Archiv Das besondere Buch


April - August 2022


SinnFinder

SinnFinder – dein Guide zur Lebensvision

Pea Krämer, Raphael Krämer und Wolf S. Schneider

Edition Lebensweise, E-Book 6.99 €, SC 14.99 €, HC 21.99 €

 

Wir leben schon lange im Krisenmodus. Weltweit – mit erheblicher Verschärfung seit Beginn der Pandemie. Die Folgen sind Angst, Orientierungslosigkeit, Sinnlosigkeits- und Ohnmachtsgefühle. Besonders betroffen davon sind junge Menschen, für die Hilfestellungen wie diese eine wichtige Bestandsaufnahme und Stärkung der inneren Balance sein können, an der es besonders in diesem Lebensabschnitt oft mangelt. Aber auch für Menschen aller anderen Altersstufen ist das Finden eines Lebenssinns unentbehrlich – ohne das würden wir von einer Midlife-Krise zur nächsten torkeln.

Unter den dreien, die dieses Buch geschrieben haben, möchte ich als erstes die Psychotherapeutin Pea Krämer erwähnen. Dem empathischen Grundton und der immer wieder durchschimmernden Tiefe ihres reich gelebten Lebens kann man sich kaum entziehen. Sie schreibt in des Wortes tiefster Bedeutung authentisch, spannend und immer wieder lebensnah. 

Redundanzen, ein pädagogischer Zeigefinger oder gar eine kindertümelnde Ansprache sind ihr fremd. Im Nu liest man sich fest, und Sätze wie „Leiden braucht Denken" wirken lange nach. Der oft unterschätzten Prägung durch die Familie, die einschnürenden Muster paternalistischer Machtstrukturen, aber auch Liberalität und Talentförderung verleiht Pea eine plastische Form, die unter die Haut geht. 

Auch ihr Sohn Raphael gehört zum Autorentrio dieses facettenreichen Buchs. Als Arzt, Therapeut, Coach und Supervisor wendet er sich hier der alles beherrschenden Macht der Gedanken zu, ihrer Bewusstwerdung und Kontrolle. Humorvoll zaubert er packende Beispiele auf die imaginierte Leinwand der Leserin. Kurzum: Das ist Inspiration und Weckruf vom Feinsten – für alle, die geweckt werden wollen.

Eine tiefsinnige Ergänzung zu den Kapiteln von Pea und Raphael Krämer findet der Leser in den Überlegungen von Wolf Sugata Schneider, dem ehemaligen Herausgeber der Zeitschrift Connection. Er befasst sich hier vor allem mit dem komplexen Zusammenhang von Sprache, Wirklichkeit und Bewusstsein. 

Ist uns klar, dass wir durch Verbalisierung ständig selektieren? Dass Erinnerung die erfahrene Wirklichkeit verzerrt oder gar umdichtet? Dass Sprachskepsis und Sprachverführung eng beieinanderliegen? Biografische Ereignisse aus Wolfs Leben stehen beispielhaft für mitunter schmerzhafte Erfahrungen, die auch wir als Leser ähnlich gemacht haben können. Und die können wir oft als Ressourcen nutzen, auch um der uralten Frage nachzugehen, um die letztlich niemand herumkommt: Wer bin ich? 

Es lassen sich in einer Kurzbesprechung nicht alle Themenfelder abbilden, die in diesem reichhaltigen Buch behandelt werden. Doch die lebensnahe Auslotung all der Fragen, vor denen Orientierungssucher aller Kulturen und Lebensabschnitte stehen, vermittelt all denen Anstöße, die nicht damit aufhören können, das Leben verstehen zu wollen. 

Rezension: Reino Kropfgans

 

Hier kann das Buch bestellt werden: https://editionlebensweise.de/sinnfinder/ 


August - Dezember 2020


Heimatland abgebrannt

 

Was bedeutet es auf der Flucht zu sein? Wie fühlt es sich an, die Heimat aus Zwang zu verlassen? Mit ungewissem Ziel. Jannes Wiesner hat mit vielen Geflüchteten gesprochen und erzählt am Beispiel zweier Schwestern, die allein aus Syrien aufbrachen, um in Europa eine neue Heimat zu finden, die Innenperspektive einer Flucht. Authentisch, berührend, informativ und menschlich aufrüttelnd.

 

Wir waren glücklich, sorgenfrei, konnten lachen und spielen. Ein kleines Dorf in Syrien mit nicht mehr als fünfundsiebzig Einwohnern, gelegen an einem idyllischen Fluss, nannten wir unser Zuhause. Als Kind verbrachte ich viel Zeit mit meinen Brüdern und Schwestern. Nach der Schule gingen wir im kleinen Fluss mit den Kindern aus der Nachbarschaft baden, wir spielten auf den Straßen, machten uns schmutzig und trugen zum heiteren Trubel im Dorf bei. Ich war die jüngste unter meinen Geschwistern und half meiner Mutter daher oft im Haushalt, während die anderen schon früh morgens mit auf die Felder gingen, um unserem Vater bei der Arbeit zu helfen. Wir hatten nicht viel: Ein paar Ziegen, Kühe und Hühner, doch das Geld reichte aus, zumal wir uns von unserem Gemüse größtenteils selbst versorgen konnten. Es blieb sogar noch etwas für den Verkauf übrig. Wenn wir einmal in der Woche zum großen Markt in der Stadt fahren wollten, hatten wir immer einen Weg von etwa einer halben Stunde vor uns. Er führte uns weg vom Land und von unserer Dorfidylle und hinein in den Trubel der großen Stadt. 

 

Die Gerüche der Essensstände, das laute Orchester des geschäftlichen Treibens und die unerträgliche Hitze der Mittagssonne zeichneten das Bild einer Stadt, die wie ein überladenes Gemälde auf uns wirkte. Im Winter wich die Hitze der Kälte. Die Felder wurden karg, und der Fluss war zu kalt zum Schwimmen. Viele Nachmittage verbrachten wir dann mit der Familie im Wohnzimmer, die Nachbarn kamen zu Besuch, es wurde Tee getrunken, gelacht und viel geredet; über das Dorf, das Land, aber nur selten über die Politik, deren Kontroversen schon damals oft ganze Dörfer spaltete. 

Meine Kindheit verlief unbeschwert, ich hatte keine Sorgen, dafür ein Zuhause und eine Familie, die für mich da war. Meine Brüder verließen nach und nach das Haus, sie studierten und gründeten ihre eigenen Familien – das Leben nahm seinen Lauf. Was uns immer blieb, war das Gefühl der Zusammengehörigkeit. Wir kannten die stillen Träume und Sehnsüchte des anderen. Kannten seine Ängste und bildeten einen Zusammenhalt, der die Familie immer wieder stärkte. Doch eines Tages sollte auch diese Unbeschwertheit vorüber sein. 

 

Es war ein kalter Wintermorgen, ich lag noch im Bett, als aus dem Zimmer meiner Eltern Schreie kamen. Schreie, die sich schnell in der ganzen Hütte ausgebreitet hatten, uns aufweckten und in den kleinen fensterlosen Raum unserer Eltern rennen ließen. Mein Vater klagte über unerträgliche Schmerzen in der Brust. Da die Fahrt mit dem Krankenwagen zu lange dauern würde, rannten meine Brüder über den kleinen von Schlaglöchern und Pfützen durchzogenen Kiesweg zu einem unserer Nachbarn, der meinen Vater und uns in einem kleinen weißen  VW-Golf in das nächste Krankenhaus brachte. Für meinen Vater kam jedoch jede Hilfe zu spät.

 

Ich erinnere mich noch genau an das Bild meiner Brüder, wie sie unseren Vater von der hinteren Sitzreihe des Autos durch die Glastür des Krankenhauses trugen, vorbei an den wartenden Menschen im Vorzimmer, den Krankenschwestern, die mit der Trage kaum hinterherkamen, den Ärzten, die nur noch seinen Tod feststellen konnten. An jenem kalten Wintermorgen erlag mein Vater einem Herzinfarkt mit nur zweiundfünfzig Jahren. Das ganze Dorf lag in Trauer mit unserer Familie. Doch das Leben musste für uns weitergehen. Unsere Familie rückte noch näher zusammen, um den Verlust gemeinsam zu bestehen. Meine Brüder übernahmen vollständig die Arbeit auf den Feldern, während ich meiner Mutter weiter im Haushalt beistand. Doch auch ihr ging es zunehmend schlechter. Als die ganze Familie zu einem großen Fest zusammenkam, klagte auch meine Mutter über starke Schmerzen in der Brust. Ein Arzt aus dem Dorf bot seine Hilfe an, doch auch diese kam zu spät. Meine Mutter erlag, wie mein Vater ein Jahr zuvor, einem schweren Herzinfarkt. 

 

Immer dann, wenn unsere Familie durch einen weiteren Schicksalsschlag getroffen wurde, durch einen weiteren Tod geschwächt, wuchsen wir zusammen, fühlten uns verbunden, füreinander verantwortlich. Eine Erfahrung, die wir auch in den uns noch bevorstehenden Jahren immer wieder erlebten. Eine Erfahrung, die vielleicht die Trauer des Augenblickes nicht überdecken konnte, die Zuversicht jedoch auf Dauer erlebbar machte. Meine Brüder zogen nach den Verlusten in unserer Familie wieder bei uns ein, um im Haushalt mitzuhelfen, sich um mich zu kümmern und als  Familie zusammenzustehen. 

 

Aus Sorglosigkeit wurde Hoffnungslosigkeit. Aus Freude Trauer. Doch der immer bleibende Zusammenhalt in unserer Familie sowie das Band der Trauer um unsere Eltern stellte eine Verbindung der Hoffnung dar. Als der Tod meiner Eltern jedoch, kurz vor Beginn des Zuckerfestes zwei Jahre später, durch den Tod Tausender ergänzt wurde, durch den Bombenhagel, den Lärm der Maschinengewehre, deren Schüsse die Stille im Dorf zerrissen, und das Feuer, welches den Geruch von Tod über das Dorf brachte, wurde uns auch die letzte Hoffnung genommen. Nicht mehr als ein paar Kleider, eine PET-Flasche mit Leitungswasser befüllt, ein wenig Obst sowie das Handy, um den Kontakt in die Heimat zu halten, nahmen meine Schwester und ich mit, als wir uns entschlossen, der Hoffnungslosigkeit zu entfliehen. 

 

Nach Europa sollte es gehen. In das Paradies? Nein, einfach nur in die Normalität. Die Engen des Alltags und das Gefühl der Geborgenheit. Wir überließen unser Schicksal Fremden, denen wir Geld im Austausch gegen ein neues Leben gaben. Es waren Kriminelle, die mit Hoffnung und Hoffnungslosigkeit spielten. Sie machten das schnelle Geld mit Grenzübertritten im Schutz der Dunkelheit, Bootsfahrten, die den Tod verheißen konnten, und der ewigen Flucht vor Polizei und Grenzschützern. Unser erster Marsch führte uns an die türkische Grenze. Still und dunkel war es, nur der Schein unserer Handytaschenlampen zeigte uns den Weg durch das Dickicht, welches durch den strengen Geruch von Urin dominiert wurde. Wir waren mit etwa einem Dutzend weiterer Menschen unterwegs. Unter ihnen junge Männer, Familien, Mütter, die verzweifelt versuchten, das Geschrei ihrer Kinder zu unterdrücken. Vorneweg liefen die Männer, denen wir unser Schicksal im Austausch gegen Geld überließen. Immer wieder hörten wir sie fluchen, wenn weitere Äste den Weg versperrten oder unsere Stimmen die Stille durchschnitten. Immer weiter im Schutz der ewigen Dunkelheit. Immer weiter in Richtung türkischer Grenze. Immer weiter hin zu der Angst vor den Grenzsoldaten, die unsere Hoffnung in wenigen Augenblicken zerstören konnten. 

 

Der Regen durchweichte unsere Kleider. Die Tüten mit unseren letzten Habseligkeiten füllten sich allmählich mit Wasser. Die Mütter versuchten, ihre schreienden Kinder unter ihren Jacken und Mänteln zu schützen. Viele versuchten, aus durchlöcherten Plastikplanen und Einkaufstüten einen Regenschutz herzustellen, auch wenn es nichts an ihren triefenden Kleidern und nassen, ins Gesicht hängenden Haaren ändern würde. Es war kalt. Es war eisig. Die an der Haut klebende Kleidung, der Schlamm, der über die Schuhe bis zu den Knien reichte, und der Geruch von nassem Stoff ergaben ein Konglomerat der Trostlosigkeit. Erst in den frühen Morgenstunden besserte sich allmählich die Lage. Der Regen ließ nach, nur der Gestank der Nässe und der Dreck zeugten noch vom beschwerlichen Weg. Endlich erreichten wir einen kleinen Parkplatz auf der türkischen Seite der Grenze. Es waren keine Soldaten zu sehen, keine Schüsse zu hören, wir hatten es geschafft!

 

Dies ist erst der Beginn der Reise.

 

Mehr zum Buch: www.buchhandlung-plaggenborg.de oder beim Einklang Verlag, Zetel: www.einklang-verlag.de 

 

Jannes Wiesner

 

Einklang Vlg. Zetel, 104 S., 8,50 €