Archiv Gesellschaftlicher Wandel


August - Dezember 2022


Das Menschliche und das Fremde

© Foto: Ralph auf Pixabay.com
© Foto: Ralph auf Pixabay.com

Autor: Thomas Geßner

 

Vor einiger Zeit kam eine Frau aus einem nahöstlichen Kriegsgebiet zu mir in die Beratung. Es dauerte ein wenig, bis sie Vertrauen fasste. Dann erzählte sie die Geschichte ihrer zehntägigen Flucht nach Deutschland, gemeinsam mit ihren Kleinkindern. „Zu Hause ist alles kaputt. Kein Haus steht mehr.“ Sie zeigte verschiedene Trauma-Symptome, und sie war fest entschlossen, für ihre Kinder und mit ihnen gemeinsam hier weiterzuleben. Sie sprach bereits Deutsch, und sie hoffte auf spätere Rückkehr nach Hause. Auch im Nachgang zu dieser Begegnung entstand die folgende psychologische Kontemplation zu aktuellen seelischen Bewegungen in Menschen und Menschengruppen.

Natürlich können ökonomische, soziologische, juristische, religiöse oder politische Assoziationen beim Lesen angeregt werden, vermutlich lässt sich das nicht umgehen.

 

Zuerst: Ich spreche hier nicht über Menschen, die zu uns kommen, weil sie hier eine aussichtsreichere oder lohnendere Arbeit, Bildung, Gesundheitsversorgung oder was auch immer Erstrebenswerteres vorzufinden hoffen, als sie es von ihrem früheren Lebensort kannten. Ich spreche über Menschen, die an ihrem bisherigen Lebensort in Lebensgefahr waren und sich auf den Weg machten, dieser zu entgehen.

 

Weiter: Wenn ich über „die Flüchtlinge“ spreche, muss ich auch über uns sprechen. „Wir“, das sind die Leute, die schon da wohnen, wo geflohene Menschen sich sicher genug fühlen, um erst einmal zu bleiben. Erst durch unseren Blick auf sie – und gleichermaßen durch ihren Blick auf uns – entsteht das Phänomen „Einheimische und Flüchtlinge“, welches mich hier interessiert. Wären „wir“ nicht schon hier, würden die Flüchtlinge, also die offensichtlich vor Krieg, Verfolgung, Armut oder anderen unerträglichen Umständen geflohenen Menschen, möglicherweise trotzdem hier Halt machen, weil ihnen vielleicht die Gegend und das Klima günstig vorkommen. Unsere Gegend in Mitteleuropa wäre vielleicht die Endstation auf ihrer Wanderung, vielleicht auch nicht. Es gäbe jedoch nicht den Status von „Flüchtlingen“,  sondern vielleicht von „Davongekommenen“, „Überlebenden“, „Ausgewanderten“, „Siedlern“ oder auch „Angekommenen“. Wären wir Einheimischen nicht schon hier, wäre unsere Gegend vermutlich nur wenig sicherer als die Gegend, wo die fliehenden Menschen vor Monaten aufgebrochen sind. Es gäbe keine Infrastruktur, keine medizinische Versorgung, kein Dach über dem Kopf, keine sichernde Gesetzes- und Polizeimacht, keine Bildung, keine Arbeit, keine mitfühlenden Helfer und Helferinnen. Es wäre Wildwest in Europa. 

Nun, es ist wie es ist: Wir sind schon da, und die Flüchtlinge kommen dazu. Was ist los mit ihnen? Und was ist los mit uns?

 

Ich sehe zwei einfache Dinge:

1. Flüchtlinge sind Menschen. Das kann man sehen, sie gehen aufrecht auf zwei Beinen, sie fühlen, sie denken und sprechen.

2. Flüchtlinge sind Fremde. Sie fühlen, sie denken und sprechen anders als wir. Das sieht man meistens auch.

Schauen wir, was diese kleine Unterscheidung von „Menschen, also Wesen wie wir“, und „Fremde, also anders als wir“, vielleicht öffnet, klärt und verständlich macht.

 

Flüchtlinge sind Menschen

So wie wir wurden sie alle von einer Frau geboren. Sie haben Eltern und Großeltern, oft auch Geschwister, Ehepartner, Kinder und Enkel. Sie essen, sie schlafen, sie weinen, sie streiten sich, sie haben Heimweh. Sie sind freundlich oder wütend, redlich oder kriminell, so wie wir. Fast immer haben sie jemanden verloren, oft auch viele – Angehörige, Freunde, Kollegen. Ihre physische Heimat, ihr irdisches Zuhause, haben sie alle verloren. Sie haben eine Geschichte, genau wie wir. Meistens ist diese Geschichte so voller Schrecken, dass sie nicht einfach erzählt werden kann. Würde ihre Geschichte weniger Schrecken enthalten, hätten sie nicht das Ungewisse ihrem Zuhause vorgezogen. Der Antrieb für Flüchtlingsbewegungen ist unerträglicher Schrecken, verbunden mit der Idee, dass es anderswo vielleicht weniger schrecklich ist. Einen anderen zureichenden Grund, sich von zu Hause fort auf eine potenziell lebensgefährliche Reise in eine unvorstellbare Fremde zu begeben, gibt es nicht. Die Flüchtlingsbewegung ist eine Rettungsbewegung. Sie entsteht unmittelbar aus unserem menschlichen Überlebenstrieb. Den Überlebenstrieb kann niemand unterdrücken.

 

Flüchtlinge sind Fremde

Sie haben oft eine andere Hautfarbe als wir. Sie sprechen anders, nicht nur in uns meist unbekannten Sprachen, sie setzen Sprache auch anders ein als wir. Sie haben andere Gewohnheiten, ob in ihren Familien, ob unter Freunden, ob bei der Arbeit. Sie essen häufig andere Dinge als wir und das zu anderen Tageszeiten. Sie beten zu anderen Göttern. Sie haben andere Vorstellungen davon, was richtig und falsch ist, was gut ist und was schlecht, was man darf und was nicht. Sie haben andere Wünsche als wir, andere Ängste, Freuden und Macken. Sie halten andere Dinge für wichtig, als wir es tun.

Die meisten Flüchtlinge sind innerlich mit Dingen beschäftigt, die die Mehrheit von uns Einheimischen längst hinter sich gelassen zu haben glaubt: Krieg, Tod, Bedrohung, Verwundung, Vergewaltigung, Folter, Vertreibung und Zerstörung. Religiöse, wirtschaftliche und ethnische Unterdrückung gehört ebenfalls zu den Schrecken, die sie mit sich herumtragen, wenn sie es geschafft haben, den physischen Ort dieser Bedrohungen zu verlassen.

Jetzt sind sie da. Was nun? Sie bringen Erfahrungen mit, wie sie unsere Vorfahren vor drei Generationen im Zweiten Weltkrieg und danach gemacht haben. Sie betreffen in unserer Gegend jede Familie. Vor drei Generationen gab es zwölf Millionen deutsche Vertriebene und Flüchtlinge. Viele von ihnen fühlen sich auch siebzig Jahre später noch als Fremde an den einheimischen Orten, wo sie jetzt leben. Erst jetzt, über siebzig Jahre danach, beginnen einheimische Menschen die Wirkung kollektiver traumatischer Überlebensmechanismen in ihrem eigenen Leben wahrzunehmen. Sie beginnen, davon zu erzählen und sich über das formale Funktionieren bzw. das Überspielen hinaus damit zu befassen.

 

Der Schrecken, außen und innen

In der Aufstellungsarbeit zeigt sich oft, wie der Schrecken von damals von folgenden Generationen in kindlich-abhängiger Liebe übernommen wird, um überhaupt bei den verstörten Eltern bleiben zu können und innerlich Kontakt zu ihnen zu finden. Wir sehen, wie wir in dieser unbewussten Loyalität noch heute den Schrecken von damals in uns lebendig halten, wie er unser Lebensgefühl, unsere Symptombildungen und unsere Entscheidungen beeinflusst. Der Schrecken von damals wird uns in der äußeren Welt von heute immer wieder begegnen, so lange, bis wir es wagen, ihn in uns offen anzuschauen. So hilft uns die äußere Welt, innerlich zu uns selbst zu kommen, auch im kollektiven Sinne.

Im Jahre 2015 waren es offenbar die Flüchtlinge, welche mit ihrem Erscheinen jenen Schrecken verkörperten, den wir Einheimischen innerlich noch unter Verschluss halten. Sie bringen uns die Erfahrungen unserer Groß- und Urgroßeltern vor die Haustür, ob als Opfer oder Täter oder beides.

Sie könnten uns damit einen unschätzbaren Dienst erweisen: Sie zeigen uns unser Inneres. Sie tragen es zu uns. Das ist eine große Herausforderung, gegen die die aktuellen verwaltungstechnischen und finanziellen Herausforderungen recht einfach zu lösen scheinen. Und: Das können nur Fremde für uns tun. Einheimische sind zu nah, wir sind immer mit drin in unseren kollektiven Abwehr- und Schutzmechanismen.

 

Die zwei Formen der Abwehr

Wer von uns Einheimischen sich noch nicht in der Lage sieht, in Gestalt der Flüchtlinge dem Echo des Schreckens von damals in die Augen zu sehen und dabei zu fühlen, dass jetzt Frieden, Sicherheit und relativer Wohlstand unser Leben bestimmen, der muss die Schrecken abwehren, welche mit den Fremden zu uns kommen. Dafür gibt es zwei Wege: Entweder man sieht nur „das Fremde“ an den Fremden, also dass sie anders sind als wir. Dann muss man sich Sorgen machen und die eigene „kulturelle Identität“ als nunmehr bedrohten Schutzschild gegen den eigenen Schrecken benutzen. Man wird im Fall der größten Angst die Flüchtlinge physisch bekämpfen. Oder man sieht nur „das Menschliche“ an ihnen, also dass sie genau solche sind wie wir. Dann muss man ihnen helfen, alles Schwierige abnehmen, sich selbst dabei furchtbar überanstrengen, sie zu integrieren versuchen und am liebsten irgendwann ganz zu Einheimischen machen.

Im ersten Fall ist man so von „dem Fremden“ hypnotisiert, dass man das Menschliche an ihnen nicht sehen kann. Im zweiten Fall hypnotisiert einen „das Menschliche“ an ihnen derart, dass man ihre Fremdheit ebenso wenig wahrnimmt wie die höchstwahrscheinliche Aussicht, dass Flüchtlinge über mehrere Generationen hinweg Fremde bleiben werden.

In beiden Fällen sieht man sie nicht als das, was sie sind: fremde Menschen, die sich vor dem Schrecken hierher gerettet haben. In beiden Fällen nimmt man ihnen etwas von ihrer Würde, und sich selber auch.

Es scheint nicht einfach zu sein, das Menschliche und das Fremde in ihnen gleichzeitig zu sehen und beides gleich zu würdigen. Es setzt voraus, dass man sich selber sieht und erkennt, wer man ist. Und es kann gleichzeitig diesen inneren Vorgang der Bewusstwerdung in Gang bringen.

 

Anschauen was ist

Man kann den Flüchtlingen ihr Fremdsein nicht abnehmen, sondern man muss es ihnen zumuten und auch lassen. Sie werden keine Deutschen werden, sondern etwa Afghaninnen, Syrer, Marokkanerinnen oder Libyer bleiben. Man kann auch sich selber das Einheimischsein nicht abnehmen, sondern muss es sich zumuten. Einheimische haben bei sich zu Hause die Verantwortung für das „Wie“ des Zusammenlebens, sowohl miteinander als auch mit ihren Gästen, in diesem Falle mit ihren Flüchtlingen. Wir müssen diese Verantwortung wahrnehmen, denn darin besteht hierzulande unser Zuhausesein.

„Integration“ bleibt ein (Alp)-Traum, solange man diese Grunddynamiken ignoriert. Sie kann zu einem neuen Gemeinwesen führen, wenn wir beginnen, uns selber zu sehen, und damit aufhören, „das Fremde" und „das Menschliche“ gegeneinander auszuspielen.

 

Textauszug aus „Der blaue Fisch – über den Zeitgeist“ von Thomas Geßner mit freundlicher Genehmigung des Innenwelt Verlages.
Siehe auch unter „Wortwelten“.


April - August 2022


Verbundenheit – Verantwortung – Fürsorge: Die Bedeutung des einzelnen Menschen

© Albrecht Fietz - pixabay.com
© Albrecht Fietz - pixabay.com

Autor: Manfred Folkers

 

 

Alles, was von irgendwelcher Reichweite sein soll, muss im Einzelnen beginnen und durch den Einzelnen verwirklicht werden. Es gibt keinen anderen Weg der Verwirklichung, es gibt keine Änderung der Institutionen oder der herrschenden Mentalität, es gibt keine wie auch immer geartete Besserung auf welchem auch immer in Betracht gezogenen Gebiete, wenn der Ansatzpunkt zu einer Klärung und zu einer allgemeinen Wandlung nicht in den Einzelnen verlegt wird. 

                                                      (Jean Gebser: Abendländische Wandlung; Zürich 1943)

 

Die Menschheit befindet sich in einer bedrohlichen Phase, die sich auch im Jahr 2021 in vielen Bereichen gezeigt hat: Die Corona-Pandemie hat sich fortgesetzt. Es hat erneut verheerende Waldbrände in Australien, Russland, Südeuropa und den USA gegeben. Der Westen Deutschlands und Belgiens ist von katastrophalen Überschwemmungen heimgesucht worden. Fast 40 Milliarden Tonnen Kohlendioxid sind in die Atmosphäre gelangt. Humusrückgang und regionaler Wassermangel haben sich beschleunigt. Das Artensterben hat zugenommen … 

„Unser Planet ist kaputt!“, rief UN-Generalsekretär Antonio Guterres, als er im August 2021 den Bericht des Weltklimarates IPCC erläuterte: „Die Alarmglocken sind ohrenbetäubend!“ Dieser Bericht hat festgestellt, dass die globale Erwärmung und der Klimawandel samt Folgewirkungen eindeutig auf menschliche Aktivitäten zurückzuführen sind. 

Von diesen Tatsachen sind weltweit alle Menschen und Prozesse auf unterschiedliche Weise betroffen. Dazu möchte ich zwei persönliche Erlebnisse schildern, die mich sehr berührt haben: Im August hatte ich die Gelegenheit, den Blüemlisalpgletscher im Berner Oberland zu betrachten. Im Sommer 1982 hatte ich dort schon einmal gestanden. Damals waren zwei riesige Eiszungen ins Tal geflossen. Jetzt – 39 Jahre später – waren sie komplett weggeschmolzen. Es sah aus, als ob dem berühmten Rolling-Stones-Mund die Zunge gefehlt hätte und die Zähne des Unterkiefers zu sehen wären. Später las ich das Buch „Ökodharma“ von David Loy, in dem er die Frage aufwirft: Ist es nicht bereits zu spät für eine große Transformation zur Rettung der Zivilisation? Wie gehen wir mit der Möglichkeit um, dass die Menschheit zu den 95 Prozent der Lebensformen zählen könnte, die in den nächsten Jahrzehnten oder Jahrhunderten verschwinden wird?

 

Verbundenheit 

Derartige Überlegungen wahr und ernst zu nehmen und dabei nicht zu verzagen ist eine Kunst, die sich ohne eine klug durchdachte Geisteshaltung kaum meistern lässt. Es gibt zwar zahlreiche Menschen, die sich mit religiös oder ideologisch begründeten Überzeugungen stabilisieren können, aber viele finden in solchen Glaubenssystemen keinen Halt mehr. Hier bietet sich Buddhas Dharma als eine weltzugewandte Methode und Seinslehre an, die offen ist für wissenschaftliche Erkenntnisse und ohne Dogmen und esoterische Annahmen auskommt. Sie fordert jede und jeden auf, sich durch genaues Hinschauen ein eigenes Verständnis vom Leben zu bilden. 

Buddhas Lehre schließt grundsätzliche Überlegungen ein. Sie regt dazu an, die Suche nach einem „eigenständigen Selbst“ einzustellen und der Erkenntnis Raum zu geben, dass wir permanent und restlos in diese Welt integriert sind. Auf allgemeiner Ebene drückt sie diese Auffassung mit Begriffen wie Intersein, wechselseitige Durchdringung und abhängiges Ent- und Bestehen aus und weiß sich dabei im Einklang mit der modernen Astro- und Quantenphysik. Auf der praktischen Ebene lässt sich diese existenzielle Verbundenheit beispielsweise im Miteinander, in der Hilfsbereitschaft und einem liebevollen Wir- und Mitgefühl erleben.

 

Verantwortung 

Durch die Einsicht in die vollständige Einheit von Sein und Leben lässt sich nicht nur der Eindruck einer vermeintlichen individuellen Getrenntseins überwinden. Es ist darin auch der Auftrag enthalten, acht- und behutsam mit der Welt umzugehen. Wer seine Anwesenheit als Mensch als bewusste Teilnahme und Anteilnahme an der Entwicklung des Universums versteht, wird es für selbstverständlich halten, sich für das Ganze verantwortlich zu fühlen. Wer mit dieser Einstellung eine Dose in den Wald wirft, kann spüren, wie sie quasi den eigenen Kopf trifft. 

Diese Verantwortung des einzelnen Menschen ist nicht delegierbar – nicht an andere, nicht an ein imaginiertes „höheres Wesen“, nicht an „die“ Gesellschaft. Es ist egoistisch und ignorant, gesellschaftliche Veränderungen zu erwarten, ohne selbst mitzuwirken. Die Gesellschaft als solche kann gar nicht handeln, denn sie hat keine eigenen Hände. Sie ist auf das Engagement ihrer Mitglieder angewiesen. Alle gemeinsamen Aktivitäten erfordern letztlich individuelle Taten. Der wichtigste Beitrag, den ein einzelner Mensch zur Transformation einer Gesellschaft beitragen kann, besteht darin, sich selbst zu transformieren. 

Selbstverständlich gibt es Unterschiede. Wer viel verbraucht und es gewohnt ist, einen großen ökologischen Fußabdruck zu hinterlassen, kann und sollte sich wesentlich mehr umstellen als eine Person, die mit wenig auskommt und nachhaltig lebt. Wer sich ökonomisch und politisch engagiert, hat andere und oft wirksamere Möglichkeiten zur Umgestaltung. Insbesondere in einer Demokratie haben sich die Menschen von sich aus einzubringen, wenn sich strategisch und im Alltag etwas bewegen soll. Schließlich gilt es, freiwillig und rechtzeitig genügend zu ändern, bevor die Naturgesetze – über Hitze, Dürren, Überflutungen, Stürme, Pandemien– eine Art „Öko-Diktatur“ erzwingen, die dem Homo sapiens keine Sonderrolle mehr zugesteht.

 

Fürsorge 

Die Krisen der gegenwärtigen Zivilisation sind aus dem Verlangen nach Macht und materiellen Werten entstanden – und aus deren systematischer Anwendung, indem Menschen im Wettbewerb miteinander ihren Besitz immer weiter vermehren. Menschen sind die Ursache der Probleme und gerade deshalb auch die Schlüssel zu deren Überwindung. 

Die menschliche Verantwortung, Auswege aus unserem gemeinsamen Dilemma zu suchen, kann als Fürsorgepflicht beschrieben werden. Aus dem Blickwinkel des Dharma erweist sich dabei die individuelle Selbstfürsorge als eine Fürsorge für andere – und umgekehrt. Wer – so hat es der Buddha ausgedrückt – in aller Tiefe und Weite auf sich selbst achtet, achtet auf diese Weise auch auf alle anderen. Und wer in aller Tiefe und Weite auf das Ganze achtet, achtet auch auf sich selbst. Diese Praxis findet sich in modernen Slogans wieder: „Global denken – lokal handeln“ und „In sich selbst die ganze Welt entdecken“. 

Mithilfe dieser Überzeugungen und indem Menschen die Aufgabe bejahen, sich am notwendigen Wandel zu beteiligen, lassen sich auf umfassende Weise Sinn und Zufriedenheit finden. Wer sich von der heute üblichen materiellen Orientierung befreit, öffnet sich nicht nur für eine persönliche und gesellschaftliche Transformation, sondern erlebt deren Früchte als heilende Hinwendung zu einem integren Leben in einer liebenswerten Welt.

 

Als 2. Teil der Serie „Buddhistische Beiträge zur großen Transformation“ erschien dieser Text in der „Buddhismus aktuell“ (Ausgabe 1/2022).