Spiritualität 2024


April - August 2024


Liebe – Die Essenz des erwachten Herzens

© Stephen Brown – pixabay.com
© Stephen Brown – pixabay.com

Autor: A. H. Almaas

Die Liebesbeziehung der Seele

 

In diesem Buch werden wir einen Aspekt unserer Arbeit erforschen, dem ich mich normalerweise indirekt nähere: der Liebe. Ich ziehe den indirekten Weg vor, weil der Begriff »Liebe« in der Kultur im Allgemeinen und in vielen spirituellen Gruppen und Lehren im Besonderen häufig missverstanden oder sogar missbraucht wird. Das liegt zum Teil daran, dass wir alle möglichen Vorstellungen davon haben, was Liebe ist und was sie bedeutet. Wir verwenden das Wort ständig so, als wüssten wir genau, was Liebe ist und worum es dabei geht, aber in Wirklichkeit hat jeder von uns seine eigenen Vorstellungen. Das macht es schwierig, über das Konzept der Liebe zu sprechen und davon auszugehen, dass wir alle das Gleiche meinen. Im Diamond Approach betrachten wir die Liebe als ein Ergebnis der Aktualisierung der Essenz dessen, was wir sind, und nicht als etwas, an dem wir direkt arbeiten. Meine Hoffnung ist, dass wir so etwas über die wirkliche Natur der Liebe und ihre wahre Funktion in unserer Arbeit lernen.

Es ist klar, dass Liebe für alle Menschen wichtig ist, denn die Seele braucht Liebe auf eine grundlegende und fundamentale Weise. Wenn wir jedoch fragen: »Warum braucht die Seele Liebe?«, dann haben die meisten Menschen darauf keine Antwort. Sie wissen nur, dass sie sich danach sehnen. Sie möchten sie und sie brauchen sie auch. Sie wollen lieben und geliebt werden. Sie müssen Liebe geben und empfangen können. Sie brauchen die Erfahrung der Liebe. Aber warum? Das ist schwer zu sagen.

In gewissem Sinne ist Liebe für die Seele wie Sauerstoff für den Körper – und genauso lebenswichtig. Liebe ist ein grundlegendes Element, das die Seele für ihr Überleben und ihre Entwicklung braucht. Wenn die menschliche Seele keine Liebe erfährt, geht sie zugrunde. Sie verkümmert und stirbt. Erfährt sie nur wenig Liebe, dann ist ihre Entwicklung entsprechend eingeschränkt. Die Seele ist lebendiges Bewusstsein – sie ist keine Sache, das heißt, sie braucht Liebe als Teil ihrer Nahrung, um zu wachsen, zu reifen und das zu werden, was sie sein kann.

Wir werden auf verschiedene Weise deutlich machen, dass die Liebe ein notwendiger Grundbestandteil unseres »spirituellen Stoffwechsels« ist. Wir werden sehen, dass jeder Stoffwechsel eigentlich ein spiritueller Stoffwechsel ist. Alles im Leben – was immer wir tun oder erleben – wirkt sich auf das Wachstum und die Entwicklung der Seele aus. Das bedeutet »spiritueller Stoffwechsel«. Wir nennen ihn nur in verschiedenen Stadien unterschiedlich.

Wir wissen, dass wir Liebe brauchen. Alle Menschen wissen, im Geiste oder im Herzen, wie grundlegend wichtig die Liebe ist. Jeder sucht die Liebe. Jede spricht darüber. Und wenn jemand sagt, dass er sie nicht braucht oder will, ist es offensichtlich, dass er dagegen ankämpft, sie zu fühlen. Wenn uns jemand sagt: »Ich könnte mein Leben ohne Liebe leben«, dann wissen wir, dass das eine Lüge ist. Sollte es ihm gelingen, ein liebloses Leben zu führen, können wir sicher sein, dass es ein verkümmertes Leben ist.

Aber warum genau brauchen wir die Liebe für unser Wachstum? Was bewirkt sie für unsere Entwicklung, für unsere Seele? Wir haben alle möglichen Vorstellungen von der Liebe, aber wir werden höchstwahrscheinlich feststellen, dass wir keine präzise und genaue Vorstellung davon haben, was Liebe ist oder wozu sie dient. Eines der häufigsten Missverständnisse über die Liebe ist zum Beispiel, dass es bei ihr nur darum gehe, ein bestimmtes Gefühl zu haben. Wenn wir jemanden sehr mögen, nennen wir das Liebe. Wir sehen nicht, dass wir in dem Moment, in dem wir jemandem gegenüber Zuneigung empfinden – ein Gefühl, das wir als Liebe bezeichnen – vielleicht etwas tun, das diesem Menschen wehtut. Habt ihr schon einmal die Erfahrung gemacht, dass euer Partner zu euch sagt: »Ich liebe dich«, obwohl der Tonfall eigentlich bedeutet: »Ich liebe dich, auch wenn du es nicht wirklich verdienst»? In diesem Augenblick habt ihr euch wahrscheinlich ziemlich mies gefühlt, während euer Partner vermutlich überzeugt war, liebevoll zu sein.

Wir denken also häufig, dass Liebe ein Gefühl ist, und beziehen unsere Handlungen nicht in unsere Definition mit ein. Und selbst das Gefühl der Liebe ist selten vollständig. Das Wissen darüber, wie die Liebe sich ausdrückt – das Handeln aus der Liebe heraus – ist nicht sehr weit verbreitet. Dieser »Akt der Liebe« ist ein wichtiger Schwerpunkt der Arbeit, mit der wir hier beginnen.

Mein Interesse daran, über die Liebe zu lehren, entspringt nicht dem Wunsch, euch zu einem besseren Liebesleben zu verhelfen. Das mag die Folge sein, muss es aber nicht. Wir erforschen die Liebe, weil wir sie in ihrer grundlegenden und echten Form kennenlernen wollen. Das bedeutet, wir wollen herausfinden, wie die Liebe mit unserer spirituellen Entwicklung zusammenhängt. Was hat die Liebe mit unserem spirituellen Prozess zu tun?  Wir werden erkennen, dass all die Formen der Liebe, die wir brauchen, im Grunde die Tatsache widerspiegeln, dass wir Liebe für unser spirituelles Wachstum brauchen.

 

Die Tierseele und die menschliche Seele

Im Diamond Approach betrachten wir die Entwicklung der Seele in zwei Stufen: die der Tierseele und die der menschlichen Seele. In ihrem früheren Stadium, der Tierseele, agiert die Seele aus dem Begehren und dem Überlebenstrieb heraus durch Einsatz von Macht. Die Tierseele will ihre Wünsche befriedigen und ihre Bedürfnisse stillen und zwar in so großem Ausmaß und so schnell wie möglich, ohne Rücksicht auf die Konsequenzen. Wenn ich von einer Tierseele spreche, dann meine ich nicht wörtlich die Seele eines Tieres, sondern vielmehr die Tatsache, dass der Mensch die Seele auf animalische Weise erleben kann, und zwar viel ausgeprägter, als die meisten Tiere es tun. Die Sehnsüchte, Wünsche und Sorgen des Menschen um sein Überleben, seine Sicherheit und seine Nahrung übertreffen bei Weitem jede vergleichbare Manifestation im Tierreich. Was ich also mit der Tierseele meine, ist die Seele, die immer noch aus den egoistischen Motiven des Überlebens, der Bequemlichkeit, eines vollen Bauches und der Befriedigung von Wünschen heraus agiert.

Was macht es der Seele möglich, sich von der Tierseele weg und hin zu dem zu entwickeln, was wir die menschliche Seele nennen? Es ist die Liebe. Der Unterschied zwischen den  beiden Stufen ist, dass die menschliche Seele ein Herz hat. Je mehr Herz also ein Mensch  hat, als desto menschlicher nehmen wir ihn wahr. Je weniger Herz ein Mensch hat, desto stärker nehmen wir ihn als Tier wahr. Und er muss dabei nicht mal unbedingt auf vier Beinen gehen!

Was bedeutet es, dass die menschliche Seele ein Herz hat? Ein Herz bedeutet vor allem Liebe, denn die Liebe ist die Grundlage für das Herz. Wenn wir an das Herz denken, denken wir an die Liebe in all ihren Facetten. Im Gegensatz dazu ist ein Mensch, der auf der tierischen Ebene lebt, durch das motiviert, was man das erste Chakra nennt, das Energiezentrum, das auf das Überleben ausgerichtet ist. Auf dieser Ebene ist der Mensch eher animalisch ausgerichtet und neigt dazu, egoistisch und territorial zu handeln und zuerst an sich selbst zu denken. Dieser Fokus führt zu einer Lebensweise, die man das Überleben des Stärkeren nennt.

Je menschlicher du wirst, desto mehr Herz hast du und deine Beziehung zum Leben wird dazu neigen, Werte jenseits von Sicherheit, Schutz und Kontrolle zum Ausdruck zu bringen. Das Überleben selbst wird weniger wichtig als die Qualität dieses Überlebens. Überleben ist notwendig, aber es ist nur die erste Aufgabe, die es zu bewältigen gilt, nicht das zentrale Anliegen. Die menschliche Seele hat einen gewissen Grad an Verfeinerung erreicht. Sie hat sich so weit entwickelt, dass sie eine gewisse Sensibilität aufweist, so dass die Lebensqualität wichtiger wird. (…)

Mit besserer Lebensqualität meine ich, dass sich unsere Seele so weit verfeinert hat, dass sie sich anderer Werte im Leben bewusst ist, mit ihnen in Berührung kommt und sich auf sie ausrichtet. Dann ist es uns wichtig, wie wir unser Leben leben, wie wir überleben. Das Leben selbst wird wichtig, nicht nur unser Leben. Ein Herz zu haben bedeutet dann, das Leben in anderen Formen und an anderen Orten wahrzunehmen. Wir werden sensibel für andere Menschen und Lebewesen. Wir nehmen Rücksicht auf die Bedürfnisse anderer: Fördern wir das Leben oder zerstören wir es? (…)

Ein Herz zu haben bedeutet, dass wir uns selbst nicht mehr an die erste Stelle setzen. Unser Überleben und das Überleben des Lebens anderswo sind für uns ein und dasselbe geworden. Mitgefühl wird wichtig, Sorge und Selbstaufopferung werden wichtig. Wenn wir in unserem Herzen Liebe empfinden, aber dennoch einen anderen Menschen so behandeln,  als wäre er kein menschliches Wesen, dann haben wir noch kein Herz. Dann ist das eine Verzerrung, die es uns erlaubt, etwas zu erleben, was wir für Liebe halten, ohne tatsächlich ein Herz entwickelt zu haben. Und das ist eine der häufigsten Formen von Missbrauch der Liebe durch viele Menschen und Gruppen, die sich für spirituell halten. Die Liebe lässt uns sensibler werden für den anderen, weil ein neues Element hinzukommt: die Wertschätzung des anderen für das, was er ist. (…)

Wenn das Herz wirklich gereift ist, arbeitet die Liebe für ihr eigenes Überleben, das heißt, das Überleben der Liebe ist dann genauso wichtig wie oder sogar wichtiger als unser physisches Überleben. Das physische Überleben auf Kosten anderer macht dann keinen Sinn, weil ein solcher Egoismus dem Wesen der Liebe zuwiderläuft. Das Herz ist von Natur aus sensibel und auf das Leben eingestimmt. Es schätzt den Menschen und erkennt seine Kostbarkeit. 

„Liebe – die Essenz des erwachten Herzens“

 

A.H. Almaas

 

320 S., Books on Demand, 15 €

 

Textauszug mit freundlicher Genehmigung des Autors.

 

Siehe auch unter „Wortwelten“ auf S. 54.