Spiritualität 2023


Ausgabe April - August 2023


RAIN sagt Ja zum Leben

Bild: © Bru-nO – pixabay.com
Bild: © Bru-nO – pixabay.com

Autorin: Tara Brach

Zwischen Reiz und Reaktion gibt es einen Raum,

und in diesem Raum haben wir die Freiheit und

die Macht, unsere Reaktion zu wählen.

Viktor Frankl

 

Das vorliegende Buch habe ich geschrieben, um eine Praxis des radikalen Mitgefühls mit Ihnen zu teilen, die die Schwingen der Achtsamkeit und des Mitgefühls zum Leben erweckt, wenn wir sie am meisten brauchen. Sie hilft, schmerzhafte Überzeugungen und Gefühle, die uns daran hindern, in Übereinstimmung mit uns zu leben, zu heilen und loszulassen. Diese Praxis nennt sich RAIN. Der Name ist im Englischen ein Akronym, das für vier Schritte steht: Recognize (Erkennen), Allow (Zulassen), Investigate (Erkunden) und Nurture (Nähren). Die Arbeit mit diesen vier Schritten hat mir einen zuverlässigen Weg hin zu Heilung und Freiheit eröffnet, der sich auch inmitten von emotionalem Schmerz gehen lässt.

 

Die ersten beiden RAIN-Schritte

Die einschneidendsten Transformationen in unserem Leben gehen auf etwas sehr Simples zurück: Wir lernen, mit dem, was in uns vorgeht, in Resonanz zu gehen, statt nur darauf zu reagieren. Was passiert zum Beispiel, wenn jemand Wut oder Angst bei uns auslöst? Reagieren wir gewöhnlich so, dass wir uns in uns zurückziehen, andere beschuldigen oder sie verletzen oder dass wir uns als Opfer fühlen, dann steigern wir das in Trance verursachte Leid nur noch. Wecken wir stattdessen mithilfe der ersten beiden RAIN-Schritte – Erkennen und Zulassen – eine achtsame Präsenz in uns, dann sind wir auf einem Pfad, der unser Herz befreit.

 

Zum Tee mit Mara

Einer der größten Mythen der buddhistischen Tradition zeigt, wie wir angesichts von Schwierigkeiten diesen Weg gehen können.

Vielleicht kennen Sie Bilder des Buddha, wie er die ganze Nacht unter dem Bodhi-Baum sitzt und meditiert, bis er die vollkommene Erleuchtung erlangt. Der Schattengott Mara (der die universellen Energien von Gier, Hass und Täuschung verkörpert) lässt sich alles Mögliche einfallen, um ihn zum Scheitern zu bringen: Er schickt ihm gewaltige Stürme, wunderschöne Frauen als Versuchung, wütende Dämonen und große Armeen, um ihn abzulenken. Siddhartha begegnet allen mit einer wachen, mitfühlenden Präsenz, und als der Morgenstern am Himmel erscheint, wird er zu einem Buddha, einem vollkommen erwachten Wesen.

Aber das war nicht das Ende seiner Beziehung zu Mara!

In den fünf Jahrzehnten nach seiner Erleuchtung bereiste der Buddha Nordindien und lehrte überall dort, wo die Menschen interessiert waren, am Pfad der Präsenz, des Mitgefühls und der Freiheit. Auf Feldern und in Hainen, in Dörfern und an Flussufern – an all diesen Orten versammelten sich Bauern und Händler, Stadtleute und Adlige, Mönche und Nonnen, um seine weisen Lehren anzuhören.

Und wie Zenmeister Thich Nhat Hanh erzählt, erschien mitunter auch Mara. Wenn ihn Ananda, der treue Begleiter des Buddha, erblickte, wie er verstohlen am Rand einer Versammlung lauerte, lief er alarmiert zum Buddha. »Schreckliche Nachricht, der Bösewicht ist wieder da! Wir müssen etwas tun!« Worauf der Buddha Ananda liebevoll anschaute. »Nicht doch, Ananda«, antwortete er. Dann schlenderte er zu Mara und sagte ihm mit fester, sanfter Stimme: »Ich sehe dich, Mara … Komm, lass uns Tee trinken.« Und der Buddha lud Mara als Ehrengast und servierte ihm Tee.

 

Das können auch wir tun. Stellen Sie sich vor, Mara erscheint in Ihrem Leben in der Gestalt einer Woge von Angst vor dem Scheitern oder einer Verletzung durch Missachtung oder mangelnden Respekt von jemandem. Wie wäre es, wenn Sie innehalten und Mara erkennend sagen würden: »Ich sehe dich, Mara.« Und zulassend: »Lass uns Tee trinken.« Statt die Gefühle zu vermeiden, statt vor Wut um sich zu schlagen oder sich selbstkritisch zu geißeln, lassen Sie sich so mit mehr Klarheit und Würde, Freundlichkeit und Leichtigkeit auf das Leben ein. Mit diesen ersten beiden RAIN-Schritten haben Sie den Pfad in die Freiheit eingeschlagen. 

In meinen Augen ist diese Geschichte vom Buddha für uns alle eine gute Nachricht. Selbst dem Buddha begegneten auch weiterhin die schmerzhaften Energien Maras. Wir sind nicht die Einzigen, die sich immer wieder mit Stürmen der Verwirrung, mit widersprüchlichen Wünschen, mit den Pfeilen von Angst, Verletzung oder Wut auseinandersetzen müssen. Darüber hinaus verfügen wir über eine Übung, die uns mitten in all dem befreien und erwecken kann!

Fragen Sie sich: »Wann ist Mara das letzte Mal da gewesen?« Vielleicht mögen ja auch Sie das nächste Mal zu ihm sagen: »Ich sehe dich, Mara … Komm, lass uns Tee trinken.«

 

Nein zu sagen ist eine Angewohnheit

Indem der Buddha Mara zum Teetrinken einlud, sagte er Ja zum jetzigen Augenblick und Ja zum Leben insgesamt. Unsere Gewohnheit, Nein zu sagen – uns zu wehren oder eine Erfahrung zu vermeiden –, schafft nur umso mehr Leid. Stellen Sie sich vor, was passiert, wenn Mara in der Gestalt von Angst, Hass, Wut oder Verletzung erscheint. Der Kopf sagt Nein, indem er sofort davon ausgeht, dass irgendetwas nicht stimmt, indem er etwas oder jemanden beschuldigt und versucht, das Problem zu beseitigen. Unser Körper sagt Nein, indem er sich anspannt oder taub wird; unser Herz sagt Nein, indem es sich verbarrikadiert oder verschließt. Mit unserem Verhalten sagen wir Nein, wenn wir um uns schlagen, uns zurückziehen oder in Besorgnis geraten. (…)

Ja zu sagen ist unvertraut und desorientierend, es fühlt sich in gewisser Weise riskant an. Unsere Grundkonditionierung angesichts einer Bedrohung besteht darin, uns anzuspannen und Nein zu sagen. Wenn ich meine Schüler in Workshops bitte, sich an eine schwierige Situation zu erinnern, ermutige ich sie zu beobachten, auf wie viele verschiedene Arten sich Körper und Geist gegen die in ihnen auftauchenden Emotionen wehren. Die Schüler erleben dann, häufig gepaart mit Traurigkeit, wie ihre Bemühungen, sich zu schützen, in Wahrheit zu nur noch mehr Schmerz in ihrem Leben führen.

Ein Mann, der als Kind gemobbt worden war, hatte dadurch einen inneren, kritischen Supervisor, der ihm regelmäßig schlechte Leistungen bescheinigte. Als er eine gerade erlebte Konfrontation noch einmal durchspielte, konnte er spüren, wie sich sein Magen vor Angst zusammenzog und sein Herz schneller schlug. Statt sich nach solchen Konfrontationen die Zeit zu nehmen und sich für seine Erfahrung zu öffnen (Ja zu ihr zu sagen), ging er regelmäßig sofort dazu über, sich dafür zu rügen, dass er sich eingeschüchtert fühlte, und tobte innerlich gegen seinen Supervisor. Dann stürzte er sich wieder in die Arbeit, erledigte seine Schreibarbeiten noch hektischer, machte dabei noch mehr Fehler und kommunizierte noch unklarer. Sein Nein erhielt sein Gefühl, ungenügend und Opfer zu sein, aufrecht.

Eine ältere Frau mit einem erwachsenen Sohn, der sich von ihr entfremdet hatte, spürte ihrem unbewussten Nein bis in seine gelegentlichen E-Mails nach. Sie las dann seine knappen Mitteilungen, fragte sich unter Tränen »Womit habe ich das verdient?« und steigerte sich in Zwangsvorstellungen über ihre Schwiegertochter hinein, die sie für ihr Problem verantwortlich machte. Ihr wurde klar, dass ihr Groll gegen die Schwiegertochter unvermeidlich in ihren E-Mail-Antworten durchscheinen musste. Sie begriff, dass ihr eigenes Nein sie in dem Gefühl festhielt, nicht gemocht und abgewiesen zu werden.

Welche Form unser Nein auch immer annimmt, es ist eine Art, sich gegen die Wirklichkeit zu wehren und zu versuchen, den blanken Schmerz emotionalen Leidens zu vermeiden. Doch kann das Nein auch zu dem Marker werden, der uns zeigt, dass wir in Trance sind und unsere Aufmerksamkeit schärfen müssen. Je schneller wir uns unseres Neins bewusst werden, desto besser können wir Mara antworten. Die schwierigen Situationen, die gewöhnlich das Nein hervorrufen, sind perfekte Gelegenheiten, mit dem tiefen Ja zu experimentieren, das sich in unseren Eingangsschritten zu RAIN, im Erkennen und Zulassen, ausdrückt. (…)

 

Das, was Sie üben, wird gestärkt

Ich erzähle den Schülern gern die Geschichte von einem Mann, der auf ein Achtsamkeits-Retreat geht, weil sein Therapeut ihm gesagt hat, wenn er meditieren lerne, werde er sich besser fühlen. Das Retreat wird für ihn zu einer echten Achterbahnfahrt. Er erlebt zwar schon Momente der Ruhe, ja, aber er taucht auch tief in Angst, Wut und Trauer ein. Als er das nächste Mal zu seinem Therapeuten geht, sagt er ihm, er habe schrecklich gelitten. »Wie konnten Sie mir versprechen, ich würde mich besser fühlen?« Weise nickend, antwortet der Therapeut: »Sie fühlen sich besser … Sie fühlen Ihre Angst besser, fühlen Ihre Wut besser, fühlen Ihre Trauer besser!«

Wegen des Wiedererkennungseffekts erntet die Geschichte immer einen Lacher. Die Achtsamkeitsmeditation – das Erkennen und Zulassen von RAIN – trainiert uns darin, aus unseren abschweifenden Gedanken aufzuwachen und die Umkehr zu vollziehen, indem wir unserer augenblicklichen, körperlichen Erfahrung unsere volle Aufmerksamkeit schenken. Zwangsläufig werden wir dann allem begegnen, was wir zu vermeiden versucht haben – der Einsamkeit, den Verletzungen und Ängsten. Doch wenn wir regelmäßig üben, entdecken wir, dass wir mitten im Sturm ausgewogen, warmherzig und offen präsent bleiben können.

 

Dank neuesten Erkenntnissen über die Neuroplastizität wissen wir heute, dass sich unser Gehirn bis an unser Lebensende verändern kann. Das bedeutet, dass sich selbst die am tiefsten verwurzelten und schädlichsten Gewohnheiten dekonditionieren lassen. Der Satz, der dies am besten erfasst und auf Englisch fast wie ein Sprichwort klingt, lautet: Neurons that fire together, wire together. (Neuronen, die gemeinsam feuern, verschalten sich miteinander.) Unsere Gewohnheiten werden durch sich wiederholende Denk-, Fühl- und Verhaltensmuster, die neuronale Netzwerke im Gehirn gebildet und gestärkt haben, aufrechterhalten. Indem wir unsere Denk-, Fühl- und Verhaltensmuster ändern, können wir auch diese neuronalen Netzwerke verändern.

Viele Studien haben gezeigt, dass Achtsamkeit die Struktur und Funktionsweise des Gehirns direkt und positiv beeinflusst. Befinden wir uns dagegen in Trance, werden wir hektisch, machen uns Sorgen oder fangen an zu werten, sobald uns Stress begegnet, und so vertiefen wir die auf Angst beruhenden Furchen in unserem Geist noch. Werden wir angesichts von Stress dagegen achtsam, lernen innezuhalten, erkennen unsere Erfahrung an und lassen sie zu, wird etwas anderes möglich. Statt auf unsere flüchtigen Wünsche und Ängste zu reagieren, können wir von einem Ort tieferer Intelligenz, Kreativität und Fürsorge aus auf unsere Umstände eingehen. Dies stellt eine neue Struktur, neue Nervenbahnen im Gehirn her, die mit echtem Wohlbefinden und Frieden einhergehen. Je öfter Sie Ja sagen zu Erfahrungen, umso stärker wird dieses Ja in seiner Offenheit und Präsenz in den lebenden Zellen verkörpert und Ihre Lebenserfahrung insgesamt mitformen.

 

Textauszug aus mit freundlicher Genehmigung des O.B. Barth Verlages.

Siehe auch unter „Wortwelten“.

 

Dein furchtloses Herz

Tara Brach

288 S., O.W. Barth Verlag, 20 €

 


Ausgabe Dezember 2022 - April 2023


Grüne Tara - Freie Frau

Foto: © Karin Henseler – www.pixabay.com
Foto: © Karin Henseler – www.pixabay.com

Autorin: Sylvia Wetzel

 

Am Vollmondtag Ende Juli 1977 kam ich morgens um acht Uhr im nordindischen Dharamsala, dem Residenz-Dörfchen des Dalai Lama, an. Ich war etwas müde und aufgedreht nach dem Flug von Hongkong nach Delhi, einer Fahrt mit dem Nachtzug im Ladies’ Compartment von Delhi bis Pathankot und drei Stunden Busfahrt auf dem Dach beim Gepäck, bei Vollmond und Sonnenaufgang. Wie es Schicksal oder Zufall so wollten, saß ich schon nachmittags um drei Uhr in einer Guru-Puja in der Library of Tibetan Works and Archives. Mitten im Singen tibetischer Verse, mit englischer Übersetzung in unserem Puja-Heft, spürte ich: »Ja. Ich bin angekommen«. Mein Verstand fand und erfand in den vergangenen mehr als vierzig Jahren viele gute Argumente, um diese Erfahrung irgendwie zu verstehen.

Ich blieb bis Ende Oktober in Dharamsala, etwa 1500 Meter ü.d.M., studierte an der Tibetan Library, d. h. ich hörte täglich einen Vortrag über Buddhismus zu Shantidevas poetischen Versen zum Bodhisattva-Weg, lernte meditieren und besuchte einen Tibetischkurs. Ich ging in den Ausläufern des Himalaya mit neuen Dharma-Freundinnen und Weggefährten wandern und genoss die grandiose Aussicht ins indische Tiefland. Gut zwei Wochen später, Mitte August 1977, hörte ich den ersten Vortrag über die Grüne Tara – und spürte noch einmal: »Ja. Ich bin angekommen«. Anfang 1977 war dieser Vortragszyklus angekündigt worden, und alle hatten sich seit Monaten darauf gefreut. Während dieser Tara-Woche wuchsen die etwa fünfzehn Frauen unter den rund dreißig Hippies, die zuhörten, gefühlt jeden Tag um einen Zentimeter.

 

Als der tibetische Lama Geshe Ngawang Dhargyey die Tara-Legende erzählte, amüsierte ich mich über die kluge feministische Widerlegung der patriarchalen Scheinargumente der Mönche durch die Prinzessin Mondengleiche Weisheit, jnana chandra, tib. yeshe dawa, die Tara in spe. Die Mönche empfahlen ihr, sie solle sich mit ihren übersinnlichen Kräften noch in diesem Leben in einen Mann verwandeln oder sich von Herzen wünschen, wenigstens im nächsten Leben als Mann wiedergeboren zu werden. Sie hörte sich die gutgemeinten naiven Wünsche der Mönche an, zerpflückte sie mit dem unschlagbaren Argument der Leerheit von Zuschreibung und überraschte sie mit einem revolutionären Entschluss.

Prinzessin Mondengleiche Weisheit sagte sinngemäß: »Habt ihr noch nie davon gehört, dass alle klugen Konzepte bestenfalls angemessene Zuschreibungen sind? Ich habe lange danach gesucht, aber noch nie das wahre Wesen einer Frau oder eines Mannes gefunden, immer nur kulturelle Zuschreibungen. Und aus dem Grund gelobe ich, in allen künftigen Leben als Frau wiedergeboren zu werden und als Frau zu erwachen, als Inspiration für Frauen und als fassbarer Beweis für Männer, dass Frauen genauso erwachen können wie Männer«. Sie erfüllte ihr Gelübde, erwachte als Frau und wird seit rund zweitausend Jahren in Indien und seit dem 11. Jahrhundert in Tibet von Frauen und Männern aller Schichten der Bevölkerung verehrt. (…)

 

Wie kommt ein katholisch aufgewachsenes Schwarzwaldmädel, das 1968 Abitur machte und mit der linken und feministischen Szene der 1970er-Jahre in Berlin vertraut war, dazu, mit einer weiblichen grünen Lichtgestalt aus Tibet zu meditieren? Diesen Weg will ich in diesem Buch nachzeichnen. (…) Das Buch ist Ausdruck meiner Dankbarkeit für einen Weg, der mein Leben tiefgreifend verändert hat. Es will und kann keine definitive Interpretation des Buddhismus und der Praxis der Grünen Tara geben, und das kann vermutlich auch niemand. Es will zu einem wohlwollenden und kritischen Blick auf die eigene buddhistische Praxis anregen und Mut machen zu einer alten Imaginations-Übung mit einem weiblichen Bild des Erwachens. In kleinen Essays beschreibe ich den Reichtum buddhistischer Überlegungen so lebendig und nachvollziehbar wie möglich.

 

Dieses Buch richtet sich vor allem an Personen, die die Praxis der Grünen Tara bereits kennen und schätzen, mit der tibetischen Tradition vertraut sind oder eine andere Gottheiten-Praxis üben. Wer in einer anderen Tradition des Buddhismus übt, fragt sich vielleicht, was denn diese vielen Bilder und Mantras und liturgischen Gebete für moderne Menschen bedeuten können und sollen. Vielleicht lesen es auch Menschen, die nach einem Weg suchen, der nicht nur den Verstand und die Neigung zur Selbstoptimierung anspricht, sondern Herz und Geist berührt und beruhigt und für die vielen Dimensionen der Wirklichkeit öffnet, die unser Herz ahnt.

 

Für mich war und ist die ungewöhnliche Verbindung von berührenden Bildern und Gesängen, von körperlichen Gesten und klugen und intellektuell anspruchsvollen Erklärungen und Hinweisen ein Schatz. Der Schatz im Acker oder unter der Türschwelle und die blaue Blume im eigenen Garten. Tara-Praxis hat mir den Weg »nach Hause«, zu der Quelle von Liebe und Einsicht, von Vertrauen und klugem Handeln gezeigt. Und sie schenkt mir immer wieder Zuversicht, wenn Herz und Geist eng werden oder ich glaube, ich müsste alles alleine schaffen und in den Griff bekommen.

Weil die Tara-Praxis uns als ganze Menschen erfassen will und soll, braucht sie wie jede spirituelle oder religiöse Übung eine persönliche, direkte und analoge Einführung durch eine Person, die diese Übung schätzt, selbst lange übt und zu ihrer Weitergabe autorisiert wurde. Aus dem Grund stelle ich die gesprochene Tara-Praxis oder unsere gesungene Puja nicht öffentlich als Audioaufnahmen zur Verfügung und auch nicht als Download ins Internet. Die Übung entfaltet ihre volle Wirkung nach meiner Erfahrung erst dann, wenn wir sie im Rahmen von Kursen mit erfahrenen Lehrerinnen kennenlernen und über längere Zeit alleine und gemeinsam mit anderen und einer guten Begleitung üben.

 

Möge dieses Buch Ihre Zuversicht stärken, dass es in Ihnen und allen Menschen aller Kulturen und Religionen und auch in Atheistinnen, Agnostikern und Menschen, die wir nicht verstehen, seltsam finden oder ablehnen, die Anlagen für kluges und mitfühlendes Leben und Handeln gibt. Wir können diese Anlagen in uns allen stärken durch die eigene Übung und ein mitfühlendes und ethisches Verhalten. Und durch Dankbarkeit und Wertschätzung für die über hundert Generationen von Meistern und Lehrerinnen und ihrer Schüler und Nachfolgerinnen, die seit der Zeit des historischen Buddha vor zweieinhalbtausend Jahren die Lehren bewahrt und aufgeschrieben, übersetzt und kommentiert, für ihre Zeit neu interpretiert und weitergegeben haben.

Möge meine freie Interpretation der Praxis der Grünen Tara Ihr Herz öffnen und Ihren Geist klären, zum eigenen Wohl und dem aller.

 

Textauszug mit freundlicher Genehmigung der Edition Steinrich. 

Siehe auch unter "Wortwelten".

 

Grüne Tara – Freie Frau

Sylvia Wetzel

Edition Steinrich, 440 S., 36 €

 


August - Dezember 2022


Gegen den Strich - die Tonglen-Praxis

© Foto: Ian Lindsay auf Pixabay.com
© Foto: Ian Lindsay auf Pixabay.com

Autorin: Pema Chödrön

 

Damit wir Mitgefühl für andere empfinden können, müssen wir Mitgefühl mit uns selbst haben. Speziell wenn es um Mitgefühl für Menschen geht, die ängstlich, zornig, eifersüchtig, abhängig von Süchten, arrogant, stolz, geizig, selbstsüchtig, gemein oder was auch immer sind: Wenn wir uns um diese Menschen kümmern wollen, dürfen wir nicht vor der schmerzlichen Entdeckung all dieser Eigenschaften in uns selbst davonlaufen. Tatsächlich ist es möglich, dass sich unsere Einstellung dem Leiden gegenüber vollkommen verwandelt. Statt Schmerz auszugrenzen und uns vor ihm zu ducken, können wir unser Herz öffnen und uns gestatten, den Schmerz als etwas zu empfinden, das uns aufweicht und reinigt und uns liebevoll und sanftmütig macht.

 

Tonglen ist eine Praxis, die uns mit dem Leiden in Kontakt bringt – unserem eigenen und all dem, auf das wir stoßen, wo immer wir uns hinwenden. Tonglen ist eine Methode, um unsere Angst vor dem Leiden zu überwinden und die Enge unseres Herzens aufzulösen. Zuallererst aber weckt diese Praxis das Mitgefühl, das wir alle in uns tragen, gleichgültig, für wie grausam oder kalt wir uns halten.

 

Wir beginnen die Übung damit, dass wir uns eines Menschen annehmen, von dessen Leiden wir wissen und dem wir helfen möchten. Wenn wir zum Beispiel von einem Kind wissen, das verletzt wurde, atmen wir mit dem Wunsch ein, allen Schmerz und alle Angst dieses Kindes auf uns zu nehmen. Und wenn wir ausatmen, senden wir Glück, Freude und alles, was dem Kind Linderung verschafft. Das ist der Kern der Praxis: Man atmet das Leid anderer ein, damit es ihnen gut geht und sie mehr Raum finden, sich zu entspannen und zu öffnen, und mit dem Ausatmen sendet man Entspannung und alles, von dem man glaubt, dass es dem anderen Linderung verschafft und Glück bringt.

 

Häufig misslingt uns diese Übung jedoch, weil wir mit unserer eigenen Angst, unserem Widerstand, Zorn oder was immer unser persönlicher Schmerz gerade sein mag, konfrontiert sind. In diesem Fall ändern wir die Ausrichtung der Praxis und üben Tonglen für das, was wir gerade empfinden und für die Millionen anderen Menschen, die sich in diesem Augenblick ebenso festgefahren und elend fühlen wie wir. Vielleicht können wir unseren Schmerz beim Namen nennen. Wir erkennen ihn klar als panische Angst, als Abscheu, Zorn oder Rachsucht. Also atmen wir für alle Menschen ein, die in der gleichen Emotion gefangen sind, und wir senden Linderung, alles, was uns selbst und den zahllosen anderen wieder Raum schafft. Vielleicht können wir unser Gefühl nicht beim Namen nennen. Aber fühlen können wir es – unser Magen zieht sich zusammen, eine schwere Dunkelheit lastet auf uns oder ähnliches. Wir berühren einfach, was wir fühlen und atmen es ein, wir nehmen es in uns auf und senden mit dem Ausatmen Erleichterung für uns selbst und alle anderen aus.

 

Viele Menschen sagen, diese Übung ginge unseren gewohnten Reaktionen völlig gegen den Strich. Ehrlich gesagt, diese Praxis geht uns tatsächlich gegen den Strich. Sie torpediert unseren Wunsch, dass alles nach unserer Pfeife tanzt, unsere Erwartung, dass alles in unserem Sinn ausgeht, egal, was die anderen brauchen. Die Praxis von Tonglen reißt die Mauern nieder, die wir um unser Herz gebaut haben. Sie löst die Schichten des Selbstschutzes auf, die wir so angestrengt zu errichten versucht haben. Buddhisten würden sagen, diese Praxis löst die Fixierung und das Anhaften des Ich.

 

Tonglen stellt die übliche Logik, nach der wir Leid aus dem Weg gehen und Vergnügen suchen, auf den Kopf. Im Verlauf dieser Übung befreien wir uns von uralten selbstsüchtigen Gewohnheitsmustern. Wir beginnen, sowohl uns selbst als auch andere zu lieben; wir beginnen, sowohl für uns selbst als auch für andere zu sorgen. Tonglen weckt unser Mitgefühl und schenkt uns eine weitere Sicht der Wirklichkeit. Es zeigt uns die unbegrenzte Offenheit von Shunyata. Durch die Praxis von Tonglen kommen wir allmählich in Kontakt mit der offenen Dimension unseres Seins. Es beginnt damit, dass wir die Welt nicht länger als großes Drama sehen. Wir erkennen, dass nichts so solide ist, wie wir angenommen hatten.

 

Man kann Tonglen für Menschen praktizieren, die krank sind, die im Sterben liegen oder bereits gestorben sind, für alle, die auf irgendeine Weise leiden. Man kann Tonglen im Rahmen einer formellen Meditation üben oder jederzeit und überall. Wir machen einen Spaziergang und sehen jemanden, der leidet – direkt an Ort und Stelle können wir den Schmerz dieses Menschen einatmen und Linderung ausatmen. Oder wir wenden uns wie gewohnt ab, sobald wir Leiden begegnen. Der Schmerz bringt unsere eigene Angst und unseren Zorn zum Vorschein; er konfrontiert uns mit unseren eigenen Widerständen und unserer Verwirrung. Sofort können wir dann Tonglen für alle üben, denen es genauso geht wie uns, für alle also, die mitfühlend sein wollen, aber ängstlich sind, die mutig sein möchten, aber feige sind. Statt uns selbst abzukanzeln, können wir unsere persönliche Unbeweglichkeit als Sprungbrett nutzen, um zu verstehen, womit Menschen in der ganzen Welt zu kämpfen haben. Atmen Sie für uns alle ein und aus. Machen Sie aus dem scheinbaren Gift eine Medizin. Wir können unser eigenes Leiden als Pfad zum Mitgefühl für alle Wesen nutzen.

 

Wenn Sie jetzt Tonglen üben möchten, atmen Sie einfach ein und aus, nehmen Sie Schmerz an, und senden Sie Offenheit und Linderung aus.

Wenn Sie Tonglen im Rahmen einer formellen Meditationspraxis üben, halten Sie sich an vier Stufen:

  1. Lassen Sie Ihren Geist zuerst für ein oder zwei Sekunden in einem Zustand von Offenheit oder Stille ruhen. Diese Stufe wird traditionell das Aufblitzen absoluten Bodhichittas genannt: Plötzlich öffnen Sie sich der fundamentalen Offenheit und Klarheit.
  2. Dann arbeiten Sie mit materieller Struktur. Atmen Sie ein Gefühl von heiß, dunkel und schwer ein – eine Empfindung von Klaustrophobie –, und atmen Sie ein Gefühl von kühl, hell und leicht aus – eine Empfindung von Frische. Atmen Sie vollständig ein, durch alle Poren Ihres Körpers, und atmen Sie ebenso vollständig durch alle Poren Ihres Körpers aus. Üben Sie das so lange, bis es mit Ihrem Atemrhythmus synchron läuft.
  3. Nun arbeiten Sie mit einer persönlichen Situation. Sie können jede schmerzhafte Situation nehmen, die real für Sie ist. Traditionell beginnt man die Übung von Tonglen mit jemandem, der einem am Herzen liegt und dem man helfen möchte. Wenn man sich blockiert fühlt, kann man die Praxis jedoch ohne weiteres auch auf den eigenen Schmerz anwenden und zugleich für alle üben, denen es ähnlich geht. Wenn Sie sich zum Beispiel überfordert fühlen, dann atmen Sie dieses Gefühl für sich selbst und alle anderen, die im selben Boot sitzen, ein, und senden Sie mit dem Ausatmen Vertrauen und Kompetenz oder Erleichterung in jeder beliebigen Form aus.
  4. Schließlich dehnen Sie das Nehmen und Geben weiter aus. Wenn Sie Tonglen für einen geliebten Menschen üben, dehnen Sie Ihre Praxis auf die aus, die sich in der gleichen Situation befinden wie Ihr Freund. Wenn Sie Tonglen für jemanden üben, den Sie im Fernsehen oder auf der Straße gesehen haben, praktizieren Sie auch für alle anderen, die im selben Boot sitzen. Gehen Sie über den einen Menschen hinaus. Wenn Sie Tonglen für alle üben, die denselben Ärger, dieselbe Angst, dasselbe Leiden spüren wie Sie selbst, dann denken Sie wahrscheinlich weit genug. Aber in jedem Fall können Sie immer noch weiter gehen. Sie können Tonglen zum Beispiel auch für Ihre Feinde üben, für diejenigen, die Ihnen selbst oder anderen wehtun. Stellen Sie sich vor, dass sie unter derselben Verwirrung, derselben Unbeweglichkeit leiden wie Sie selbst und Ihre Liebsten. Atmen Sie ihr Leiden ein, und senden Sie ihnen Linderung.

Tonglen lässt sich unendlich ausdehnen. Wenn Sie die Praxis regelmäßig üben, nimmt Ihr Mitgefühl im Lauf der Zeit ganz natürlich zu, ebenso Ihre Erkenntnis, dass alles weniger solide ist, als Sie geglaubt haben. Wenn Sie die Praxis allmählich in Ihrem eigenen Tempo üben, werden Sie überrascht sein, wie sehr es Ihnen mehr und mehr gelingt, für andere da zu sein, selbst in Situationen, die Sie sich früher nicht einmal hatten vorstellen können.

 

Textauszug mit freundlicher Genehmigung des Goldmann Verlages. 

Pema Chödrön: „Wenn alles zusammenbricht“, Goldmann Vlg., 224 S., 8 €. Mehr zum Buch: www.buchhandlung-plaggenborg.de 

Siehe auch unter „Wortwelten E-Books“.