Bewusstes Leben 2025


April - August 2025


Kinder brauchen Flügel, keine Helikopter!

© RebeccasPictures – pixabay.com
© RebeccasPictures – pixabay.com

Autorin: Emily Edlynn

 

Je länger ich an diesem Buch schrieb, desto zuversichtlicher blickte ich auf mein Elternsein. Es klingt vielleicht übertrieben, aber meine wummernden Selbstzweifel waren nur noch eine gelegentliche Schwingung, weil ich die Autonomie-fördernde Denkweise verstand und mit diesem Bezugssystem im Hinterkopf eine Reihe von erzieherischen Herausforderungen anging. Als ich ruhiger wurde, Zutrauen in meine erzieherischen Fähigkeiten gewann und an dem Buch saß, in dem ich diese Erkenntnis mit anderen teilen wollte, entdeckte ich auch mein eigentliches Problem, das mir in den zehn Jahren meines Mutterseins immer entgangen war: meine Neigung zur Kontrolle. Dann fiel mir auf, dass andere Eltern in meiner Therapiepraxis und in meinem Umfeld mit den gleichen Schwierigkeiten zu kämpfen schienen (genau wie das andere Elternteil bei mir zu Hause). Sie lauern eben überall – verdeckt von der liebevollen Absicht, gute Eltern zu sein und gute Kinder großzuziehen. 

Mir gefiel die Idee, dieses Aha-Erlebnis zu teilen: Es ist schwer, kontrollgesteuert zu sein, wenn man bewusst einen Autonomie-fördernden Erziehungsstil ausübt. Als ich meine Kontrollneigung runter- und die Autonomieförderung hochfuhr, kam es mir vor, als würde die bessere Mama-Version schmetterlingsgleich aus dem Kontroll-Kokonschlüpfen. 

 

Aber dann, eines Abends im Herbst ...

»Du bist echt ein Kontroll-Freak!« Das schleuderte mir meine Elfjährige in voller Lautstärke und maximaler Erregtheit entgegen, als ich auf der Einhaltung der Handy-Zeiten bestand. Meine Schmetterlingsflügel zerbröselten, und ich wollte zurück in den Kokon schlüpfen. Was war schiefgelaufen?

Angesichts ihrer Reaktion musste ich mich fragen, ob ich wirklich ein »Kontroll-Freak« war. Obwohl ich ganz bewusst auf Autonomie-fördernde Erziehung setzte, hatte ich vielleicht unbewusst den Drang, meine Tochter zu kontrollieren. Der kollidierte mit dem Wunsch, sie in dem Gefühl zu unterstützen, auf die Dinge Einfluss nehmen zu können. An mir nagte die Angst, sie könne ihr Handy einem erfüllten Leben vorziehen. Und Angst kann Kontrollzwang auslösen. Waren die Handy-Zeiten denn überhaupt ihrem Alter und Entwicklungsstand angemessen? Es war sicher nicht verkehrt, das mal zu überdenken, auch wenn ich für den Moment an den vereinbarten Zeiten festhielt.

Ihr war egal, dass wir die Regeln zum Handy-Gebrauch gemeinsam festgelegt hatten und ich sie nur an die Konsequenzen erinnerte, auf die wir uns geeinigt hatten. Es hätte auch keinen Unterschied gemacht, als Antwort all die wissenschaftlich fundierten Strategien zur Förderung ihrer Autonomie aufzuzählen, die ich angewandt hatte: »Hey, ich hab dich bei der Entscheidungsfindung mit einbezogen, ich hab alles begründet, und ich hab mich ganz empathisch in dich hineinversetzt, um deine Sicht nachzuvollziehen. Ich fördere dich in deiner Autonomie!« In ihrem präpubertären Zustand fühlte sie sich in diesem Moment eben kontrolliert.

Ich fange mit diesem Beispiel vom Schlachtfeld Kinderzimmer an, weil wir auch das Thema Kontrolle in der Erziehung berücksichtigen müssen, wenn wir in diesem Buch darlegen wollen, wie eine Autonomie-fördernde Erziehung aussieht. Wir alle neigen zur Kontrolle, aber wie sehr, das wechselt von Tag zu Tag. Und wie kontrollsüchtig unsere Kinder uns finden, kann sich sogar von jetzt auf gleich ändern. Als ich mich fragte, ob ich kontrollgesteuert war oder nicht, prägte ich für mich den Begriff des »Kontroll-Kontinuums«. Statt auf die Frage »Bin ich kontrollgesteuert?« mit Ja oder Nein zu antworten, geht es beim Kontroll-Kontinuum um die gezielte Frage: »Wie kontrollgesteuert bin ich gerade?«

Wie ich an mir selbst feststellte, steht Autonomieförderung für die beste Seite des Erziehens, während Kontrollneigung oft auf Furcht und Angst beruht oder bei Stress das Mittel der Wahl ist. Auch wenn manche Eltern sich bewusst für Kontrolle entscheiden, ist doch die Kontrollneigung häufig eine Reaktion und/oder letztlich der Wunsch, seine Kinder zu beschützen. Doch das fördert ihre Entwicklung nicht. Das Problem ist: Je kontrollgesteuerter wir sind, desto mehr scheinen sie außer Kontrolle zu geraten. Wenn unsere Kinder aber außer Kontrolle zu sein scheinen, zieht das Probleme nach sich, kleine und große – von mehr Trotzanfällen bei bockigen Kleinkindern bis zum erhöhten Missbrauchsrisiko verbotener Substanzen bei Jugendlichen. Als Kinderpsychologin und dreifache Mutter habe ich durch Forschung, therapeutische Praxis und Erfahrungen in der eigenen Familie erkannt, dass eine Autonomie-fördernde Erziehung das Gegenmittel zum Gift der Kontrollneigung sein kann.

 

Warum gerade DIESER Erziehungsratgeber?

Dieses Buch bietet eine Blaupause, um unser aller Neigung zur Kontrolle zu ersetzen durch eine Denkweise und Strategien, welche uns helfen, Kinder großzuziehen, die wissen, dass sie beeinflussen können, wer sie sind und wie sie leben. Eigenständige Menschen eben.

Zu Autonomie-fördernder Erziehung gehören Strategien, die darauf abzielen, das Vertrauen der Kinder in ihre Fähigkeiten, eine größere Eigenständigkeit und eine ausgeprägte Selbstwahrnehmung zu stärken. All das soll durch positive familiäre und soziale Bindungen erreicht werden. Die Wissenschaft bietet ein nützliches Bezugssystem für die Kindererziehung, schreibt aber nicht exakt vor, was zu tun ist. Flexibilität macht diesen Erziehungsansatz effektiver, da er eine Anpassung seiner Prinzipien an jede einzelne Familie und jedes Eltern-Kind-Paar ermöglicht.

Diese Form der Erziehung ist trotzdem harte Arbeit. Sorry, aber dieses Buch ist nicht die »Lösung in zehn Schritten« für alle Erziehungsprobleme, denn das wäre eine Lüge, um jede Menge Geld zu verdienen. Und ich lüge nicht, auch wenn das bedeutet, auf ein Dasein als Millionärin zu verzichten. Stattdessen soll dieser Ratgeber Orientierung geben, basierend auf der Wissenschaft der Autonomieförderung und im Kontext dessen, was tagtäglich beim Kindererziehen passiert. Nicht in Forschungsberichten. Nicht in der idealisierten, bereinigten Version des Kindererziehens, von der viele Erziehungsansätze ausgehen. Und die dann beim Leser ein Gefühl des Versagens auslösen. Ich habe dieses Buch geschrieben, um Eltern zu unterstützen und zu stärken, die durchmachen, was auch ich durchgemacht habe: Sie versuchen, die bestmöglichen Eltern zu sein – und haben einen totalen Burn-out.

 

Der Werdegang einer Erziehungsexpertin: vom Burn-out zur Autonomieförderung

Nach den Maßstäben mancher Leute habe ich mir die Auszeichnung »Erziehungsexpertin« verdient, weil ich in klinischer Kinderpsychologie promoviert habe, seit über fünfzehn Jahren als Psychologin mit Kindern und Familien arbeite, einen Elternblog betreibe, eine regelmäßige Kolumne mit Ratschlägen für Parents.com verfasse und Artikel zum Thema Erziehung schreibe (…). Als »Expertin« also weiß ich glücklicherweise immer, was ich als Mutter tun muss. Meine Kinder gedeihen beständig, ihre Entwicklung verläuft positiv, und sie halten sich natürlich immer an die Begrenzung der Bildschirmzeiten und des Zuckerkonsums. Schön wär’s.

Über Jahre habe ich meine Kinder erzogen, ohne je einen Erziehungsratgeber in die Hand zu nehmen. Ich habe kurze Artikel gelesen, die in keiner Hinsicht auf all die Nuancen des Alltags eingehen konnten, denn ich hatte weder die Zeit noch die Muße, ein ganzes Buch zu lesen. (…) In den Jahren, als ich drei kleine Kinder zu versorgen hatte und gleichzeitig in der medizinischen Forschung tätig war (was hohe Anforderungen an die Produktivität bedeutete, während man in der »Freizeit« all das tat, was einem eine Beförderung einbrachte), verheiratet mit einem Psychologen, der den gleichen Job hatte (Ergebnis: keine Flexibilität bei den Arbeitszeiten, gnadenloser Stress usw.), suchte ich nur nach der Antwort auf die Frage: »Was ist das absolute Minimum an Erziehung, das ich leisten muss, ohne ein schlechtes Gewissen zu bekommen?« Wie sich über Wasser halten und eine gute Mutter sein? (Erster Schritt: nie und nimmer an der Definition einer »guten Mutter« orientieren, die in unserer Kultur vorherrscht. Vergessen Sie den Mythos Mutterschaft, sofort!) (…)

Dann entdeckte ich, dass die Psychologie, also mein eigenes Fachgebiet, längst erforscht hatte, was ich in vielerlei Hinsicht von Natur aus im Sinn hatte: die Autonomieförderung. Mich hat begeistert, dass der Fokus hier darauf liegt, eigenständiges Verhalten und Selbstständigkeit durch Aspekte des täglichen Familienlebens zu erreichen.

Als ich mich näher damit befasste, merkte ich, dass die Autonomie-fördernde Erziehung nicht nur meinen Idealen entsprach. Die Forschung legte auch nahe, dass dieser Ansatz zu etwas führt, das meiner Überzeugung nach die meisten von uns anstreben, wenn wir Eltern werden: Wir möchten psychisch stabile Menschen großziehen, die gut klarkommen. Und als Bonus: glücklichere, heilere Familien.

Zahllose Studien mit ganz unterschiedlichen Ansätzen haben bewiesen, wie gut die Autonomie-fördernde Erziehung zu dem passt, was so viele von uns sich für ihre Kinder erhoffen, wenn sie groß werden: Selbstvertrauen, Kompetenz und Mitgefühl für sich und andere. Die Prämisse des Vertrauens auf die Fähigkeiten und die Menschlichkeit unserer Kinder ändert die elterliche Sicht: Statt Angst steht Kraft im Fokus, und sie beruht auf Werten, statt auf Furcht. Wie also lassen Sie dieses großartige Versprechen wahr werden? Als jemand, der beruflich und privat viel Erfahrung mit Burn-out hat, sage ich Ihnen, dass Sie mit Sicherheit bei der Frage beginnen müssen, warum diese Form der Erziehung auch gut für Sie ist.

 

Emily Edlynn

 

„Kinder brauchen Flügel, keine Helikopter!“

 

356 S., Mankau Verlag, 22 €

 

Siehe auch unter „Wortwelten“ S. 55.

 

Textveröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Mankau Verlages.

 


Dezember 2024 - April 2025


Die Erstgeborenen

Foto: © jatocreate – pixabay.com
Foto: © jatocreate – pixabay.com

Autor: Wolfgang Schmidbauer

 

Im Nachlass meines im März 1939 geborenen Bruders fand ich ein Album mit Fotografien aus seinen ersten Lebensjahren. Ich besaß einen ähnlichen Band, helle Pergament-Imitation mit blauen Ecken aus Kunstleder. Zuerst war ich gar nicht sicher, ob wirklich Ernst abgebildet war und nicht ich. Auf den Fotos in „meinem“ Album war ich das Kind mit den blonden Locken und dem sonnigen Gesichtsausdruck; Ernst neben mir trug die Haare kurz, gescheitelt und blickte – ernst.

Ich blätterte vor, ich blätterte zurück, es war klar: Dieser blühend und fröhlich aussehende, in das Objektiv lächelnde kleine Junge war mein großer Bruder, das erste Kind seiner Eltern, vom Fotografen in das beste Licht gerückt. Dann wurde ich geboren, Ernst musste zum ersten Mal zum Haareschneiden, seine Locken fielen, meine wuchsen. Sein Gesichtsausdruck veränderte sich: der Blick verhangen, der Mund gerade, die bisher vollen Lippen schmal und gepresst. Wenn ich seine Stimmung einfangen möchte, war es die Veränderung von „schön ist es auf der Welt zu sein“ zu „es wartet eine Aufgabe“.

Unser Vater war ein leidenschaftlicher Fotograf, der seine Filme selbst entwickelte und in einer improvisierten Dunkelkammer bearbeitete. Im Mai 1941 kam ich zur Welt, der zweite Sohn. Auf den Fotos ab 1942 war Ernst zu sehen, der in den Kinderwagen blickt, neben dem Baby steht, mit einem Gesichtsausdruck, der zu seinem Namen und zu meinen Erinnerungen an ihn passt.

Unser Vater hat seine beiden Söhne zuletzt im Dezember 1942 fotografiert, wie sie die Kerzen am Weihnachtsbaum bestaunen und gemeinsam in einem Bilderbuch blättern. Viele Stunden seines letzten Fronturlaubs muss er damit verbracht haben, die Negative zu vergrößern und die Bilder in ein Album zu kleben, mit lakonischen Bemerkungen in seiner fließenden Handschrift. Im Januar 1944 ist er dann in der Ukraine gefallen, südlich von Kiew.

Der Eindruck, den das Gesehene auf mich gemacht hatte, mischte sich mit der aktuellen Trauer über Ernsts Tod. Jedenfalls traf mich der tragische Aspekt der Geschichte des Erstgeborenen wie ein Schlag. Ich war unschuldig und doch der Täter. Ich hatte ihm etwas kaputt gemacht.

Unsere kluge Mutter hat ihrem Erstgeborenen wohl gar nicht so banale Dinge gesagt wie, er sei nun groß und müsse vernünftig sein. Das war nicht nötig, das ergab sich wie von selbst und war doch schrecklich. Bisher gehörten ihm Welt und Mutter allein; jetzt war klar, dass er beides teilen musste und das Ganze verloren hatte. Ich hingegen wusste von Anfang an, dass da neben der Mutter noch ein Gefährte war, den ich interessant fand, von dem ich lernen, mit dem ich spielen konnte, freilich stets darauf bedacht, dass ich dem Zentrum der Macht näher blieb als er.

Ich kann nicht entscheiden, ob mir die Veränderung meines Bruders in dem Album aufgefallen wäre, wenn ich nicht durch meine Arbeit als Psychoanalytiker und Familientherapeut geschult wäre, auf solche Details zu achten. Zudem hatte ich in den letzten Jahren einige Patientinnen und Patienten analysiert, deren unbewusste Konflikte wieder und wieder in die beschriebene Situation führten: Sie sind Erstgeborene, sie nehmen Situationen ernst und schwer, die andere abschütteln, sie kämpfen darum, Beziehungen zu ordnen, zu kontrollieren, sie fühlten sich schuldig, wenn sie sich über weniger pflichtbewusste Kollegen ärgern.

Ich kann mich kaum erinnern, wie oft ich beschloss, nie wieder mit Ernst zu spielen, ihm nie wieder ein Buch zu leihen, nichts mehr zusammen zu unternehmen. Es war wie bei Mark Twain: Nichts ist leichter, als das Rauchen aufzugeben, ich hab’ es schon hundertmal gemacht. Wenn in einer Therapie die Rede auf schwer erträgliche Geschwisterkonflikte kommt, sage ich manchmal: „Geschwister sind schrecklich. Aber keine zu haben ist schlimmer.“

Die Entscheidung, dieses Buch zu schreiben, hat sich aus dieser spät erkannten Verwandlung meines erstgeborenen Bruders und den vielfältigen Erfahrungen mit Erstgeborenen in der Einzel-, Gruppen- und Familientherapie gefügt. Beide Quellen spiegelt der Text. Ich werde zeigen, dass es fundamentale Unterschiede zwischen Erstgeborenen und allen anderen Geschwisterpositionen gibt, die in modernen Familien besonders ins Gewicht fallen. Wenn wir sie uns vergegenwärtigen, werden wir vergangene wie aktuelle Konflikte besser verstehen. Wenn ich Ernst und mich selbst immer wieder als Beispiele heranziehe, hat das den Vorzug, dass ich unbefangen und detailgetreu erzählen kann, während in den Fallgeschichten aus der Praxis die Personen durchweg in Fiktionen verkleidet wurden, um sie unkenntlich zu machen.

Zur Vorbereitung auf meine Aussagen bitte ich Leserinnen und Leser um Verständnis für eine Neigung zur (Über)Pointierung. Sie entspringt der therapeutischen Arbeit, in der es darum geht, Aufmerksamkeit zu wecken und Denkprozesse anzustoßen. Ganz bestimmt opfern nicht alle Erstgeborenen ihre Kindheit den Geschwistern, leben nicht alle Kinder mehr unter Erwachsenen und weniger zwischen Kindern. Aber wenn das geschieht, verdienen die entstehenden Probleme unsere Aufmerksamkeit. Entwicklungsprozesse sind durchweg vielfältig bestimmt, Erbanlagen, soziale Einflüsse, persönliche Entscheidungen wirken zusammen. Sie können die Macht der Geschwisterrolle kompensieren oder überdecken; zu jedem Einzelbeispiel gibt es ein Gegenbeispiel. Das sollte uns aber nicht hindern, uns in einzelne Fälle zu vertiefen und sie so gut wie möglich zu durchleuchten.

Mein Entschluss, das Allgemeine mit dem Persönlichen zu mischen, Aussagen über die Dynamik der Erstgeborenen mit meiner eigenen Bruderbeziehung zu verknüpfen, steht auch für dieses Dilemma. Die eigene Geschichte prägt das, was die Psychoanalyse Gegenübertragung nennt: Gedanken, Gefühle und Fantasien, die den Blick des Psychologen lenken und, wo sie unbewusst bleiben, sein Urteil trüben. Indem ich freimütig über meine Bruderbeziehung spreche, sollten – so hoffe ich wenigstens – Leserinnen und Leser ein Gefühl für die Eigenart einer Wissenschaft entwickeln, die Unbewusstes bewusst macht.

 

Die moderne Familie

In den Kleinfamilien der hoch entwickelten Länder haben sich viele Dinge verändert. Noch vor zweihundert Jahren wuchsen weitaus die meisten Kinder in Dörfern auf. Es wäre weder Mutter noch Vater in den Kopf gekommen, dass Erwachsene mit Kindern spielen sollen. Gespielt wurde durchaus, mehr und sicher wilder als heute, denn wenn das Baby zum Spielkind reifte, zog es hinaus und konnte sich in einer Gruppe zusammen mit anderen Kindern, gleichaltrigen, älteren, bald auch jüngeren auf die Vielfalt menschlicher Beziehungen, auf Liebe, Hass, Neid und Eifersucht vorbereiten.

Heute gibt es viele Einzelkinder; am häufigsten ist die Zweikinderfamilie. Spielgruppen sind gleichaltrig und werden von Erwachsenen kontrolliert. Eltern fühlen die Pflicht, ihre Kinder zu fördern, Lehrer fordern die Klasse auf, sich bei Mobbing an sie zu wenden. Kinder wachsen nicht mehr im Freien mit Kindern auf, sondern in geschlossenen Räumen unter Erwachsenen. Geschwister können die archaischen Spielgruppen, die Stammeskultur und Dorfleben prägten, nicht ersetzen.

Ich habe viele Jahre mit Therapie- und Selbsterfahrungsgruppen gearbeitet, die in der Weiterbildung von Therapeuten und Beratern eine wichtige Rolle spielen. Manchmal glaubte ich den Verlust der urtümlichen Spielgruppe zu ahnen, wenn der Freiraum, sich in einer sozialen Situation darzustellen und neugierig auf Menschen zuzugehen, erst einmal kaum genutzt wurde. Zehn kluge, sozial interessierte Menschen in einem Raum haben Mühe, die Ängste zu überwinden, die das schlichte Angebot auslöst, zu sagen, was sie gerade übereinander denken, fühlen und herausfinden möchten.

Einige Male habe ich Untergruppen gebildet. Sie sollten gemeinsam darüber nachdenken, was die Geschwisterrolle mit uns macht: Älteste, Jüngste, Mittlere und Einzelkinder. Typische Äußerungen sind, dass die Erstgeborenen sich an den Verlust der eigenen Kindheit erinnern, wenn ein Geschwister kommt, aber auch an den Gewinn an Macht und Einfluss. Sie fühlen sich verantwortlich, sie werden in die Rolle des Vorbilds gedrängt und geben sich dann auch Mühe, diese auszufüllen.

Das führt zu Konflikten außerhalb der Familie. Eine Szene, geschildert in einer Therapie: Der Erstgeborene trägt sein erstes Gymnasialzeugnis nach Hause, nur Einsen, im Sport die Zwei. Auf dem Weg trifft er einen etwas älteren Jungen, der sich nach den Noten erkundigt. Arglos gibt der Elfjährige Auskunft. Der Kommentar des Älteren „Ein echtes Streberzeugnis“ erschüttert ihn zutiefst. Er will unbedingt die Sportnote verbessern und übt an der Stange, bis er blaue Flecken hat. „Bis heute fürchte ich, dass mich jemand für einen Streber hält, ich sage nie meine Noten.“

Die Tragik dieser Szene liegt darin, dass der Elfjährige den impliziten Auftrag der Mutter erfüllt, den beiden jüngeren Geschwistern ein zuversichtlich stimmendes Vorbild für den Übertritt in das Gymnasium zu sein. Indem er das tut, macht er sich angreifbar, gilt als Streber und Schleimer. Zusammengefasst: Wer innerhalb der Familie Verantwortung übernehmen und Vorbild sein soll, kann eben deshalb außerhalb der Familie anecken und eingeschüchtert auf der Strecke bleiben.

Erstgeborene finden die Jüngeren (die für sie nie wirklich aufhören werden, die Kleinen zu sein) ansprüchlich und undankbar. Sie mussten den Eltern Freiheiten abringen, die den jüngeren Geschwistern in den Schoß fallen. Sie formen die Eltern (oder versuchen es wenigstens), unterstützen sie, sich angemessen um ihre kleinen Geschwister zu kümmern, und erwarten Dankbarkeit.

Die Jüngeren hingegen sehen nicht ein, warum sie dankbar sein sollen. Das wäre doch eher Pflicht der Erstgeborenen, die sich so lange wichtigmachen durften und sich dann auch noch geziert haben, von ihrem Vorsprung abzugeben. Die mittleren Kinder schauen angesichts solcher Debatten nach beiden Richtungen und sagen sich, ach, wir können die Großen verstehen und die Kleinen auch, wir kennen beides, wir sind erst die Kleinen gewesen, und als dann noch jemand geboren wurde, waren wir auf einmal die Großen. Immer gab es jemand, der oder die das schon gewesen war. Was wir an Bedeutung gewonnen haben, haben wir auch wieder verloren. Wir sind flexibel, ziehen los und suchen anderswo unser Glück.

 

Wolfgang Schmidbauer

 

„Die Erstgeborenen“

 

176 S., Bonifatius Vlg., 18 €

 

Siehe auch unter „Wortwelten“ S. 57.

 

Textveröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Bonifatius Verlages.

 


August - Dezember 2024


REMIND – Dein Gehirn kann viel mehr als du glaubst

© Gerd Altmann - pixabay.com
© Gerd Altmann - pixabay.com

Autorin: Yovonne Diewald

Yvonne Diewald ist erfolgreiche Neuro-Coachin mit einer besonderen Geschichte: Ihrem viel zu früh geborenen Sohn Dominic wurde von den Ärzten diagnostiziert, dass er wegen seiner Hirnschädigung niemals gehen, sprechen oder schreiben können würde. Doch ihr gelang, was niemand für möglich hielt: Dominic lebt aufgrund des konsequenten Trainings mit seiner Mutter heute ein glückliches und selbstständiges Leben und ist der beste Beweis, dass unsere Gehirne veränderbar sind. Die Erfahrungen mit ihrem Sohn, ihr Wissen als Neurowissenschaftlerin und die langjährige Praxis als Transformationsexpertin konzentriert Yvonne Diewald in ihrem lebensverändernden REMIND®-Programm. Darin zeigt sie, wie wir unsere Gehirne selbst programmieren und uns so von unseren Problemen befreien können, seien es Depressionen oder Ängste, Schwierigkeiten in Beziehungen oder im Umgang mit Finanzen. Diewald zeigt auf, wie belastende Denk-, Gefühls- und Verhaltensmuster in unserem Gehirn entstehen und dort als neuronale Dauerschleifen aktiv sind. REMIND® erklärt in sechs Schritten, wie wir uns dieser Muster bewusstwerden, sie unterbrechen und neue förderliche neuronale Programme anlegen und verfestigen können. Damit unser Gehirn auf Gesundheit, Liebe und Erfolg ausgerichtet wird.
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Natürliche Erholung: Waldbaden als Gegenmittel zur modernen Hektik

Autorinnen: Jasmin Schlimm-Thierjung, Sandrella Lithoxopoulos

 

In der heutigen Welt fällt es vielen schwer, Ruhe zu genießen. Ein Hauptgrund ist die dauerhafte Erreichbarkeit und Ablenkung durch Smartphones und digitale Medien, die zu Reizüberflutung führen. Gesellschaftlicher und Leistungsdruck tragen dazu bei, dass viele sich verpflichtet fühlen, ständig produktiv zu sein. 

Moderne Technologien bieten sofortige Belohnungen durch Likes und Benachrichtigungen, die süchtig machen. Deshalb empfinden viele längere Ruhephasen oder Stille als langweilig oder unangenehm. In diesen Momenten können Angst und Unruhe auftreten, weil man sich mit eigenen Gedanken und Gefühlen auseinandersetzen muss. Stress und ungelöste Probleme werden dann intensiver wahrgenommen und deshalb oft gemieden.

Laut einer Untersuchung der Techniker Krankenkasse fühlen sich fast 70% der Deutschen häufig gestresst. Als Hauptursachen wurden beruflicher Druck und ständige digitale Vernetzung ausgemacht. Die negativen Auswirkungen auf die Gesundheit sind erheblich: Dauerhafte Erreichbarkeit und Informationsflut führen zu mehr Stress und Burnout. 
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