Autor: Wolf Schneider
Seit Januar 2016 lebt Wolf Schneider mit 12 bis 16 Flüchtlingen aus Syrien und Afghanistan in dem Haus, das zuvor das Verlagshaus des Connection-Verlages war. Dort hatte er viele Jahre lang in einem 1.300 qm großen Haus in einer Gemeinschaft von Deutschen u.a. die Zeitschriften Connection Spirit produziert. Der Verlag endete im Herbst 2015, und Wolf wandelte das Haus in eine transkulturelle Begegnungsstätte um, die nun einen neuen Besitzer sucht. Währenddessen bloggt er auf leben-mit-fluechtlingen.de und staunt, wie spirituell transformativ ein solches Zusammenleben sein kann und wie sehr es die Achtsamkeit fördert.
Genau genommen sind wir alle Flüchtlinge. Vor allem fliehen wir vor der Selbsterkenntnis, der Entdeckung unserer Schattenseiten und der Einsicht in unsere blinden Flecken. Wir fliehen aber auch
vor unseren Eltern, die – schon als wir noch Kinder waren – dies und das aus uns eigenwilligen Wesen machen wollten, vor verständnislosen Nachbarn, der deutschen Bürokratie, aus manipulativen
Intimbeziehungen oder monokultureller Öde anderer Art in, ja … wohin denn? In Abenteuer, die uns glauben lassen, mit einem mutigen Schritt nach draußen das Verabscheute und vermeintlich
Überwundene hinter uns lassen zu können.
Die Menschen, mit denen ich jetzt zusammenlebe, sind jedoch aus Staaten geflüchtet, in denen in krasser Weise Gewalt herrscht, viel krasser als bei uns in Deutschland. Sie kamen Tausende
Kilometer über Land aus Afghanistan, weil dort Mitglieder ihrer Familie erschossen wurden oder im Krieg umkamen. Andere flüchteten aus Syrien in die Türkei, von wo sie sich von Schleppern nachts
in einem Schlauchboot über die Ägäis bringen ließen. Das ist eine andere Art von Flucht als die der deutschen Couchkartoffel oder des japanischen Hikikomori vor den Herausforderungen des
gefährlichen Lebens 'da draußen'.
Ganz wie im richtigen Leben
Die Syrer und Afghanen bei uns im Haus sind mir in den Monaten des Zusammenlebens so ans Herz gewachsen wie nur wenige derer, die ich auf Facebook als meine deutschen Freunde bezeichne. Gibt es
mit ihnen denn keine Sprachprobleme? Doch. Die hab ich aber auch mit Deutschen. Die pantomimische oder radebrechende Verständigung mit den Ausländern erscheint mir jedoch oft sogar als reizvoller
als die flüssige verbale. Sie erweckt schlummernde Kreativitätspotenziale und bringt mir „diese Fremden“ manchmal näher als ein mich zutextender Deutscher.
Zwei meiner ausländischen Mitbewohner sind Kinder, drei und neun Jahre alt. Unter den Erwachsenen sind zwei Frauen; die eine ist eine Frauenrechtsaktivistin aus Syrien, die im Libanon zwei
Semester Jus studiert hat, die andere eine 21-jährige Afghanin aus Teheran, die nie eine Schule besucht hat. Von den zwölf Flüchtlingen aus islamischen Ländern beten vier täglich und halten den
Ramadan ein, die anderen sind eher säkular eingestellt. Nur einer unter den Bewohnern machte uns mehr Schwierigkeiten, als man sie sowieso immer hat, im menschlichen Zusammenleben – er bedrohte
die anderen, versuchte sie religiös zu belehren und wurde schließlich vom Landratsamt verlegt, womit das Problem leider nur verschoben, aber nicht gelöst wurde.
Aufgenommen werden
Gegen sechs Uhr stehe ich auf. Nach dem Gang zur Toilette öffne ich die gläserne Eingangstür unseres großen Hauses, die ist dann bis elf Uhr abends offen. Kurz vor sieben geht hier der
neunjährige Zain aus Damaskus hinaus, begleitet von seinem Großvater. Zu seiner Schule sind es nur fünf Minuten zu Fuß. Ich stehe am Fenster und sehe wie da der Alte und der Junge einträchtig
nebeneinander gehen, eine Idylle von Geborgenheit wie aus einer längst vergangenen Zeit. Zain ist in der zweiten Klasse unserer Dorfschule so herzlich aufgenommen worden, wie man es einem Kind
nur wünschen kann. Seine Lehrerin ist stolz auf ihn, und auch wir sind es, und wir staunen, wie schnell er Deutsch lernt und hier zwischen Arabisch, Englisch, Deutsch und Bayerisch hin- und
herspringt.
Wenn ich Zain in den Armen halte, vergesse ich leicht, dass er mit seiner Familie erst vor einem halben Jahr mit einem Schlauchboot über die Ägäis geflohen war, nachdem ein Onkel von ihm ein
religiös motiviertes Attentat nur knapp überlebt hatte. Das kleine Schlauchboot fuhr in dunkler Nacht und ohne Licht, die türkische Polizei sollte sie ja nicht entdecken, und nur zwei der vier
können schwimmen, einer davon ist Zain. Endlich in Deutschland angekommen, wurden sie Gemeinschaftsunterkünften aufgenommen, erduldeten Gesundheitschecks, wurden immer wieder nach Papieren
gefragt, nie hatten sie die richtigen, und ließen sich transferieren zu neuen, unbekannten Orten. Auch dort waren Papiere auszufüllen in dieser ihnen fremden Sprache, in Juristendeutsch, das auch
ein Deutscher kaum versteht, mit diversen amtlichen Informationen und Anweisungen. Auch heute noch kommen immer wieder solche Papiere zu uns ins Haus; immer brauchen sie einen Übersetzer, zum
Verständnis eigentlich auch einen Anwalt, praktischen Nutzen haben sie nur selten.
Ankommen
Für die Flüchtlinge bleibt die Ungewissheit, wo sie landen werden, bei wem und zu welchen Konditionen. Auch das Connectionhaus ist für sie keine Bleibe auf Dauer. Für die Erwachsenen reichen die
Sprachkenntnisse noch nicht, um Arbeit zu finden, und hier auf dem Dorf was zu finden ist schwierig. Ich könnte ihnen mein Auto leihen, aber ihre Führerscheine gelten hier nicht, wenn sie denn
überhaupt fahren können. Sie werden weiterziehen müssen – wann und wohin, ist ungewiss. Aber jetzt sind sie hier. Einige mit immerhin einem Teil ihrer Familie, andere allein, und jeder neue Tag
ist wieder einer des Ankommens, heute, an diesem Ort, hier und jetzt – so wie für uns alle.
Mitgefühl
Grad ist mir meine Teetasse zersprungen. Maksem kommt rein, der 40jährige Handwerker aus Syrien, er sieht mich mit den Scherben der Tasse in der Hand und bedauert mich. Oft hat er mich diese
schöne, getöpferte Tasse mit honigsüßem, heißem Tee in beiden Händen halten sehen wie einen Heimatort; nun ist die Tasse kaputt, und ich trauere. Als er mir Fotos und Kurzfilme aus seiner
Heimatstadt Homs zeigte, wo nicht nur Tassen zersprungen sind, sondern ganze Häuser zerbombt wurden, bewunderte ich den Gleichmut, mit dem er diese Verluste akzeptiert – wo Menschen, die mal
Nachbarn waren im Zuge des Bürgerkriegs zu Feinden wurden, wo Häuser zerstört wurden und wertvolle Besitztümer mit einem Schlag zu Staub wurden, – während ich die Scherben meiner Tasse
zusammenkehre und sie noch einmal streichle, ehe ich sie in den Restmüllcontainer gebe.
Unsicherheit aushalten
Soeben kam im Radio die Nachricht von den Deutschen, die mit einer Bundeswehrmaschine aus dem Südsudan ausgeflogen werden, weil der Bürgerkrieg dort wieder mal krassere Ausmaße annimmt. Ein paar
Deutsche werden ausgeflogen, während die viel stärker gefährdeten Millionen von Einheimischen dort bleiben müssen, und es kommt mir vor, als sei in dieser zerfallenden, sich wandelnden,
migrierenden Welt mein Land das eigentliche Absurdistan: eine Insel, in der der Wahn von Sicherheit sich noch ein Weilchen länger halten kann als anderswo.
Menschsein bedeutet Verluste zu erleiden. In den relativ sicheren Verhältnissen eines Sozialstaates täuscht man sich zeitweilig leichter über diese Tatsache hinweg als in einem zerfallenen Staat
wie Syrien, Libyen, Somalia oder dem Sudan. In der Begegnung mit den so viel krasser Vertriebenen als wir relativ Behütete es sind, scheint diese Eigenschaft der condition humaine heller durch
als in den Routinen eines deutschen Alltags und erweist sich als ein Memento mori: Auch ich werde sterben, aller Menschenrechte, Sozialversicherungen und Schutzmaßnahmen zum Trotz.
Das Transkulturelle
Viele Jahre lang habe ich mich als Groupie auf Selbsterfahrungsreise mit den Konditionierungen meiner Kindheit befasst. Habe selbst Gruppen hierzu geleitet und als Therapeut andere Menschen
begleitet, immer auf der Suche nach dem, was einen Menschen jenseits seiner Biografie und soziokulturellen Herkunft ausmacht. Wer bist du hinter alledem? Du, mit deinen so anderen Eltern,
Lehrern, Mann-, Frau- und Gutmensch-Vorbildern. Nun lebe ich mit Menschen in einem Haus, die in der Hinsicht noch viel verschiedener von mir sind als die, mit denen ich bisher in kathartischen
Gruppen mich meiner Kindheitskonditionierungen zu entledigen bemühte. Für manche von ihnen mögen die Taliban in religiöser und familiärer Hinsicht Vorbild oder Negativbild gewesen sein, der Mann
als Held und Familienherrscher, die Frau als ihm Dienende, die Kinder folgsam Gehorchende, ihren Eltern und dem Koran.
Mit diesen Menschen nun das zu entdecken, was uns im Innersten verbindet, empfinde ich als noch spannender als das, was ich bisher in Therapiegruppen mit Menschen aus der Mittelschicht des
Westens erlebt habe, und zu meinem Erstaunen finde ich es leicht. Zudem erscheint es mir als unprätentiöser als die Ansprüche des Growth Movement. Du Mensch, ich Mensch, wer sind wir hinter
unserer Konditionierung? So schwer ist das doch nicht. Augen, Mund, Hände, Füße, was machen die da in unserem Zusammenleben als Menschen so verschiedener Herkunft? Obwohl meine neuen Mitbewohner
über meinen Vegetarismus staunen, essen wir oft gemeinsam. Auf Festen tanzen wir miteinander. Ich helfe ihnen beim Deutschlernen, sie mir beim Arabisch- und Persisch-Lernen und bei der
Gartenarbeit.
Europa und Asien
Schon als Gymnasiast in der Zeit des Kalten Krieges und der Antivietnamkriegsdemos habe ich mich gefragt, was unsere Weltgesellschaft zu einer friedlichen machen kann, in der die Menschen
einander lieben und die Natur schützen. Damals bin ich aus Europa geflüchtet, weil ich diesen Kontinent und das, was er seit 1492 dem Rest der Welt angetan hatte, unerträglich fand. Davon wollte
ich nicht ein Teil sein. So wurde Asien mit seinen Weisheitstraditionen für mich zur geistigen Heimat, mit der ich mich gegen das christliche Europa und den vom Kommerz besessenen Westen
absetzte.
Heute erscheint mir das alles als vielschichtiger und auf verzwicktere Weise miteinander verwoben als damals. Familienbande z.B. waren für mich Westler damals ein lästiges, meine individuelle
Freiheit einschränkendes Hindernis – bei den Asiaten, die da aus nicht funktionierenden Staaten kommen, sehe ich nun, wie wertvoll Familienbande sein können. So lerne ich von Menschen, die anders
sind als ich. Von Fremden kann man so viel mehr lernen als von Menschen, die einem selbst gleichen.
Weltgesellschaft
Mein Wunsch ist heute, dass mehr Menschen als bisher erkennen mögen, wie sehr die kulturelle und ethnische Vielfalt auf der Erde eine Bereicherung ist. Monokulturen finde ich öde. So ähnlich wie
in der Landwirtschaft sind sie auch in der Kultur krisenanfälliger als vielfältige, variantenreiche Gebilde. Wir brauchen aber auch Gemeinsamkeit. Zum Beispiel brauchen wir eine Sprache, in der
wir miteinander kommunizieren können – das Englische ist dafür in mancher Hinsicht geeignet. Und wir brauchen einen Verhaltenskodex, der rechtlich verbindlich ist und durch eine nicht-korrupte
Institution mit Gewaltmonopol durchsetzbar ist. Die Macht der Märkte darf nicht stärker sein als die Werte der Menschen. Im Zusammenleben mit den Flüchtlingen, die seit 2015 in so hohem Maß in
unser Land eingewandertströmt sind, können wir Fähigkeiten entwickeln, die uns auf die Errichtung einer unseren Werten gemäßen Weltgesellschaft vorbereiten.
Hin und weg? Weg und hin!
Im Kontext des Zusammenlebens mit den bei uns in gewisser Hinsicht heimatlosen Flüchtlingen fällt mir wieder die erste buddhistische Initiation ein, die pabbajja heißt: Hinausgehen in die
Heimatlosigkeit. Dieser Schritt weg von den Bindungen der Herkunft, vom 'Herkömmlichen', war für Buddha auch ein Schritt hin zu etwas, ein Heimkommen und Ankommen in neuen, selbst gewählten
Bindungen: Sangam sharanam gacchami, zur Gemeinschaft nehme ich Zuflucht. Das Niemandsland dazwischen bleibt dabei kostbar auch im Ankommenden und in den neuen Bindungen der Hintergrund. Dieses
undefinierbare Niemandsland ist so wertvoll, wie in der Musik die Stille zwischen den Tönen und auf einem Bild die Leerräume zwischen den Gestalten, in denen die Leinwand, auf der sich alles
abspielt, sichtbar und spürbar bleibt.
Wolf Sugata Schneider, Jg. 52. Autor, Redakteur, Kabarettist. 1971-75 Studium der Naturwiss. und Philosophie in München. 1975-77 in Asien. 1978-1984 leben in Landkommunen in D, I, NL, USA.
1985-2015 Hrsg. der Zeitschrift connection. Seit 2008 Theaterspiel & Kabarett. schneider@connection.de, Blogs auf
connection.de und leben-mit-fluechtlingen.de.
Alle Fotos Copyright Wolf Schneider. Die darauf Abgebildeten haben der Veröffentlichung zugestimmt.
Autorin: Brigitte Hieronimus
Auf innerer Wanderschaft
Wenn wir biografisch zurückschauen auf die Phase zwischen 14 und 35, stellen wir fest, dass wir damals wegweisende Entscheidungen trafen, mit denen wir erst mal leben mussten, um zu wissen, ob
und wo eine Korrektur notwendig ist. Als Teenager hatten wir noch bestimmte Erwartungen an das Leben, die dann aber mit der späteren Lebenswirklichkeit nicht mehr vereinbar waren. Diese
Erwartungen und Vorstellungen aufzugeben, bedarf es nicht selten eines jahrelangen zähen Ringens mit sich selbst. Dabei sind es in der Regel die früh erworbenen Lebensmuster und Egostrukturen,
die sich der befreienden Veränderung widersetzen. Bewegen wir uns aus der Jugend heraus, suchen wir nach einem idealen Lebenskonzept, bis wir uns früher oder später für den Platz entscheiden, der
uns am meisten zu entsprechen scheint - um dann irgendwann erneut aufzubrechen und Lebenskorrekturen vorzunehmen, die wiederum einen neuen Wandel einleiten. Stemmen wir uns in den Jahren nach 30
gegen notwendige Lebenskorrekturen, stagnieren wir und erfinden Ausreden und Rechtfertigungen dafür, dass das Leben nicht gelingen mag. Meist stolpern wir über die viel zu hohen Ansprüche an uns
selbst und an die Menschen um uns herum.
Ursachen und Folgen überzogener Ansprüche
Wenn Erwartungen und Forderungen an uns gestellt werden, die wir von unserer Entwicklung her noch gar nicht zu erfüllen imstande sind, setzen sich Versagensängste und Selbstzweifel fest.
Ein unerträgliches Gefühl, das häufig mit unermüdlichem Fleiß und Disziplin kompensiert wird. Die Folge ist ein wackeliges Selbstbild, beruhend auf einem brüchigen Selbstwert: Wenn ich mich nur
genügend anstrenge, ist alles machbar und möglich. Oder anders ausgedrückt: Wenn anderen etwas nicht gelingt, sind sie zu dumm, zu faul oder zu bequem. Solange diese Ansprüche an sich selbst und
andere als richtig erachtet werden, glaubt man, keine Fehler machen und zulassen zu dürfen. Ein schwerwiegender Irrtum … Beobachten wir Kinder, die einfach ausprobieren dürfen, ohne sofort
korrigiert und beurteilt zu werden, lernen sie allein durch ihre freudvolle Wissbegierde und experimentieren munter weiter. Sie wissen noch nicht, was sie falsch machen, wenn sie die großen
Bauklötze auf die kleinen stapeln, finden aber schnell heraus, wie sich das mit der Schwerkraft verhält. Werden Kinder hingegen laufend dazu angehalten, bloß nichts falsch zu machen, sich zu
konzentrieren und ihren Grips anzustrengen, lernen sie zwar zu funktionieren, werden aber immer selbstunsicherer und verlieren im Laufe des Lebens die natürliche Freude am Lernen (…). Das
wiederholt sich auf ähnliche Weise in den späteren Lebensphasen: Solange unsere einst hart erkämpften Standpunkte, Wertvorstellungen und Glaubenssätze nicht angegriffen werden, wähnen wir uns in
trügerischer Sicherheit. Wir haben ja gelernt zu tun, was uns gesagt wurde … Doch glücklicherweise schiebt uns das Leben immer wieder zurück auf das Gleis der Weiterentwicklung.
Frühe Sehnsüchte, späte Wegweiser
Indem wir uns mit unseren einstigen Wünschen und Sehnsüchten auseinandersetzen, lernen wir, die Spreu vom Weizen zu trennen. So gibt es im Laufe des Lebens Wünsche und Träume, die uns dazu
bringen, uns auf innere Wanderschaft zu begeben. Dann folgen wir unbeirrt und voller Energie einer Idee, obwohl sie anderen wie Spinnerei erscheint. Und es gibt Sehnsüchte, die eher unsere
Illusionen nähren. Eine solche häufig hartnäckige Sehnsucht liegt dem Wunsch nach hingebungsvoller Liebe zugrunde. Niemand kann dauerhaft hingebungsvoll lieben. Das ist der Stoff, aus dem
bittersüße Dramen, melancholische Liebeslieder und Seifenopern entstehen. (…)
Innere Wahrheiten
In den Jahren zwischen 40 und 50 spüren wir deutlicher als je zuvor, dass es darum geht, sich nach der inneren Wahrheit auszurichten, zu verinnerlichen, was für uns selbst stimmig ist. Wir
beginnen, die Wahrhaftigkeit uns selbst gegenüber wahrzunehmen, wenn die Dinge, die wir tun, uns mit Freude und Zufriedenheit erfüllen. Freundschaften werden intensiver gepflegt; Frauen wie
Männer vertiefen ihre Freude an der Natur, an Musik, Kunst oder Literatur und entwickeln neues Interesse an Politik, Religion oder Wissenschaft. Die innere Klarheit nimmt zu und lenkt somit auch
die Schaffenskraft in neue Bahnen. Man möchte vielleicht noch etwas Ungewöhnliches ausprobieren, sich mit anderen Menschen zusammentun, die zu inspirieren verstehen, und geht auf Distanz zu
Nörglern und Miesmachern. Fehlt jedoch die innere Klarheit und Reflexion, kann es passieren, dass man nach Ersatz für unterdrückte Sehnsüchte greift. Wenn wir ständig versuchen, dem Lebensstress
und dem inneren Unbehagen zu entfliehen, laufen wir Gefahr, eine Sucht zu entwickeln. Sei es die Sucht, maßlos zu shoppen, bis zur totalen Erschöpfung zu arbeiten oder Marathon zu laufen, dem
Glücksspiel zu frönen, sich mit Alkohol zu betäuben oder nächtelang im Internet zu surfen.
Sterblichkeitskrisen … damit Neues beginnen kann
Was aber fehlt uns wirklich, wenn wir zwanghaft shoppen müssen? Wovor haben wir Angst, wenn wir nur in Internetforen wagen, uns frei zu äußern? Je mehr wir uns auf das gestützt haben, was andere
von uns wollten und dachten, desto größer ist die Gefahr, dass wir uns von uns selbst entfernt haben. Zwischen 40 und 50 beginnen die Säulen der aufgebauten Identitäten zu bröckeln. Worauf wir
einst gebaut haben, trägt nur noch bedingt. Womit wir uns im Laufe des Lebens identifiziert haben, kommt nun auf den Prüfstand:
Was ist noch lebendig und energiespendend? Was ist erstarrt und kräftezehrend? Bricht beispielsweise die berufliche Säule zwischenzeitlich weg, sollten die Säulen der sozialen Bezüge wie
Partnerschaft, Freundschaft und Beziehungsnetze stabil genug sein, damit das soziale und emotionale Gefüge nicht in sich zusammenfällt. Und was ist mit der Säule der Leistungsfähigkeit, wenn die
Gesundheit schwindet? Erfahrungen wie diese werfen uns auf biografische Fragen zurück: Wer bin ich eigentlich? Worauf beziehe ich mich und wer bezieht sich auf mich? Worüber definiere ich mich?
Fragen wie diese können dazu führen, dass der Wunsch nach einem lustvollen Ausscheren aus allzu normativen Reihen aufkommt.
Die Heiterkeit am Dasein zu spüren, angstfrei etwas vermeintlich Verrücktes auszuprobieren, das gelingt jenen, die den Sprung ins Unbekannte wagen, die ohne Netz und doppelten Boden bereit sind,
sich dem Neuen anzuvertrauen. Indem wir dem Bekannten etwas Unbekanntes hinzufügen, entdecken wir sie wieder: die Neugier auf das Leben! Dann schauen wir auch nicht länger wehmütig zurück,
sondern akzeptieren, dass die Vergangenheit vergangen ist, und Abschiede sein müssen, um das Neue ins Leben hineinzulassen. So bietet das Leben selbst die immerwährende Gelegenheit, dankbar die
kleinen Kostbarkeiten des Augenblicks zu erfahren und das Jetzt zu genießen. An unseren Wünschen und Träumen der zurückliegenden Jahre können wir aber auch die drängende Ungeduld in uns ablesen.
Bei den einen war es das Streben nach dauerhafter Fitness und immerwährendem Erfolg, bei den anderen das Streben nach ewiger Liebe und einem intakten Familienleben. Doch jede Idee von
Vollkommenheit und verbindlicher Kontinuität wird eines Tages zwangsläufig von der Realität eingeholt und scheinbar mit Leiden vergolten. Das Leben kommt eben nicht nur in Samt und Seide daher,
sondern schmirgelt uns lebenstauglich zurecht, damit sich Irrtümer und Illusionen auflösen und wir uns mit der Zeit eine realistische Haltung zum Leben aneignen. Insofern geht es in den Jahren ab
45 darum, neue Möglichkeiten wahrzunehmen und sie zu nutzen, um die Welt neu zu verstehen. Andernfalls leiden wir jahrein, jahraus an dem, was nicht abgeschlossen wurde.
Lebensklugheit ist keine Besserwisserei
Der durch Erfahrung geschulte Mensch weiß, dass sich manches im Laufe eines Lebens erfüllen kann, anderes nicht. Wie wir mit dem Unerfüllten umgehen, hängt von unserer inneren Haltung ab. Als
Kind wünschten wir uns ein bestimmtes Spielzeug, ein Geschwisterchen oder eine Katze. In der Schule wollten wir die besten Noten oder unbedingt zur Clique gehören, in den Sturmjahren ein Moped
oder eine sexy Figur. Zwischen Wollen, Wählen und Besitzen bewegte sich, einem Pendel gleich, das bisherige Leben. Erst nach der Lebensmitte reift eine andere Sehnsucht heran: die Sehnsucht nach
Authentizität und Wahrhaftigkeit. Entsprechend setzen wir nun neue Prioritäten. „Was habe ich um der Harmonie willen bisher unterdrückt?“ War ein Urlaub am Meer bislang undenkbar, weil der Gatte
die Berge und ein strammes Wanderprogramm liebt, kitzelt die Gattin nun ihren Wunsch wach, allein an die See zu fahren, sich in einer einsamen Fischerkate einzumieten … Manchmal geht eine
Beziehung daran zugrunde - sie kann aber auch gestärkt daraus hervorgehen. Wer bereits einige Partnerschaften hinter sich hat, wird realistischer in seiner Einschätzung, was eine Beziehung
leisten kann und was nicht. Jede Paarbeziehung bringt früher oder später unlösbare Konflikte mit sich, da der Spannungsbogen der Ambivalenzen nicht immer aufzulösen ist. Wie Ebbe und Flut
verhalten sich auch die Gezeiten der Liebe zueinander. Das ist gut zu wissen, denn in Ebbe-Zeiten ist es wichtig, weniger statt mehr zu reden. In solchen Zeiten miteinander schweigen zu können
ist nicht mit passiver Nachgiebigkeit zu verwechseln. Vielmehr ist es die hohe Kunst, dem anderen seine reifende Identität zu lassen und ihn weder zu bevormunden noch zu bedrängen.
Vom Sinn der Sehnsucht
Eine tiefe Sehnsucht kann uns daran erinnern, was uns in jungen Jahren ausgeredet, ausgetrieben oder schlicht verboten wurde. Vielleicht hatten wir als Kind Lust, Klavier zu spielen, wollten
Fußballer werden, uns um ein eigenes Pferd kümmern oder Dompteur werden. Aber wir bekamen nur zu hören, wir hätten kein Talent dazu oder zwei linke Hände, das sei alles nur dummes Zeug oder
brotlose Kunst, zu teuer oder zu gefährlich … Also förderte man, als eigene Kinder kamen, lieber diese, als seine Sehnsüchte wieder zu beatmen. Umso sinnvoller ist es jetzt, der eigentlichen
Sehnsuchtsbotschaft nachzuspüren. Der grauhaarige Herr mit seinem nagelneuen Porsche wird vielleicht belächelt, doch womöglich ist der Flitzer ein Symbol seiner (uneingestandenen) Sehnsucht nach
Abenteuern und Grenzerfahrungen, die er als Junge unterdrücken musste. Die gestylte, superschlanke 70-jährige Dame mit der langen Mähne wirkt auf den ersten Blick agil, bis sie sich mühsam aus
dem Sessel erhebt und nach ihrem Krückstock greift. Manche finden es peinlich, wenn „die Alten“ immer noch auf jung machen wollen, doch dahinter steckt die Sehnsucht, die einstige Attraktivität
um keinen Preis zu verlieren. Frauen, die in jungen Jahren ob ihrer Schönheit umschwärmt wurden, haben es im Alter besonders schwer, Abschied davon zu nehmen. Niemand sollte das verurteilen,
zumal nicht jeder den Mut oder die Lust hat, nach der tieferen Botschaft seiner Sehnsucht zu forschen.
(…)
Wir haben nun die Möglichkeit, uns mit unseren Erfahrungen auseinanderzusetzen, die Dinge im Licht des Gewesenen auf einer reifen Ebene zu betrachten, Unerledigtes abzuschließen und unnötige
Kämpfe zu beenden. Wer sich um diese biografische Aufgabe drückt, der drückt sich vor seinen Gefühlen, die jedoch notwendig sind, um Altes abschließen zu können. Manche meinen deshalb, sie würden
jetzt dünnhäutiger und dickfelliger zugleich. Der Grund: Sie können diese Aufgabe nicht annehmen und das Ziel dieser inneren Arbeit nicht erkennen. Wozu denn sich anstrengen? Wem zuhören, wenn
einem auch niemand zuhört? Warum etwas geben, wenn nichts zurückkommt? Doch damit folgt man bloß Paul Watzlawicks berühmter „Anleitung zum Unglücklichsein“. Denn bei dieser Haltung dem Leben und
den Menschen gegenüber gedeihen Kränkungen bestens - und nicht zuletzt ist man selbst gekränkt, weil einem das Leben nicht gehorcht. Kränkung ist stets ein Resultat aus Gefühlen wie Schmerz,
Scham, Angst und Trauer. Sind wir gekränkt, können wir einfach nicht mehr frei fühlen und denken, weil wir in uns selbst verheddert sind, in unseren subjektiven Wahrnehmungen und Sichtweisen, in
unserer vermeintlichen Wahrheit, die jeden Irrtum ausschließt. Doch je mehr wir uns in den Ärger der Kränkung verbeißen, desto mehr entfernen wir uns von der Lebenswirklichkeit und nähren unsere
Verbohrtheit. Wer bereit ist, sich seinen Ärger - und die permanente Bereitschaft dazu - näher anzusehen, wird entdecken, wo Mitgefühl und Hilfsbereitschaft sich verschlossen haben. Deshalb
schubst uns das Leben zwischen 50 und 60 verstärkt an, damit wir an Entwicklungsfahrt aufnehmen. Wir werden vermehrt mit Verlust, Krankheit und Tod konfrontiert, müssen von vielem Abschied nehmen
und uns neu ausrichten. Sofern wir uns dem nicht verweigern, wird unsere persönliche Entwicklung beschleunigt wie selten zuvor. Natürlich haben wir niemals Zeit zu verplempern, aber jetzt wird es
uns hoffentlich mehr denn je bewusst.
Hierin besteht auch der biografische Sinn dieser Zeitspanne: Gibt es Familiengeheimnisse, die gelüftet werden wollen? Gibt es noch etwas zu erledigen? Gibt es etwas zu vergeben? Womit möchte ich
mich aussöhnen? Lasse ich mich noch immer zurückhalten, statt mich aktiv einzubringen? Wem will ich meine Lebenszeit widmen, wie meine verbleibenden Jahre fruchtbar machen? (…)
Textauszug aus „Mut zum Lebenswandel“
von Brigitte Hieronimus
mit freundlicher Genehmigung des Kamphausen Verlages
Autor: Robert Heeß
Denn niemand stirbt gerne, auch nicht unsere Identität.
Und eine gemeinsam gewebte Paar-Identität schon gar nicht.
Menschen in Beziehungsnot klagen im Allgemeinen zuerst einmal darüber, was in ihrem Leben nicht klappt und wer oder was ihrer Meinung nach daran schuld ist. Gehen wir im Gespräch aber tiefer,
werden unsere Sehnsüchte und Träume deutlich. Diese laufen letztlich alle darauf hinaus, dass wir als Menschen glücklich, geliebt, geborgen, anerkannt, wertgeschätzt, möglicherweise auch
bewundert sein wollen.
Meist sollen uns unsere Liebes-Beziehungen diese Träume erfüllen. Schauen wir dann noch genauer, entdecken wir nicht nur die Sehnsucht Liebe zu bekommen, sondern dass es uns mindestens genauso
wichtig ist selbst lieben zu dürfen. Und nach Möglichkeit auch zu erfahren, dass unsere Liebe willkommen ist. Umgekehrt bemerken wir unsere eigene Bereitschaft, uns lieben zu lassen und dass wir
damit jemandem eines der größten Geschenke machen, das wir einem anderen Menschen machen können.
Geliebt werden ist großartig!
Liebe annehmen ist großartig – und ein großes Geschenk!
Da gibt es also ein Wissen um die eigene Liebenswürdigkeit und Liebesfähigkeit. Und um die des Partners natürlich auch. Da ist guter Wille. Bei vielen Paaren zeigt er sich immer wieder in der
Bereitschaft, in schwierigen Beziehungsphasen das Ruder herumzureißen, manchmal sogar ganz neu zu beginnen, nochmal von vorn anzufangen.
Aber warum gelingt das so häufig nicht?
Und warum ist das Ergebnis so oft für die Beteiligten nur eine Bestätigung, dass die Liebe und das Leben am Ende doch nur Enttäuschungen bereithalten?
Nun ja, wir haben uns schließlich schon früh eine Identität zugelegt. Ein Gedankenkonstrukt darüber, wie und wer wir zu sein glauben, was uns ausmacht als Mensch. Eben diese Identität gestattet
uns nicht, in der Liebe wirklich glücklich zu sein. Und dann entsteht mit den Jahren in uns eine neue Idee über uns. Es handelt sich um eine Art Bündnis aus Sehnsucht nach Erfüllung, der
Gewissheit, dass authentischer leben zu können wirklich möglich ist, und gutem Willen. Dieses Bündnis wird zur Bedrohung für die ursprüngliche Identität, die uns dann – weil Veränderung ansteht –
rüttelt und schüttelt und an uns zerrt.
Denn niemand stirbt gerne, auch nicht unsere Identität.
Und eine gemeinsam gewebte Paar-Identität schon gar nicht.
Dazu ein Beispiel:
Elke und Georg sind seit gut zwanzig Jahren verheiratet. Ja, als sie sich kennenlernten, da habe es schon eine „anfängliche Verliebtheit“ gegeben, sagen sie. Aber das sei lange vorbei. Die
Verliebtheit ist über die Jahre im Grau des Alltags versickert, und die beiden haben ein Beziehungsspiel erschaffen, in dem Streit die vorherrschende Art ist sich zu begegnen. So sehr, dass man
sagen kann, Streit macht das Wesen ihrer Beziehung aus. Der folgende nacherzählte Dialog macht das deutlich: Es ist Montag um 6.45 Uhr, Elke hat sich schon vor einer halben Stunde aus dem Bett
gequält, um für ihren Mann das Frühstuck zu richten. Sie steht in der Küche und ist einigermaßen gut gelaunt. Georg ist eine Viertelstunde nach ihr aufgestanden, hat sich geduscht, rasiert,
angezogen, kommt in die Küche und sagt leicht brummig: „Ist der Kaffee fertig?“ Elke reagiert gereizt: „Netter könntest du das wirklich nicht fragen.“ Worauf Georg unmittelbar reagiert und
nachlegt:
„Wohl wieder schlecht geschlafen?“ Das macht Elke wütend, sie schnaubt „Du kannst mich mal!“ und knallt die Küchentür hinter sich ins Schloss.
Was passiert da?
Treffen sich da zwei Ungeheuer, die nur darauf aus sind, dem anderen das Leben schwer zu machen?
Systemisch betrachtet haben Elke und Georg ein notwendiges Zeremoniell vollzogen, um ihre Beziehung am Leben zu erhalten! Unter heroisch anmutendem Verzicht auf ihr jeweiliges individuelles
Glück.
Elke und Georg sind Wesen mit einer jeweils eigenen Identität, genauso ist ihre Beziehung ein Wesen mit einer eigenen Identität. Diese Identität hat die Eheleute in der obigen Mini-Sequenz
erfolgreich dazu gebracht, ihrer Beziehung einen weiteren Tag Leben zu schenken. Denn wenn sich in ihrem Miteinander etwas ändern würde, wäre es im Erleben der beiden Beteiligten nicht mehr ihre
Beziehung. Es wäre nicht mehr jenes Domizil, in dem beide traumwandlerisch sicher um Handlungsabläufe, Tonfälle, Regieanweisungen, Stich- und Reizwörter wissen. Würden Elke und Georg plötzlich
Liebe und Erfüllung erleben, würde diese Beziehung sterben.
Wenn die beiden plötzlich ein anderes Spiel spielten, welches wäre das dann? Worum ginge es? Mit welchen Regeln? Schauen wir uns Elke und Georg an:
Georg war beruflich bedingt eine Woche unterwegs gewesen, jetzt ist er mit dem Nachtzug nach Hause unterwegs. Es war das erste Mal seit langem, dass er und Elke sich nicht jeden Tag sahen. Georg
hatte überrascht bemerkt, dass er seine Frau vermisste, hatte an die Zeit ihrer Verliebtheit gedacht, an das, was er früher einmal in ihr gesehen hatte. Wie schön sie es doch immer wieder
miteinander hatten! Das war ihm genauso in den Sinn gekommen wie die unzähligen trostlosen Streits und Kämpfe. Bei diesen Gedanken war es ihm alles andere als gut gegangen und er hatte
beschlossen: „Wenn ich nach Hause komme, wird alles anders.“ Ein Vorsatz, der ihn froh, optimistisch und liebevoll gestimmt hatte. Georg kauft nach seiner Nachtfahrt morgens am Bahnhof zwanzig
langstielige, dunkelrote Rosen und macht sich auf den Weg nach Hause. Sein Herz klopft in Vorfreude. Er hat zwar einen Schlüssel dabei, klingelt aber, um seine Frau zu überraschen …
Was meinst du, liebe Leserin, lieber Leser, wie wird Elke reagieren? Bitte lege doch für einen Moment dieses Buch zur Seite und erfinde zwei oder drei Verhaltensvarianten für diese Ehefrau, deren
Mann vor ihrer gemeinsamen Haustür steht, nach einer Woche Geschäftsreise, nach zahllosen Streits und verbalen Attacken, mit zwanzig roten Rosen im Arm. Okay? Zwei oder drei Varianten, wie Elke
reagieren könnte…
…Du hast deine Antworten? Gut, dann kann es jetzt weitergehen.
„Der Kerl hat ein schlechtes Gewissen!“
Wenn ich dieses Beispiel im Coaching oder in Workshops nutze und diese Frage stelle, bekomme ich meist Antworten wie diese: „Irgendetwas stimmt da nicht!“ oder „Der Kerl hat ein schlechtes
Gewissen, vielleicht ist er fremdgegangen!“ Oder eine Breitseite perfider: „Das fällt ihm aber reichlich spät ein!“
Was auch immer die reale Elke sagt, die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass sie bei ihrem Beziehungshintergrund den gutwilligen Aspekt in Georg nur schwer oder gar nicht sehen oder zulassen wird.
Woraufhin sich möglicherweise der kleine Junge, der im Mann Georg wohnt, enttäuscht, entmutigt, vielleicht sogar gedemütigt erfährt. Der erwachsene
Mann Georg wird dann ebenfalls sehr schnell wieder in sein altes Sein zurückfallen.
Entwickelt sich das Aufeinandertreffen in dieser Art, dann hat Georg – wieder aus systemischem Blickwinkel geschaut – mit seiner Initiative diese Beziehung bedroht, dieses Beziehungs-Wesen, wie
es über die Jahre des Zusammenseins geworden ist. Elke hat diese Beziehung gerettet. Alles wird weiter seinen gewohnten Gang gehen. Leider.
Es gibt einen Weg aus der Sackgasse:
Du musst dich unabhängig machen vom Verhalten der anderen Beteiligten!
Wenn du, aus welchen Gründen auch immer, die bisherige Definition eines bestimmten Systems verändern willst, dann musst du dich unabhängig machen vom Verhalten der anderen Beteiligten. Du musst
bei dem bleiben, was dir wichtig oder neu wichtig geworden ist, auch gegen abwehrende Reaktionen, die sich mit der Zeit möglicherweise noch steigern.
Spinnen wir das Beispiel Elke und Georg – sehr vereinfacht – theoretisch weiter: Angenommen, der Mann Georg weiß, was er will, und er ahnt, dass sich auch seine Frau irgendwie Veränderung
wünscht. Er kommt also am nächsten Abend wieder mit zwanzig Rosen. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass Elke dieses Mal noch heftiger reagieren wird. Bleibt Georg beharrlich, kann es nach
einigen weiteren Malen zu einer einschneidenden Veränderung kommen: Entweder die Frau trennt sich in selbstmörderischer Loyalität zum System dieser Beziehung von ihrem Mann („Der spinnt, das ist
nicht mehr mein Mann!“) und rettet so auf absurde Weise die Beziehung, die sie kennt und in der sie zuhause ist. Oder es kommt zum Ablösen vom Alten, zum Loslassen, was die Möglichkeit für Neues
erschafft.
Im „Zwölf-Schritte-Programm“, einem beispielsweise für die Suchtbefreiung erfolgreich angewendeten Ansatz, heißt dieser Moment bezeichnenderweise Kapitulation, also die eigene Machtlosigkeit
einzugestehen und aufzugeben, worin man bis dahin zuhause war.
Das System will sich selbst erhalten
Wenn du also in deinem Liebes-Leben etwas änderst und auf immer stärkeren Widerstand stößt, je mehr du in deine neue Richtung gehst, dann erinnere dich daran, dass jedes System konservativ ist.
Es will sich selbst erhalten! Dein widerspenstiger Partner will dir womöglich gar nichts Böses oder dir vielleicht überhaupt gar nichts vermiesen. Er will nur, so paradox das klingt, eure
Beziehung retten!
Deshalb beherzige diesen Hinweis: Wenn du wirklich etwas ändern willst, musst du bei dem bleiben, was dir wichtig ist und voll in das Risiko gehen, damit zunächst nicht zu landen.
Am einfachsten ist es natürlich, wenn sich Beziehungspartner gemeinsam auf eine Veränderung geeinigt haben, wenn sie die beschriebenen Systemeigenheiten kennen und bereit sind, sich gegenseitig
beim Wort zu nehmen und daran erinnern zu lassen.
Niemand muss alles alleine schaffen. Sich Hilfe zu holen in bestimmten Lebenslagen ist weder Scheitern noch Aufgeben, es ist das Gegenteil – es zeugt von Größe, innerer Reife und
Entschlossenheit. Such dir Unterstützung, vielleicht Freunde, mit denen du eine Art Coachingvertrag machst; die können dann helfen, dich nicht wieder vom bisherigen System einfangen zu lassen,
wenn heftige Gefühle aufwallen. Oder du nutzt professionelles Coaching, weil ein Coach profesionelle Distanz hat und wahrt. Und weil es gut tut, sich jemand Außenstehendem anzuvertrauen;
jemandem, der weder zu trösten versucht noch gut gemeinte Ratschläge oder Ermahnungen verteilt.
Übrigens, diese Dynamik der rückfälligen Emotionen gilt für Individuen und alle Arten von sozialen Zusammenhängen: für Paare und Familien genauso wie für Arbeits-, Interessens- oder
Bevölkerungsgruppen, für Unternehmen, Institutionen bis zu Nationen.
Und noch etwas ist enorm wichtig, wenn es um Paar-Sein geht und Dauer in der Liebe: Wenn die Wirklichkeit von Liebesbeziehungen unter Erwachsenen auf Besitz gründet, ist Symbiose das normale
Ergebnis. Jede Liebesbeziehung, die nicht offen damit lebt, dass sie jederzeit zu Ende gehen kann und darf, ist von ihrer Struktur her eine symbiotische Beziehung.
Solange wir unsere Angst vor dem Sterben nicht zu uns nehmen und daran arbeiten, die Gewissheit des Todes zu einem selbstverständlichen Teil unseres Lebens werden zu lassen, können wir nicht
erwachsen leben - und lieben! Uns mit der eigenen Endlichkeit und der Vergänglichkeit unserer Liebsten zu beschäftigen, den Tod in unser Leben zu holen und der damit einhergehenden Angst behutsam
zu begegnen, öffnet uns nicht nur Türen, es öffnet uns Tore!
Das Zwölf-Schritte-Programm – das spirituelle Programm der Anonymen Alkoholiker – wurde in den 1930er Jahren entwickelt. Einige der Schritte sind: ein Problem
eingestehen; offen darüber sprechen; Hilfe annehmen und Wiedergutmachung bei angerichtetem Schaden. Nach diesem Vorbild haben sich zahlreiche Gruppen zu anderen Süchten und Problemen gebildet
sowie Gruppen für Angehörige von Betroffenen, zum Beispiel Anonyme Schuldner und Kaufsüchtige, Anonyme Co-Abhängige, Overeaters Anonymous oder Sex Addicts Anonymous.
Textauszug „Ich liebe dich gerade – Erwachsen werden in Liebesdingen“ von Robert Heeß mit freundlicher Genehmigung von tao.de in der Kamphausen Mediengruppe