Autor: Manfred Folkers
Alles, was von irgendwelcher Reichweite sein soll, muss im Einzelnen beginnen und durch den Einzelnen verwirklicht werden. Es gibt keinen anderen Weg der Verwirklichung, es gibt keine Änderung der Institutionen oder der herrschenden Mentalität, es gibt keine wie auch immer geartete Besserung auf welchem auch immer in Betracht gezogenen Gebiete, wenn der Ansatzpunkt zu einer Klärung und zu einer allgemeinen Wandlung nicht in den Einzelnen verlegt wird.
(Jean Gebser: Abendländische Wandlung; Zürich 1943)
Die Menschheit befindet sich in einer bedrohlichen Phase, die sich auch im Jahr 2021 in vielen Bereichen gezeigt hat: Die Corona-Pandemie hat sich fortgesetzt. Es hat erneut verheerende Waldbrände in Australien, Russland, Südeuropa und den USA gegeben. Der Westen Deutschlands und Belgiens ist von katastrophalen Überschwemmungen heimgesucht worden. Fast 40 Milliarden Tonnen Kohlendioxid sind in die Atmosphäre gelangt. Humusrückgang und regionaler Wassermangel haben sich beschleunigt. Das Artensterben hat zugenommen …
„Unser Planet ist kaputt!“, rief UN-Generalsekretär Antonio Guterres, als er im August 2021 den Bericht des Weltklimarates IPCC erläuterte: „Die Alarmglocken sind ohrenbetäubend!“ Dieser Bericht hat festgestellt, dass die globale Erwärmung und der Klimawandel samt Folgewirkungen eindeutig auf menschliche Aktivitäten zurückzuführen sind.
Von diesen Tatsachen sind weltweit alle Menschen und Prozesse auf unterschiedliche Weise betroffen. Dazu möchte ich zwei persönliche Erlebnisse schildern, die mich sehr berührt haben: Im August hatte ich die Gelegenheit, den Blüemlisalpgletscher im Berner Oberland zu betrachten. Im Sommer 1982 hatte ich dort schon einmal gestanden. Damals waren zwei riesige Eiszungen ins Tal geflossen. Jetzt – 39 Jahre später – waren sie komplett weggeschmolzen. Es sah aus, als ob dem berühmten Rolling-Stones-Mund die Zunge gefehlt hätte und die Zähne des Unterkiefers zu sehen wären. Später las ich das Buch „Ökodharma“ von David Loy, in dem er die Frage aufwirft: Ist es nicht bereits zu spät für eine große Transformation zur Rettung der Zivilisation? Wie gehen wir mit der Möglichkeit um, dass die Menschheit zu den 95 Prozent der Lebensformen zählen könnte, die in den nächsten Jahrzehnten oder Jahrhunderten verschwinden wird?
Verbundenheit
Derartige Überlegungen wahr und ernst zu nehmen und dabei nicht zu verzagen ist eine Kunst, die sich ohne eine klug durchdachte Geisteshaltung kaum meistern lässt. Es gibt zwar zahlreiche Menschen, die sich mit religiös oder ideologisch begründeten Überzeugungen stabilisieren können, aber viele finden in solchen Glaubenssystemen keinen Halt mehr. Hier bietet sich Buddhas Dharma als eine weltzugewandte Methode und Seinslehre an, die offen ist für wissenschaftliche Erkenntnisse und ohne Dogmen und esoterische Annahmen auskommt. Sie fordert jede und jeden auf, sich durch genaues Hinschauen ein eigenes Verständnis vom Leben zu bilden.
Buddhas Lehre schließt grundsätzliche Überlegungen ein. Sie regt dazu an, die Suche nach einem „eigenständigen Selbst“ einzustellen und der Erkenntnis Raum zu geben, dass wir permanent und restlos in diese Welt integriert sind. Auf allgemeiner Ebene drückt sie diese Auffassung mit Begriffen wie Intersein, wechselseitige Durchdringung und abhängiges Ent- und Bestehen aus und weiß sich dabei im Einklang mit der modernen Astro- und Quantenphysik. Auf der praktischen Ebene lässt sich diese existenzielle Verbundenheit beispielsweise im Miteinander, in der Hilfsbereitschaft und einem liebevollen Wir- und Mitgefühl erleben.
Verantwortung
Durch die Einsicht in die vollständige Einheit von Sein und Leben lässt sich nicht nur der Eindruck einer vermeintlichen individuellen Getrenntseins überwinden. Es ist darin auch der Auftrag enthalten, acht- und behutsam mit der Welt umzugehen. Wer seine Anwesenheit als Mensch als bewusste Teilnahme und Anteilnahme an der Entwicklung des Universums versteht, wird es für selbstverständlich halten, sich für das Ganze verantwortlich zu fühlen. Wer mit dieser Einstellung eine Dose in den Wald wirft, kann spüren, wie sie quasi den eigenen Kopf trifft.
Diese Verantwortung des einzelnen Menschen ist nicht delegierbar – nicht an andere, nicht an ein imaginiertes „höheres Wesen“, nicht an „die“ Gesellschaft. Es ist egoistisch und ignorant, gesellschaftliche Veränderungen zu erwarten, ohne selbst mitzuwirken. Die Gesellschaft als solche kann gar nicht handeln, denn sie hat keine eigenen Hände. Sie ist auf das Engagement ihrer Mitglieder angewiesen. Alle gemeinsamen Aktivitäten erfordern letztlich individuelle Taten. Der wichtigste Beitrag, den ein einzelner Mensch zur Transformation einer Gesellschaft beitragen kann, besteht darin, sich selbst zu transformieren.
Selbstverständlich gibt es Unterschiede. Wer viel verbraucht und es gewohnt ist, einen großen ökologischen Fußabdruck zu hinterlassen, kann und sollte sich wesentlich mehr umstellen als eine Person, die mit wenig auskommt und nachhaltig lebt. Wer sich ökonomisch und politisch engagiert, hat andere und oft wirksamere Möglichkeiten zur Umgestaltung. Insbesondere in einer Demokratie haben sich die Menschen von sich aus einzubringen, wenn sich strategisch und im Alltag etwas bewegen soll. Schließlich gilt es, freiwillig und rechtzeitig genügend zu ändern, bevor die Naturgesetze – über Hitze, Dürren, Überflutungen, Stürme, Pandemien– eine Art „Öko-Diktatur“ erzwingen, die dem Homo sapiens keine Sonderrolle mehr zugesteht.
Fürsorge
Die Krisen der gegenwärtigen Zivilisation sind aus dem Verlangen nach Macht und materiellen Werten entstanden – und aus deren systematischer Anwendung, indem Menschen im Wettbewerb miteinander ihren Besitz immer weiter vermehren. Menschen sind die Ursache der Probleme und gerade deshalb auch die Schlüssel zu deren Überwindung.
Die menschliche Verantwortung, Auswege aus unserem gemeinsamen Dilemma zu suchen, kann als Fürsorgepflicht beschrieben werden. Aus dem Blickwinkel des Dharma erweist sich dabei die individuelle Selbstfürsorge als eine Fürsorge für andere – und umgekehrt. Wer – so hat es der Buddha ausgedrückt – in aller Tiefe und Weite auf sich selbst achtet, achtet auf diese Weise auch auf alle anderen. Und wer in aller Tiefe und Weite auf das Ganze achtet, achtet auch auf sich selbst. Diese Praxis findet sich in modernen Slogans wieder: „Global denken – lokal handeln“ und „In sich selbst die ganze Welt entdecken“.
Mithilfe dieser Überzeugungen und indem Menschen die Aufgabe bejahen, sich am notwendigen Wandel zu beteiligen, lassen sich auf umfassende Weise Sinn und Zufriedenheit finden. Wer sich von der heute üblichen materiellen Orientierung befreit, öffnet sich nicht nur für eine persönliche und gesellschaftliche Transformation, sondern erlebt deren Früchte als heilende Hinwendung zu einem integren Leben in einer liebenswerten Welt.
Als 2. Teil der Serie „Buddhistische Beiträge zur großen Transformation“ erschien dieser Text in der „Buddhismus aktuell“ (Ausgabe 1/2022).
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