingsbaum im Garten und versuchte, auf einem der Äste sitzend, zu verarbeiten, was da geschah. Ich glaube, dort habe ich gelernt, wie wichtig innerer Frieden ist. »Das Leben ist voll von Leiden, aber es ist auch voller Wunder«, schreibt Thich Nhat Hanh. Doch auch ohne von diesem wunderbaren Mönch oder seinen Lehren zu wissen, war mir die Wahrheit dieser Worte seit meiner Kindheit gegenwärtig. Für mich bestanden die Wunder in den sich im Wind hin und her wiegenden Blättern, im Gesang eines Vogels, der Liebe in den Augen meiner Mutter und der tiefen emotionalen Bindung zu meinem so besonderen Hund. Und, obwohl es mir zu der Zeit noch nicht klar war, aber damals lernte ich, dass im gegenwärtigen Moment zu leben eine Möglichkeit war, mit Schmerz und Leiden umzugehen. Eine andere Möglichkeit, so entdeckte ich später, lag darin, etwas zu tun, irgendetwas, um zu versuchen zu helfen.

 

Thich Nhat Hanh war viel näher an den zerstörerischen Kräften, die Vietnam während des von den Vietnamesen so genannten »amerikanischen Kriegs« auseinanderrissen. Zu dieser Zeit befand ich mich weit entfernt von den schrecklichen Dingen, die in seiner Welt vor sich gingen. Ich lebte in den Regenwäldern des Gombe-Nationalparks in Tansania und lernte von den Schimpansen und dem Wald, in dem sie lebten. Lernte etwas über die Verbundenheit allen Lebens. Und spürte eine enge spirituelle Verbindung mit der natürlichen Welt und ein Gefühl des Einsseins mit der mich umgebenden Schönheit. Als ich erfuhr, was in Vietnam geschah – von den Napalm-Bomben, die den Menschen so viel Leid zufügten, und der Entlaubung der Wälder mittels riesiger Mengen von Agent Orange –, war ich entsetzt. Das Leiden der Menschen. Das Leiden der Natur.

 

Anders als so viele buddhistische Mönche thematisierte Thich Nhat Hanh die  Ungerechtigkeit, die seinem Land angetan wurde. Er reiste in die USA (und später in weitere Länder), um gemeinsam mit anderen ein Ende des Kriegs zu fordern. Und dafür zwang man ihn, ins Exil zu gehen; die Regierungen Nord- wie Südvietnams verweigerten ihm die Möglichkeit, in seine Heimat zurückzukehren. Damit begann seine Mission, der Welt die Lehren des Buddhismus zu bringen. So wurde aus seiner persönlichen Tragödie ein Segen für Millionen Menschen auf der ganzen Welt.

Die zentrale Lehre der Jugendbewegung Roots & Shoots, die ich 1991 gegründet habe, ist, dass jeder und jede Einzelne etwas bewirkt, jeden Tag aufs Neue, und man sich aussuchen kann, was man bewirken will. Dass alles auf dieser Welt miteinander verbunden ist und die Handlungen eines einzelnen Menschen Ereignisse auf der anderen Seite des Globus beeinflussen können. Dass Kopf und Herz harmonisch zusammenarbeiten müssen, damit wir unser wahres menschliches Potenzial entfalten können. Dass es wichtig ist, die Herzen der Menschen zu erreichen, um ihre Denkweise zu ändern, denn sie müssen sich von innen heraus verändern. Und dass, wenn einem eine Ungerechtigkeit, eine Grausamkeit, die Menschen oder Tieren angetan wird, nahegeht, man versuchen sollte, dagegen etwas zu tun – die Ärmel hochkrempeln und aktiv werden. 

 

Die Mitglieder von Roots & Shoots verstehen die Notwendigkeit, in Frieden und Harmonie miteinander und mit der natürlichen Welt zu leben. Wenn wir uns eine friedliche Welt wünschen, wie können wir das schaffen, wenn wir aus Wut und Hass heraus für den Frieden kämpfen? Das funktioniert nicht, denn, wie Thich Nhat Hanh lehrt, wir müssen der Frieden sein, den wir uns für die Welt wünschen. Für viele scheint das unmöglich – wenn Ihre Eltern getötet wurden, Sie vergewaltigt wurden, Ihr Zuhause zerstört wurde, wie können Sie dann der Frieden sein, den Sie sich für die Welt wünschen? Aber es wird Ihnen sicherlich helfen, wenn Sie von Menschen umgeben sind, deren Herzen von Liebe und Hoffnung auf Frieden erfüllt sind. Vielleicht hilft das, die ersten Schritte weg vom Hass zu machen. Und hin zur Vergebung. Dies sind die Themen, über die ich so gerne mit Thich Nhat Hanh diskutiert hätte; sie halten mich bis tief in die Nacht wach. Denn ich bin mir sicher, dass seine Weisheit, seine friedvolle Ausstrahlung mir auf meiner eigenen Reise durch das Leben helfen würden, und das wiederum würde mich unterstützen, anderen, die leiden, besser zu helfen. 

 

Kürzlich erhielt ich einen Brief von einem Mann, der anonym bleiben muss und der für ein Verbrechen bestraft wurde, das er nicht begangen hat. Er wurde zu acht Jahren Gefängnis verurteilt. Für nicht mehr als eine Stunde am Tag darf er seine Zelle verlassen und sich in einem kleinen, von hohen Mauern umgebenen Hof aufhalten. Er schrieb: »Ich sitze neben einem üppigen Feigenbaum. Über mir der wunderschöne blaue Himmel, mit Wolken wie aus Daunen. Mauersegler, Turmfalken, Spatzen, Stare und gelegentlich ein Adler zieren diesen Himmel. Der Hof mag nur fünfzehn mal fünfzehn Meter groß sein, aber hier finde ich meine Freiheit. Ich betrachte mich selten als einen Gefangenen.« Hatte er vielleicht die berühmten Worte von Thich Nhat Hanh gelesen: »Das Leben ist voller Leiden, aber es birgt auch viele Wunder, wie den blauen Himmel, den Sonnenschein und die Augen eines Babys. Zu leiden ist nicht genug. Wir müssen auch in Berührung mit den Wundern des Lebens sein. Sie sind in uns und um uns herum, überall und zu jeder Zeit.«

 

Ein Holocaust-Überlebender erzählte mir, dass er es geschafft hatte, zwei Jahre Einzelhaft zu ertragen, weil hoch oben an der Wand seiner kahlen Zelle ein winziges Fenster war, durch das er den Ast eines Baumes sehen konnte. Und er sah, wie aus den Knospen Blätter wurden, wie sich gelegentlich Vögel dort niederließen, wie sich die Blätter im Herbst golden färbten; und das half ihm, die langen dunklen Winter zu ertragen, denn ihm blieben die Wunder des Lebens – die Blätter, die Vögel – in seinem Gedächtnis, während er darauf wartete, dass die Knospen im nächsten Frühjahr wieder aufbrechen würden.

Während ich diese Zeilen schreibe, leben wir in dunklen Zeiten. Zum Glück gibt es viele tapfere Menschen, die für Frieden und Gerechtigkeit und ein Ende von Diskriminierung kämpfen. Im Kampf gegen die Arroganz und Gier nach Macht und Reichtum, die die biologische Vielfalt und die natürlichen Ressourcen des Planeten Erde zerstören, Millionen von Menschen aus ihrer Heimat vertreiben und Millionen in Armut stürzen. »Innerer Frieden – äußerer Frieden« wurde 1987, vor über dreißig Jahren, erstmals veröffentlicht, aber die Worte sind immer noch lebendig und können all jenen Trost spenden, die für eine bessere Welt beten und arbeiten.

 

Um die Herzen der anderen zu verändern, sagt Thich Nhat Hanh, müssen wir zuerst das eigene verändern. Diese Lehre ist das Geschenk, das er überall dorthin mitgenommen hat, wohin er gegangen ist. Und dieses Geschenk lebt in seinen Lehren, die in diesem Buch festgehalten sind, weiter. »Zu leiden ist nicht genug«, sagt er. »Wir müssen auch mit den Wundern des Lebens in Berührung kommen.« Ein Soldat trägt ganz vorsichtig ein verwundetes Kind aus den Trümmern eines zerbombten Hauses in Syrien; ein Vogel zwitschert auf dem Ast eines Baumes in einem Flüchtlingslager; eine Mutter singt ihrem Kind ein herziges Wiegenlied vor, während draußen vor dem Fenster die Schüsse eines Bandenkrieges zu hören sind; eine Sterbende erinnert sich an die Umarmung ihres Geliebten, ihre Augen leuchten auf, und sie kann leichter loslassen.

 

Möge die Botschaft dieses Buches allen, die es lesen, Kraft geben für ihre eigene Reise, ihnen die Gewissheit geben, dass ihr Leben wichtig ist und zählt, und mögen sie immer mehr »in Berührung mit den Wundern des Lebens« sein. 

 

Dr. Jane Goodall, PhD, DBE, Gründerin des Jane-Goodall-Instituts und UN-Friedensbotschafterin

 

Thich Nhat Hanh:

 

Innerer Frieden – äußerer Frieden. Zum wahren Selbst finden und wahren Frieden finden

Vorwort © 2020 by Jane Goodall

 

112 S., 18 €

 

Siehe auch unter “Wortwelten” S.55.

 

Textauszug mit freundlicher Genehmigung des © Patmos Verlages. Verlagsgruppe Patmos in der Schwabenverlag AG, Ostfildern, 2023, www.verlagsgruppe-patmos.de


August - Dezember 2023


Gemeinsam die Welt verändern – aber wie?

© Gerd Altmann - pixabay.com
© Gerd Altmann - pixabay.com

Autorin: Eva Stützel

Viele Initiativen engagieren sich für einen Wandel in unserer Gesellschaft hin zu mehr Nachhaltigkeit im ganzheitlichen Sinne. Ein ganzheitliches Verständnis von Nachhaltigkeit umfasst für mich das Streben nach einem nachhaltigen Umgang mit den zur Verfügung stehenden Ressourcen und unserer Mitwelt, einen respektvollen Umgang mit all unseren Mitmenschen und einen achtsamen Umgang mit uns selbst. Dieser Wandel ist dringend notwendig im Zeitalter von Klimakatastrophen, Kriegen und erstarkenden faschistischen Tendenzen.

So viele Initiativen scheitern, manchen gelingt Großes – was trägt dazu bei?  Gemeinschaftliches Handeln kann Spaß machen und extrem erfolgreich sein, es kann aber auch die Hölle sein. »Die Hölle, das sind die anderen!« ist schon das Fazit von Jean-Paul Sartre in seinem weltberühmten Roman Geschlossene Gesellschaft (Huis clos). Was macht den Unterschied aus? Wann sind gemeinschaftliche Initiativen inspirierend und effektiv, und was macht sie manchmal zur Hölle?

 

Seit ich ein Teenager war, engagiere ich mich in Initiativen, die zum Wandel beitragen wollen. Meine Geschichte begann bei terre des hommes, ging weiter über die Gründung einer Pfadfindergruppe, eine BUND-Ortsgruppe, und seit 30 Jahren bin ich nun vor allem in ein und demselben Projekt aktiv, dem Ökodorf Sieben Linden. 

Lebensgemeinschaften wie das Ökodorf Sieben Linden sind eine Art »Dampfdruckkessel« einer gemeinschaftlichen Initiative. Wir arbeiten nicht nur ein paar Stunden zusammen für eine gemeinsame Sache, sondern wir teilen unseren Alltag miteinander. So begegnen wir uns in vielen verschiedenen Rollen und mit entsprechend vielen Herausforderungen. Kein Wunder, dass sich diese Szene besonders intensiv damit beschäftigt hat, was es braucht, damit gemeinschaftliche Projekte mit Freude am Miteinander und wenig Reibungsverlusten aufgebaut und weiterentwickelt werden können. 

Ich habe in dieser Zeit nicht nur durch die Erfahrungen beim Aufbau des Ökodorfes, sondern auch durch mein Engagement in diversen ökologischen, sozialen und politischen Initiativen und in meiner Tätigkeit als Beraterin / Begleiterin für derartige Initiativen sehr viel gelernt, was wichtig ist, um gemeinschaftliche Initiativen gelingen zu lassen. Mein Hintergrund als Diplom-Psychologin, viele Jahre als Geschäftsführerin und diverse Fortbildungen haben die praktischen sozialen Erfahrung ergänzt und vertieft.

Diese Erkenntnisse habe ich im »Gemeinschaftskompass« systematisiert und zusammengefasst. Der Gemeinschaftskompass ist eine Orientierungshilfe, die schon für viele Gruppen dazu beigetragen hat, ihr Handeln so auszurichten, dass es für alle Beteiligten freudvoller ist und sie leichter ihre Ziele erreichen.

Der Gemeinschaftskompass hat sich inzwischen in der Szene der Wohnprojekte und Lebensgemeinschaften als ein ganz wesentliches Modell etabliert, aber meine Erfahrung und das Feedback vieler Menschen, die den Gemeinschaftskompass kennengelernt haben, zeigen: Er ist nicht nur für diese Projekte relevant. Seine Essenz kann allen Initiativen, in der Menschen gemeinsam etwas erreichen wollen, eine wertvolle Orientierungshilfe sein. Für diese Initiativen habe ich dieses Buch geschrieben.

 

Was ist der Gemeinschaftskompass?

Die Essenz des Gemeinschaftskompasses lässt sich in einem Satz zusammenfassen:

Der Gemeinschaftskompass identifiziert sieben Aspekte, die wesentlich sind,
um gemeinschaftliche Projekte zum Blühen zu bringen:
Individuen, Gemeinschaft, Intention, Struktur, Praxis, Ernte und Welt.

Zentral sind die Aspekte »Individuen« und »Gemeinschaft«. Jede gemeinschaftliche Initiative braucht eine aktive Pflege des Miteinanders von Individuen in Gemeinschaft. Eine Grundbedingung für erfolgreiche Projekte ist es, dass die Menschen gerne miteinander arbeiten, die Treffen Veranstaltungen sind, auf die man sich freut, und dass sie auch zur persönlichen Entfaltung und Weiterentwicklung der Individuen beitragen.

Ich habe einige politische Initiativen erlebt, die tolle Ziele gemeinsam entwickelt haben. Trotzdem fehlte die Energie, sie zu verwirklichen, weil das Miteinander der Individuen in dem Projekt nur holprig funktionierte und keinen hohen Stellenwert hatte. »Ist egal, es geht doch um die Sache! Wir brauchen keinen Psychokram in unserer Gruppe!«, bekomme ich zur Antwort, wenn ich das Thema anspreche.

Es muss nicht für alle Gruppen »Psychokram« sein. Wie tief sich die Menschen aufeinander einlassen und was sie teilen wollen, hängt auch von der Ausrichtung der Gruppe ab. Eine Lebensgemeinschaft, die viele Aspekte des Lebens miteinander teilt, braucht mehr Offenheit für tiefen Austausch und gemeinsame Arbeit am persönlichen Wachstum als eine politische Initiative. Aber ein Fokus auf die Bedürfnisse aller Individuen und die Bereitschaft aller Einzelnen, sich gerade in Konfliktsituationen auch zu hinterfragen und den eigenen Anteil zu suchen, ist für alle Initiativen wichtig. Das verstehe ich unter dem Aspekt »Individuen«. »Gemeinschaft« umfasst ein Hinschauen auf das Miteinander und die Frage, wie es konstruktiv und verbindend gestaltet wird. Wenn die Gemeinschaft vernachlässigt wird, brennen die Menschen zu schnell aus und verlieren die Begeisterung und das Engagement.

Mit einem schönen Miteinander als Selbstzweck lässt sich aber kein konkretes Anliegen umsetzen. Dafür braucht es die anderen Aspekte des Gemeinschaftskompasses.

Was wollen wir gemeinsam? Was ist unsere gemeinsame Ausrichtung, was wollen wir konkret erreichen? Wie viel Gemeinsamkeit muss es da geben, und in welchen Bereichen ist Vielfalt okay oder vielleicht sogar erwünscht?

 

Diese Fragen zur Intention sind essenziell. Sie geben die Richtung des Projektes vor und sichern ab, dass niemand mit falschen Vorstellungen dabei ist, sondern alle wissen, was das gemeinsame Ziel und die gemeinsame Wertebasis ist und was nicht.

Eine der Intention angemessene, den Individuen Freiraum lassende und die Gemeinschaft fördernde Struktur ist der nächste wesentliche Aspekt. Struktur steht nicht nur für die Entscheidungswege, sondern auch für die Frage, wie Rollen verteilt und Arbeitsabläufe organisiert werden. Weitere wichtige Themen sind auch der Informationsfluss innerhalb der Gruppe, der Ablauf von Gruppentreffen und eventuell die Wahl einer Rechtsform. Eine sinnvolle Struktur für den Ablauf von Gruppen treffen kann sehr entscheidend für ein entspanntes und konstruktives Arbeiten sein.

Der nächste Aspekt, die Praxis, baut wiederum unmittelbar auf der Struktur und der Intention auf. Hier geht es darum, die Ziele in die Realität umzusetzen – wie erreichen wir das, was wir uns vorgenommen haben? Die Struktur schafft dafür den Rahmen, der jetzt »auf die Erde gebracht« werden muss. Zur Praxis gehören die Fachkompetenz und die Fähigkeiten, die es für die einzelnen Projekte braucht. 

In diesem Buch fokussiere ich nur auf zwei Praxisaspekte, die für alle Projekte in gewissem Maße notwendig sind: die Frage nach der Arbeitsverteilung und die Frage nach dem Geld. Das Feld »Praxis« ist damit nicht vollständig – allerdings sind die anderen Aspekte für jedes Projekt individuell. Hier ein paar Beispiele: Für ein Urban-Gardening-Projekt wäre der angemessene Praxisteil eine Einführung in den Gartenbau oder die Permakultur, für eine Schulinitiative die Pädagogik, für eine Bürgerenergiegenossenschaft die Erfahrungen mit verschiedenen Energiequellen, für eine Initiative zur Verhinderung einer Autobahn braucht es Kompetenzen im Campaigning und politischen Aktionen sowie verkehrspolitisches Know-how.

Der Aspekt Ernte ist derjenige, der sich am wenigsten selbst erklärt und gleichzeitig ein ganz entscheidender Faktor ist. Mit der Ernte will ich die Aufmerksamkeit darauf lenken, dass die Gruppe immer wieder auch die Früchte der Arbeit genießt. Dazu gehört beispielsweise das Innehalten, Zurückschauen, Auswerten und auch das Feiern – wie leicht kann dies im Eifer des Alltagstrubels verloren gehen! Und doch ist es ungeheuer wichtig, ab und zu aus dem Hamsterrädchen auszusteigen und durchzuatmen und zu schauen: Wo wollten wir hin, und wo sind wir gelandet? Wer und was hat dazu beigetragen? Was sollten wir verändern? Und wir sollten uns bewusst an den Früchten unserer Arbeit erfreuen und Erfolge feiern.

Die Ernte erinnert auch an die Notwendigkeit, aktiv Feedback einzuholen, für Feedback offen zu sein und Feedback – insbesondere Wertschätzung – zu geben, denn Wertschätzung ist eine der wichtigsten Burn-out-Prophylaxen.

 

Die vier Aspekte Intention, Struktur, Praxis und Ernte beinhalten einen Regelkreis, wie ihn alle Projektentwicklungsansätze auf die eine oder andere Art darstellen.

Der siebte Aspekt des Gemeinschaftskompass bringt eine neue Handlungsebene hinein. Das ist die Welt. Dieser Aspekt erinnert daran, dass Projekte nie im luftleeren Raum stattfinden, sondern eingebettet sind in diese Welt, in diese Gesellschaft, mit ihren Vorschriften, mit ihren anderen Interessengruppen, mit anderen Menschen, die uns unterstützen oder auch zerstören können. Sich dieser Tatsache bewusst zu sein, lenkt den Fokus auf neue Themen:

Welche Vorschriften sind für unsere Ziele relevant, und wie navigieren wir im Dschungel der zuständigen Behörden und Kontrollorgane? Wie können wir Synergieeffekte durch positive Kontakte und Netzwerke schaffen? Von welchen Erfahrungen anderer können wir lernen? Wer kann und möchte von uns lernen und unser Anliegen unterstützen? Aktive Öffentlichkeitsarbeit kann neue Welten und neue Unterstützer:innen erschließen. 

 

 

Textauszug mit freundlicher Genehmigung des oekom-Verlages. 

 

Eva Stützel: Gemeinsam die Welt verändern

352 S., 32 €

 

Siehe auch unter „Wortwelten“.

 


April - August 2023


Human KI - Künstliche Intelligenz zum Wohle des Menschen einsetzen

Bild: © Andy Kelly – unsplash.com
Bild: © Andy Kelly – unsplash.com

Autor: Christian Salvesen

 

Künstliche Intelligenz, (abgekürzt KI, Englisch AI von artificial intelligence) ist zu einem Dauerbrenner in den Medien geworden. Das Thema ist umstritten. Die Einen feiern KI als einen Durchbruch oder Sprung in der Entwicklung des Menschen, die Anderen befürchten das Ende jeglicher Würde, Freiheit und Menschlichkeit. Zwischen diesen Extremen gibt es etliche Zwischenstufen.

Die digitalen Technologien entwickeln sich immer schneller und verändern dabei unser aller Leben. Allein die Zeit, die wir täglich mit dem Handy und im Internet verbringen! Die Kommunikation findet überwiegend online statt. Ein junges Pärchen, das nebeneinander auf der Couch sitzt, unterhält sich nicht mehr direkt, sondern per SMS auf dem Smartphone. Roboter, die wie Menschen aussehen, sprechen und handeln. Diktaturen, in denen Maschinen alle fühlenden Lebewesen kontrollieren und unterdrücken. Virtuelle Realität (VR), in der wir unsere Träume leben, während das eigentliche Leben trostlos und die Erde am Ende ist: Das führen uns Romane und Filme aus dem Science-Fiction-Genre schon seit etlichen Jahrzehnten vor. Es scheint, wir sind an der Schwelle, wo die Visionen Wirklichkeit werden.

 

Was ist Künstliche Intelligenz?

Die einfachste Antwort: Wenn eine Maschine menschliche Intelligenz nachahmt bzw. simuliert. Definitionen von KI haken bis heute am Verständnis von Intelligenz. Meist wird sie daran gemessen, wie bestimmte Aufgaben gelöst werden. Beispiel: Intelligenztest. 

Als Anreiz für das Lösen einer Aufgabe gibt es in etlichen Tests Belohnungen. Bei Tieren ist es ein versteckter Leckerbissen, der über verschiedene Hindernisse gefunden werden soll. Doch sogar bei der Entwicklung von Künstlicher Intelligenz wird Belohnung als Strategie eingesetzt. Vor allem, seitdem als wissenschaftlich gesichert gilt, dass unser Gehirn beim Lernen ähnlich funktioniert.

Hier kommen bereits Faktoren ins Spiel, die mathematisch und rein logisch schwer zu fassen sind. Intelligenz ist eingebettet in einen komplexen Lebenszusammenhang. Nahrungssuche, Empfindungen, körperliches Überleben. Jedes Gehirn braucht (bisher) einen Körper. Auf dieser umfassenden Grundlage entwickelt sich Intelligenz. Und sie ist verbunden mit Qualitäten wie Empathie. Soziales Verhalten und Intelligenz hängen zusammen.

Die Vielschichtigkeit von Intelligenz – dabei sind Fähigkeiten wie Kreativität und Intuition noch nicht einmal berücksichtigt – kann bisher nicht von Computern simuliert, geschweige denn selbstständig entwickelt werden. Doch die Auseinandersetzung mit KI lässt uns fragen: Was ist der Mensch? Wer bin ich?

 

Die von Microsoft entwickelte Anwendung Chat GPT (Generative Pre-trained Transformer) gibt (scheinbar!) Antworten auf unsere Fragen. Das Programm hat Zugriff auf fast alle bisher digital verfügbaren Texte. Es folgt dem Prinzip der Vervollständigung einer angefangenen Reihe von Worten oder Zahlen. Der Philosoph Ludwig Wittgenstein meinte, wenn ich eine mathematische Reihe wie 1+1=2, 2+2=4, 3+3=6 richtig fortsetzen kann, dann habe ich sie verstanden. Ich kann mit ihr umgehen, vergleichbar mit dem Umgang eines Werkzeugs. Im Sprachbereich von GPT geht es um Wahrscheinlichkeiten bei der Weiterführung eines Anfangs. Nach drei Worten wie „Ich gehe zum…“ ist die Auswahl weit größer als bei „ich gehe zum Bahnhof“. Es wird eine Geschichte kreiert. Jeder kann nun seine Fragen oder auch Anweisungen eingeben bis hin zu: „Schreibe mir einen Text über die Unsterblichkeit von intelligenten Maschinen, möglichst authentisch, 3.000 Zeichen!“

Die Ergebnisse sind oft dermaßen erstaunlich, dass man meinen könnte, da antworte ein bewusstes, ja weises Wesen. Dem ist nicht so. Allerdings befürchten viele, ihre kreative Arbeit würde nun von Maschinen erledigt, während Schüler hoffen, mit Chat GPT ihre Hausarbeiten erledigen zu können. Das Prinzip funktioniert auch als Umwandlung von Text in Bild: Male mir ein Bild von dir selbst im Stil von van Gogh (ohne Pfeife bitte). 

Was in dieser Diskussion noch kaum berücksichtigt wird, ist der kreative Prozess selbst. Denken wir an den Zen-Spruch: „Der Weg ist das Ziel“. Wird hier nicht zu einseitig das Ergebnis zum Maßstab aller menschlichen Tätigkeit gemacht? Wo bleibt die Freude am Erschaffen? Warum sollten wir uns die von Maschinen wegnehmen lassen?

 

KI in Medizin, Gesundheit und Pflege

Handys, Navis, Suchmaschinen, Google, Metaverse, Facebook, Instagram, TikTok, - wir finden wie selbstverständlich Ergebnisse in Bruchteilen von Sekunden, hinterlassen dafür aber auch unsere Daten. Der Mensch wird gleichsam gehackt. Die Tech-Unternehmen wissen bereits mehr über uns als wir selbst – so ist zumindest die These des Historikers Yuval N. Harari in seinem Buch „Homo Deus“. 

Gefahren der Manipulation, Kontrolle und Entmenschlichung auf der einen Seite, aber auch positive Entwicklungen auf der anderen Seite, zum Beispiel im Bereich der Medizin. Da geht es bei der Diagnose und der Therapie heute vor allem darum, wieviel Daten zur Verfügung stehen und wie effektiv sie ausgewertet werden können. In dem Zusammenhang ist vom „Gläsernen Patienten“ die Rede. Je mehr Informationen über den Gesundheitszustand eines Patienten – aber auch von so vielen anderen Menschen wie möglich – vorliegen, desto besser kann eine KI bzw. ein bestimmter Algorithmus aus der gewaltigen Datenmenge Schlüsse ziehen, die zu einer richtigen Therapie führen. Einige Wissenschaftler glauben, dass die meisten Krebsarten auf dieser Basis in zehn Jahren geheilt oder bereits in einem Frühstadium gestoppt werden können. Dabei spielt auch eine Art Frühwarnsystem eine Rolle. Der „gläserne Patient“ trägt ständig kleinste, z.B. in seiner Kleidung eingebaute Messgeräte bei sich, die Daten bis in die Mikrostruktur von Zellen an eine „KI-Zentrale“ senden. Tatsächlich funktioniert das u.a. bereits bei Kühen, deren leicht erhöhte Temperatur per Sender gemeldet und so die kurz bevorstehende Kalbung gemeldet wird.

Enorme Fortschritte gibt es bei Menschen, die eine Prothese brauchen. Zwischen den vom Gehirn ausgehenden Impulsen und den künstlichen Gliedmaßen wird mit Hilfe von KI eine erstaunliche Verbindung geschaffen, BCI /Brain-Computer-Interface genannt. Der Patient kann seine künstliche Hand fast so durch Gedankenkraft steuern wie seine frühere natürliche. Ein ähnliches Prinzip machte es dem berühmten Physiker Stephen Hawking möglich, per Computer zu sprechen – trotz seiner fast vollständigen Lähmung.

Im Bereich von Betreuung und Pflege, wo bekanntlich ein enormer Mangel an Fachkräften und Personal herrscht, kommen zunehmend Pflege-Roboter zum Einsatz. Besondere Modelle wie das vom jungen ukrainischen Team Devanthro können aus weiter Entfernung wie ein Avatar gelenkt werden. Sie heben die Pflegebedürftigen aus dem Bett, bringen ihnen Essen, Getränke oder Medikamente, holen menschliche Hilfe, wenn nötig. Aber ist das nicht eine sehr bedenkliche Entwicklung? Bleiben da nicht Menschlichkeit, Empathie, Fürsorge und Verantwortungsgefühl auf der Strecke?

Buchtipps

Christian Salvesen (Hrsg.), www.christian-salvesen.de: „Gott werden oder Mensch bleiben" – siehe auch unter „Wortwelten“.

Thomas, Iain S/Wang, Jasmine/GPT-3: „Was euch zu Menschen macht", Diederichs Vlg.

Dr. Arnold Kitzmann: "Künstliche Intelligenz", Springer Vlg. 

Links zu Dokus: Können Algorithmen gesund machen? (arte) https://www.arte.tv/de/videos/101941-008-A/koennen-algorithmen-gesund-machen/

Scobel, KI im Alltag und in der Politik, Gespräch mit Prof. Kristian Kersting TU Darmstadt https://www.youtube.com/watch?v=rrXjIlLWk5E

Doku von Volker Strübing über KI https://www.zdf.de/kultur/kulturdoku/ich-rechne-also-bin-ich-104.html

 

Kongress „Humane KI“ und die „Oldenburger Erklärung“

Solche Fragen sind Thema des 1. Transdisziplinären Kongresses mit dem Titel „Humane KI – Mensch im Dilemma“.

Er findet von Freitag, 2. Juni 11 Uhr bis Samstag, 3. Juni 17 Uhr in Oldenburg statt.

Vorträge, Diskussionen, Präsentationen und Workshops von und mit ausgewiesenen ExpertInnen aus Wirtschaft, Wissenschaft, Gesundheitswesen, Philosophie und Kunst sollen inspirieren und zum Austausch anregen.

Alle TeilnehmerInnen vor Ort und auch online können Vorschläge einbringen, wie wir Künstliche Intelligenz so menschlich wie möglich nutzen können. Sie sollen in eine abschließende „Oldenburger Erklärung“ einfließen. Dazu schreibt der Bielefelder Verleger Joachim Kamphausen, Mitinitiator des Kongresses: „Wir wollen im Dialog mit den verschiedenen gesellschaftlichen Kräften einen aus der menschlichen Verbundenheit schöpfenden verbindlichen Wertekanon erarbeiten, der unserer Ausrichtung und unsere weiteren Aktivitäten bestimmt.“ 

Peter Gerd Jaruschewski war maßgeblich an der Organisation des Kongresses beteiligt. Sein plötzlicher Tod hat unser kleines Kongressteam tief getroffen. Er hätte gewollt, dass dieser Kongress Humane KI ein voller Erfolg wird.

 

Die Homepage zum Kongress: www.humane-ki.de


Dezember 2022 - April 2023


Die Sprache der Zuversicht

Foto: © Külly Selberg – www.pixabay.com
Foto: © Külly Selberg – www.pixabay.com

Autor: Ulrich Grober

 

Inspirationen und Impulse für eine bessere Welt

Die Zeit, so scheint es, ist aus den Fugen. Die Schocks der laufenden Ereignisse lösen Tag für Tag neues, lähmendes Entsetzen aus. Sie bringen uns dazu, die dunkelsten Bilder aus dem kollektiven Gedächtnis abzurufen. Etwas Kostbares droht hier und jetzt zu zerbrechen: der Glaube an die Zukunft. Dieses Buch möchte einladen, innezuhalten und einen Schritt zurückzutreten, um zu versuchen, aus der Distanz eine neue Perspektive zu gewinnen.

An jenem Wintermorgen 2022, als Russland den Angriffskrieg gegen die Ukraine begann, gab es das Gefühl, man sei in einer anderen Welt aufgewacht. Die Regierung rief eine Zeitenwende aus. Mit anderer Welt verband ich bis dahin – und verbinde ich immer noch – Bilder von jungen Menschen mit leuchtenden Augen. Ich höre ihre Sprechchöre auf den Klima-Demos: »Eine andere Welt ist möglich!« Mit Zeitenwende assoziierte ich die Einteilung der historischen Zeit in vor und nach Christi Geburt. Oder ich dachte an die  „Gezeitenwende«, den Wechsel von Ebbe und Flut, wie er sich seit Ewigkeiten in stetem, majestätischem Rhythmus unter dem Einfluss der Mondenergie Tag für Tag und Nacht für Nacht an den Küsten der Ozeane abspielt. Kriege aber sind keine Naturgewalten. Sie sind menschengemacht. So wie Erderwärmung, Artensterben, Pandemien und andere Erscheinungsformen der multiplen Krise, die uns in ihrem Bann hält.

Diese Zeitenwende, so scheint mir, ist überhaupt keine Wende. Sie bedeutet vielmehr ein »Weiter so« in alten Mustern, nämlich in der Logik imperialer Geopolitik des 19. und 20. Jahrhunderts. Diese ist heute zutiefst aus der Zeit gefallen. Im 21. Jahrhundert ist sie nicht nur – wie schon immer – zutiefst unethisch, sondern auch zutiefst irrational. Denn angesichts der existenziellen Herausforderungen der Zukunft können wir uns Kriege schlicht und einfach nicht mehr leisten. Es sei denn, wir wollten es tatsächlich auf eine »Endzeit« – Apokalypse – ankommen lassen.

 

Ich bin Wanderer und weiß: Wenn du merkst, dass du die Orientierung verloren hast, dich verirrt hast, ist der erste Impuls, einfach weiterzugehen. Entweder willst du dir aus Trotz und Stolz nicht eingestehen, dass du irgendwann, irgendwo einen Fehler gemacht hast. Oder du bist in eine Art Panik geraten und klammerst dich an die Hoffnung, dass vor dir im nächsten Moment doch wieder vertraute Landmarken in Sicht kommen. Erst jetzt machst du den entscheidenden Fehler. Je länger du dich nämlich in die falsche Richtung bewegst, desto weiter entfernst du dich von deinem Ziel. Kleine Kurskorrekturen helfen da nicht. Das Klügste, was du jetzt tun kannst, ist die Umkehr. Du musst zurückgehen bis zu dem manchmal weit zurückliegenden Punkt, zu der Weggabelung, wo du wieder auf sicherem Gelände bist. Erst von dort aus kannst du dir den richtigen Weg suchen, den du beim ersten Mal verpasst hast. Einen, der dich zum Ziel führt.

 

Mit den Wörtern Wende und Wendezeit verbindet sich eine radikale Hoffnung auf eine tatsächliche Umkehr. Eine solche Zeit nannten die alten Griechen* Kairos: der günstige Moment, das Zeitfenster, in dem sich neue Möglichkeitsräume auftun. Und damit alternative Pfade in ein unbekanntes Terrain – die Zukunft. Ein solches Zeitfenster öffnete sich vor jetzt fünfzig Jahren. Es ist ein halbes Jahrhundert, zwei Generationen, her. Auf dem bis heute letzten bemannten Flug zum Mond, im Dezember 1972, kehrten die drei Astronauten ihren Blick um und sahen durch die Schwärze des Weltalls hindurch ... »den schönsten Stern am Firmament«. In diesem Moment entstand das ikonische Foto des blauen Planeten. Es war ein epochales Bild: Zum ersten Mal in ihrer Geschichte sah die Menschheit die Erde, ihren Heimatplaneten, von außen. Die ganze Erde, in ihrer vollen Schönheit, Einzigartigkeit und Zerbrechlichkeit. Magischer Augenblick. Wende zu einer Großen Transformation?

Die Umkehr des Blicks erzeugte ein Wir-Gefühl, das nicht mehr nur auf den Nahraum begrenzt war, sondern die ganze Erde mit einschloss. Das Bild des scheinbar schwerelos im All schwebenden blauen Planeten vermittelte eine Art Flow-Gefühl. Man spürte etwas von der Leichtigkeit des Seins: »Das Leben ist gut.« Nur ein kurzer Satz. »Life is good« prangt in den USA auf T-Shirts und Baseballkappen. Ist das banal? »Wie es auch sei, das Leben, es ist gut«: Diesen Vers schrieb Goethe vor fast zwei Jahrhunderten in dem Gedicht „Der Bräutigam“. So bekommt die Aussage Tiefe: Das Leben ist es wert, gelebt zu werden. Es ist lebenswert, liebenswert, bejahenswert. Es ist von Bedeutung. Wie es auch sei! Auch mit den unvermeidbaren Anteilen von Leid, Schmerz und Verzweiflung.

Die Erde ist der schönste Stern am Firmament. Und: Das Leben ist gut. Das sind die beiden Setzungen, die dieses Buch vornimmt. Das ist der Rahmen, den dieses Buch vorschlägt. Es ist – unhintergehbar, nicht zu beweisen – der Nullpunkt, den es fruchtbar machen will. In diesen Grundannahmen und diesem Grundvertrauen, denke ich, liegen die Quellen aller positiven Energien. Die anderen Fragen schließen sich an: Was macht das Leben nachhaltig, verleiht ihm Bedeutung? Für was lohnt es sich, mit Hingabe zu arbeiten und manchmal alles einzusetzen, was man hat, kann und ist? Was gibt Zuversicht? Die Überzeugung von der Wirksamkeit des eigenen Tuns ist jedenfalls ein wichtiger Faktor. Eine alte Erfahrung: Erfolgreich kämpfst du nur für etwas, nicht bloß gegen etwas. Lässt sich in einen solchen Rahmen der tagtägliche Horror einordnen – und positiv verarbeiten?

 

Wir erleben gerade, was die Astronauten der Mondmissionen vor 50 Jahren beim Anblick des Planeten mit dem Wort Zerbrechlichkeit ausdrücken wollten: Das »Netz des Lebens«, die Biosphäre, diese hauchzarte Hülle, die alles Leben hält und trägt und immer wieder neu ermöglicht, droht an vitalen Knotenpunkten zu reißen. Lebensspendende Kräfte der Biosphäre wie Klima, Gewässer, Wälder, Böden und Biodiversität könnten bald »Kipp-Punkte« erreichen, von denen aus keine Umkehr mehr möglich ist. In unserer Lebenszeit, unter unseren Augen, live über die sozialen Medien gesendet, könnten lebenserhaltende Systeme kollabieren. Rette sich, wer kann?

Es stimmt, Horror und Verzweiflung, Gier und Egoismus sind ein Teil der Realität. Schönheit, Empathie, Nachhaltigkeit aber – die Möglichkeitsräume – sind eine mindestens ebenso starke Realität. Eine einfache Feststellung: Die Mehrzahl der Menschen überall auf der Welt ist freundlich, friedfertig und hilfsbereit. Oder? »Rätta jorden« (Greta Thunberg), die Erde retten, ist möglich. Aber es erfordert das Vertrauen, dass es die Wege gibt, und die Kraft, umzukehren und sie zu betreten. Zuversicht ist eine Ressource, mit der wir in diesem historischen Moment besonders achtsam umgehen, die wir nähren sollten. Denn wir brauchen sie für das, was kommt. Sie darf nicht illusionär sein. Leere Worte helfen nicht weiter. Ein nur gut gemeintes Bla, bla, bla stärkt niemanden. Basis von Zuversicht ist ein Grundvertrauen in die Güte der, wenn man so will, Schöpfung oder der Evolution, ein Grundvertrauen in die Güte des Lebens, in die eigene Kraft und die Kraft des »Wir«. Ein solches Vertrauen zu bilden, muss früh anfangen. Es ist der Kern von frühkindlicher Bildung. Selbst im tiefsten Zweifel, so scheint mir, wäre eine Haltung angebracht, die mittelalterliche Mönche mit dem Satz »credo, quia absurdum« umrissen: Ich glaube es, auch wenn es absurd ist.

 

»Die Zukunft ist ein unbetretener Pfad«, sagt ein tibetisches Sprichwort. Jeder und jede von uns verfügt über ein Navigationssystem, um sich auf diesem Terrain zu bewegen. Davon erzählt dieses Buch. Es handelt von der orientierenden Kraft der Sprache und der Energie ihrer Wörter. »Alle Menschen tragen einen Vorrat an Wörtern mit sich, den sie dazu einsetzen, ihre Handlungen, ihre Überzeugungen, ihr Leben zu rechtfertigen.« Es sind diejenigen Wörter, so der amerikanische Philosoph Richard Rorty, in denen wir »unsere Zukunftspläne, unsere tiefsten Selbstzweifel und höchsten Hoffnungen« formulieren. Die Sphäre der zwischenmenschlichen Beziehungen lebt von der Sprache und vom Erzählen, von unseren Narrativen, unserem Storytelling. Es führt uns von der Ich-Du-Verbundenheit zum Wir. Von der Familie, der Nachbarschaft, dem lokalen Gemeinwesen bis zum »globalen Dorf«. Unsere Werte und Ideale bilden sich über die Sprache. Auch die Intimität zwischen Mensch und Natur entsteht über die Sprache. Unser Geist entfaltet sich an der lebendigen Natur, der wir zugehören. Selbst deren Stille ist beredt, wenn wir die »Signaturen«, die Zeichensprache der Lebewesen und der Dinge, neu wahrnehmen, deuten, davon erzählen können.

Sprache ist ein offenes System, ein Gemeingut, das Wichtigste, was wir haben. Unser Vokabular lenkt unser Denken. Der gesamte Wortschatz, über den wir aktiv und passiv verfügen, vor allem aber der kleine Vorrat an Wörtern, die man aus dem großen Ganzen im Laufe seines Lebens für sich auswählt und besonders wertschätzt. Lässt sich dieses Vokabular flexibel gestalten, zukunftsfähig machen? Denn was wir als Wegzehrung für die Reise in eine unsichere Zukunft besonders dringend brauchen, ist eine Sprache der Zuversicht, eine, die verbindet. In meinem Fokus stehen Wörter, Begriffe, Sprüche, Sinnbilder, ikonische Bilder, die uns befähigen, einen Bogen zu schlagen von unseren zartesten Empfindungen zu den großen Fragen des Menschseins im 21. Jahrhundert.

 

Textauszug aus

„Die Sprache der Zuversicht“

von Ulrich Grober

mit freundlicher Genehmigung des oekom Verlages.

 

Siehe auch unter „Wortwelten“.