Gesundheit 2025


August - Dezember 2025


Die Linde – Heilpflanze des Jahres und Herzensbaum

Achtsames Leben Magazin
© Angela – pixabay.com

Autorin: Barbara Simonsohn

Die Linde ist vielleicht unser schönster Laubbaum. Alles wirkt harmonisch: die Krone, die herzförmigen Blätter, der Duft der Blüten. Dieser Baum ist aber nicht nur ein Augenschmaus, sondern alle Pflanzenteile wirken seelisch harmonisierend und können so manche körperlichen Beschwerden lindern. Die Linde hat „gelinde“ Heilkraft, so der Heilpflanzen-Experte Wolf-Dieter Storl. Seit alters her pflanzte man Hof- und Dorflinden. Menschen feierten und tanzten unter diesen Linden, hielten darunter Gericht und verliebten sich. Die Linde war der Dorfmittelpunkt und ist im Namen von mehr als 1000 deutschen Ortsnamen verewigt. Die Eiche wurde verehrt, die Linde als Herzensbaum geliebt. 

Über keinen Baum gibt es in Deutschland so viele Gedichte und Lieder. Die Linde gilt als Baum der Liebe, des Friedens, der Harmonie, der Heimat und der Gemeinschaft. Sie ist aber nicht nur ein Kult-, Sagen- und Mythenbaum, sondern hat dem Menschen der heutigen Zeit viel zu bieten, und hilft schon Kindern bei Angststörungen, Nervosität und Überforderung. 

 

Zur Geschichte

Kein anderer Baum hat europäisches Denken, Handeln und Fühlen so tiefgreifend geprägt und gestaltet wie die Linde, kein anderer europäischer Baum ist so tief im Gedächtnis verwurzelt. Doris Laudert, Autorin eines Lindenbuchs: „Im Herzen des Volkes jedoch hat sie sich längst den besten Platz erobert und nimmt seit Menschheitsgedenken als Hausbaum in Hof, Dorf, Kloster und Burg den ersten Platz ein.“ Schon unsere Vorfahren in der Bronze- und Eisenzeit pflanzten in einem nachhaltigen Niederwald auch Linden. Viertausend Jahre vor Christi Geburt bauten Menschen über Torfmooren und Feuchtgebieten Wege aus Holz und verwendeten dafür auch das Holz der Linde. 

Die Germanen verehrten die Linde als Baum, welcher der Göttin Freya gewidmet war, der Göttin der Liebe, der Fruchtbarkeit, des Friedens, der Schönheit, des Glücks, der Mütterlichkeit und des guten Hausstands. „Freya-Linden“ galten den Germanen als Sitz der guten Geister. Germanische Krieger nahmen Lindenholz bedeckt mit Lindenbast und bunt bemalt für ihre Schilder als magischen Schutz. Aus Lindenbast fertigten sie Kleidung, Schuhe, Netze und Taschen. Linden an den Thingstätten, den Schrannengerichten, sollten für ein faires und mildes Urteil sorgen. Urteile wurden noch bis in die Neuzeit gefällt „unter der Linde“, das letzte 1870 in Wüstung Volkmannrode im Kasberg. Berühmte Linden sind die Kunigundenlinde bei Kasberg in Bayern und die Linde von Staffelstein, mit 1200 Jahren eine der ältesten Linden Europas. Auch die Slawen betrachteten die Linde als heiligen Baum und hatten sogar eine eigene Lindengöttin, Libussa, die als Orakelgöttin verehrt wurde. 

Durch die Christianisierung wurden aus alten Freya-Linden Marienlinden, und zu den Marienlinden pilgern seitdem Wallfahrer, um die besonders heilkräftigen Blüten und Blätter zu ernten. Ehemalige Tanzlinden werden jetzt zur Kirchweihzeit wieder betanzt. Im ersten Weltkrieg trugen deutsche Soldaten oft ein getrocknetes Lindenblatt einer ganz besonderen Linde bei sich, das sie beschützen sollte. Es gibt Einheits-Linden und Friedenslinden, die zu besonderen Anlässen gepflanzt wurden. 

 

Zur Botanik 

Es gibt Sommer- und Winterlinden, die beide im Sommer anfangen zu blühen, die Winterlinde nur zwei Wochen später ab Mitte August. Zu einer Zeit, in der die meisten anderen Bäume ausgeblüht haben, stellen Linden eine willkommene Insektenweide dar. Die Winterlinde hat kleinere dunklere Blätter und weichere Fruchthüllen als die Sommerlinde und kommt mit niedrigen Temperaturen – bis minus fünfzig Grad! - besser klar. Leider vertragen beide Abgase schlecht, daher verschwinden sie allmählich aus unserem Stadtbild und machen der robusteren Silberlinde Platz, die nicht so heilkräftig ist wie ihre beiden Schwestern. Linden werden bis zu 40 Metern hoch und können 1000 Jahre und älter werden. Krone, Blätter und Wurzeln sind herzförmig.

Die Blüten bestehen aus Trugdolden und bestehen aus fünf Kelch und fünf Kronblättern mit einem Trag- oder Hochblatt. Die Tragblätter locken Insekten – auch nachtaktive – an und weisen ihnen den Weg zum reichhaltigen Nahrungsangebot. Eine Einzelblüte kann bis zu 43 000 Pollenkörner erzeugen, die wegen ihrer Leichtigkeit bis zu 100 Kilometer verweht werden. Der einzigartige Duft der Blüten wird über die gesamte Blühperiode verströmt und besteht aus 45 Komponenten, vor allem heilkräftigen ätherischen Ölen. Bestäuber sind Bienen, Wildbienen, Käfer, Hautflügler und Nachtfalter. Die essbaren Samen sind Schirmflieger und werden durch das Tragblatt durchschnittlich 60 Meter weit getragen. Lindensamen sind Nahrung für viele Tiere wie Kernbeißer, Eichhörnchen, Grünfink, Buchfink, Kleiber, Kohl- und Tannenmeise. Für Blattfresser wie Linden-Blütenspanner-Raupen, die Lindenwanze, Florfliegen und die Raupen der Linden-Gelbeule ist die Linde Futterpflanze. Wer sein Auto zur Blütezeit unter einer Linde parkt, ärgert sich oft, weil der klebrige Kot der Blattläuse, zuckerhaltiger Honigtau, am Lack klebt. Hohle Linden beherbergen Fledermäuse, Bilche, Waldkäuze, Hohltauben, Spechte und Käferarten wie der seltene Eremit.

Achtsames Leben Magazin
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Die Heilkraft der Pflanzenteile

 

Blüten

Lindenblütentee wirkt besonders aufgrund seiner vielen Polyphenolen, bioaktiven Substanzen, antiviral und antibakteriell bei Erkältungen und Asthma. Ein Lindenblüten-Bad hilft auch Kindern beim Einschlafen. Flavonoide wirken antioxidativ und entzündungshemmend, beugen Krebserkrankungen vor, senken einen zu hohen Blutdruck und stärken die Gefäße. Saponine helfen, überschüssiges Cholesterin aus der Nahrung zu binden und damit der Entstehung von Arteriosklerose entgegenzuwirken. Außerdem hemmen auch sie Entzündungen und optimieren die Immunantwort. 

 

Blätter 

Gerbstoffe in Lindenblättern verhindern das Eindringen von Viren und Bakterien, weil sie die oberste Zellschicht der Schleimhäute verdichten. Sie bremsen Entzündungsprozesse aus und desinfizieren Wunden. Außerdem verhelfen sie Entzündungen im Magen-Darm-Trakt zum Abklingen. Das Flavonoid Linarin wirkt angstlösend und beruhigend bei Stress, Angstzuständen und Schlafstörungen. Studien belegen, dass es mit der Wirkung von Neuroleptika aufnehmen kann. Weitere Flavonoide wirken entzündungshemmend und antioxidativ. Harzsäuren wirken gegen Bakterien, Pilze und Viren und schützen damit vor Infektionen. Sie fördern die Wundheilung und die Regeneration der Haut. Carotinoide schützen die Haut vor UV-Strahlung und sind wichtig für die Augengesundheit. Sie fördern auch die Herzgesundheit, indem sie einen erhöhten Blutdruck senken, Blutfette abbauen und Entzündungen reduzieren. Lindenblätter, roh oder als Tee, sind sehr kaliumreich und fördern damit ein gesundes Säure-Basen-Gleichgewicht. Chlorophyll stärkt die Darmgesundheit, indem es das Wachstum physiologischer Darmbakterien anregt, Entzündungen hemmt und die Vermehrung von pathogenen Darmbakterien bremst. 

 

Die Lindenfrüchte oder Samen

Lindensamen stecken voller Gerbstoffen und Mineralstoffen. Der Anteil gesunder mehrfach ungesättigter Fettsäuren beträgt 56 Prozent, und die Konzentration von Vitamin E wird nur noch von Weizenkeimen getoppt. Sterole wirken entzündungshemmend und antioxidativ als Hautschutz. Lindensamenöl ist ein beliebter Bestandteil in Hautpflegeölen und Massageölen. Phytosterole mindern die Resorption von Cholesterin im Darm und schützen über das Absenken des Blutcholesterinspiegels das Herz. Sie wirken außerdem antioxidativ sowie entzündungs- und krebshemmend. Phytosterole in Lindenblättern senken den Blutzuckerspiegel und verbessern die Insulinempfindlichkeit. Auch die Kaffeesäure in Lindensamen wirkt blutzuckerregulierend. 

 

Lindenknospen

Auch mit Lindenknospen kann man auf schmackhafte Weise etwas für seine Gesundheit tun. Man kann sie in Smoothies, im Salat oder im Müsli genießen und auch gut trocknen. Ihr Geschmack ist süßlich-nussig und etwas erdig. In Lindenknospen finden sich Schleimstoffe, ätherische Öle, Anthocyane, Gerbstoffe, Bitterstoffe, Saponine, Vitamine wie Beta-Carotin, Phenolsäuren und Enzyme. Die Knospen der Linde wirken antibakteriell, wundheilend, kräftigend und entgiftend auf den menschlichen Körper. Die Phytohormone helfen Frauen in den Wechseljahren und regulierend bei Stress. Polyphenole entgiften den Organismus. Ätherische Öle wie Terpene wirken antimikrobiell und antientzündlich.  Bitterstoffe in den Knospen entgiften die Leber und optimieren den Stoffwechsel. Harze und Cumarine wirken blutverdünnend. Cumarine helfen außerdem bei Gelenkbeschwerden. Aminosäuren sorgen für gesunden Muskel- und Zellaufbau. Bisher wurden 44 Phenole in den Lindenknospen entdeckt, die vor allem antioxidativ wirken. 

In der Gemmo- oder Knospentherapie spielt ein Auszug aus Silberlindenknospen eine wichtige Rolle. Ein Mundspray mit einem Silberlindenknospen-Auszug wirkt regenerierend, regt Stoffwechselprozesse an, wirkt stimmungsaufhellend und verjüngend. Schon Paracelsus und Hildegard von Bingen beschrieben die heilsame Wirkung von Baumknospen wie zum Beispiel das Apfelknospenöl bei Migräne. Gemmomittel lassen sich auch selbst herstellen, ein Rezept dafür finden Sie in meinem Buch. Das Gemmomazerat aus Sommerlinden- oder Winterlindenknospen wirkt anregend, entgiftend, beruhigend aufs Nervensystem, es entsäuert und entgiftet das Gewebe und wirkt außerdem entzündungshemmend, fiebersenkend und schlaffördernd. Lindenknospen erhöhen die Stresstoleranz oder Resilienz und wirken günstig bei ADS oder Hyperaktivität. Lindenknospen sind wahre Seelentröster und helfen bei Sorgen, Trauer und Melancholie. 

Auch Lindenholz, Lindenholzkohle, Lindenrinde und Lindenbast haben heilkräftigende Wirkungen. Das Taraxerol in Lindenrinde wirkt entzündungshemmend, antivital, krebsvorbeugend und gegen pathogene Pilze. Das Vanillin in Lindenrinden hat eine neuroprotektive und stimmungsaufhellende Wirkung. Daher wurde und wird Lindenrinde zur Linderung von Angstzuständen, Nervosität und Schlafproblemen eingesetzt. Sie hilft außerdem, Stress abzubauen. Lindenbast beschleunigt, äußerlich angewendet, die Heilung von Brandwunden und Geschwüren. 

Alle die genannten Wirkungen wurden durch die moderne Wissenschaft durch zahlreiche Studien bestätigt. Die Linde gehört zu den am besten erforschten Bäumen, was die Heilkraft verschiedener Pflanzenteile betrifft. So wirken hauptsächlich Blüten, Blätter und Knospen gegen Ängste und Depressionen, sie reduzieren die Symptome von Schlaganfall, sie wirken stark antioxidativ, wirken Entzündungen entgegen, sind eine Hilfe bei Diabetes als begleitende Therapie und Prophylaxe, sie beugen Krebs vor, und schützen vor einem zu hohen Blutdruck. Die Linde hilft nachweislich bei Schmerzen, Übersäuerung, Verbrennungen, Verdauungsproblemen und Hautproblemen. 

Die Linde ist züchterisch nicht bearbeitet und daher besonders vitalstoffreich und heilkräftig. In meinen Augen war es überfällig, dass sie im Jahr 2025 zur Heilpflanze des Jahres gekürt wurde aufgrund der Vielseitigkeit ihrer gesundheitlichen Vorzüge. Alle Pflanzenteile sind essbar, gekocht oder roh. „Go wild“, gehen Sie raus, bedienen Sie sich am reich gedeckten Tisch von Mutter Natur, und integrieren Sie Wildpflanzen wie die Linde in Ihre Küche, Ihre Naturkosmetik und Ihre Hausapotheke. Das Beste gibt es umsonst, das zeigt mir die Linde, Kraftspender und Herzensbaum.

 

Rezepte

 

Knospen-Salat

Lindenknospen schmecken lecker nussig, entfernt nach Walnüssen, und etwas süßlich. Sie können sie ab Januar ernten. Pflücken Sie 12 Knospen und streuen Sie in den Salat, übers Müsli oder über Süßspeisen. Sie passen gut zu Vollkornpasta mit Olivenöl. Sie können Lindenknospen auch bei Rohkosttemperatur trocknen und sich einen Vorrat dieser kleinen aromatischen Powerpakete zulegen. 

Blätter-Brot

Getoastetes Dinkelbrot mit Pflanzenbutter oder Ziegen-Frischkäse bestreichen und als frisches Topping grüne Lindenblättchen drauflegen. Lecker!   

Blätter-Smoothie 

3 Handvoll weiche hellgrüne Lindenblätter zusammen mit Wasser, 1 Banane (alternativ ½ reife Birne), Zitronenmelisseblättern und 5 Datteln im Mixer homogenisieren. Wer es süßer mag, süßt mit Agavendicksaft oder Ahornsirup nach. 

Blätter-Tee

1 Handvoll frischer Blätter oder 1 Esslöffel getrocknete Blätter mit ¼ Liter kochendem Wasser übergießen, 5-10 Minuten zugedeckt ziehen lassen und dann abseihen. Nach Bedarf mit Lindenblütenhonig oder Ahornsirup süßen. 

Blüten-Einschlafhilfe 

Abends einige Tropfen ätherisches Lindenblütenöl – Apotheke, Reformhaus oder Internet – aufs Kopfkissen träufeln. 

Blüten-Limonade

Legen Sie Lindenblüten und Zitronenscheiben von 1 Bio-Zitrone über Nacht in Mineralwasser ein. Am nächsten Tag seihen Sie die Limonade ab und süßen alles mit etwas Lindenblütenhonig oder Ahornsirup.  

 

Barbara Simonsohn

 

„Die Linde“

 

Mankau Vlg., 159 S., 12 €

 

Siehe auch unter „Wortwelten“, S. 57.

 

 

 


Mentale Gesundheit in Verbindung mit der Natur

Achtsames Leben Magazin
© Waldbaden Akademie

Autorin: Jasmin Schlimm-Thierjung

Mentale Gesundheit im ökologischen Kontext betrachtet die enge Wechselwirkung zwischen psychischem Wohlbefinden und Umweltfaktoren. Sie basiert auf der Erkenntnis, dass die natürliche Umgebung, ökologische Veränderungen und nachhaltige Lebensweisen einen erheblichen Einfluss auf unsere psychische Gesundheit haben.

 

Die Bedeutung der Natur für psychisches Wohlbefinden

Mentale Gesundheit und Umweltfaktoren stehen in enger Wechselwirkung. Die Natur bietet Erholung, stärkt die Resilienz und fördert die Selbstwirksamkeit. Studien zeigen, dass der Aufenthalt im Grünen das Stressniveau senkt, die Konzentrationsfähigkeit verbessert und das allgemeine Wohlbefinden steigert. Doch wie genau kann die Natur gezielt zur Unterstützung mentaler Ressourcen genutzt werden?

Die Attention Restoration Theory (ART) erklärt diesen Effekt: Natürliche Umgebungen lenken unsere Aufmerksamkeit sanft und ermöglichen so mentale Regeneration. Anders als in Städten, wo zahlreiche Reize unsere kognitiven Ressourcen beanspruchen, bieten natürliche Umgebungen eine entspannende Atmosphäre, die das Gehirn entlastet.

Zusätzlich wirkt sich das Sonnenlicht positiv auf den Hormonhaushalt aus. Tageslicht fördert die Produktion von Serotonin, einem Botenstoff, der die Stimmung hebt und depressive Verstimmungen lindern kann. Gleichzeitig hilft der natürliche Tag-Nacht-Rhythmus, den Schlaf-Wach-Zyklus zu regulieren und Schlafprobleme zu reduzieren. Zahlreiche Untersuchungen belegen, dass Menschen, die regelmäßig Zeit im Freien verbringen, eine gesteigerte Lebenszufriedenheit aufweisen. Insbesondere lange Aufenthalte in natürlichen Umgebungen helfen, chronischen Stress zu reduzieren und das allgemeine Wohlbefinden nachhaltig zu verbessern.

 

Resilienz durch Naturerfahrungen stärken

Resilienz bezeichnet die Fähigkeit, mit Herausforderungen umzugehen. Die Natur hilft, diese innere Widerstandskraft zu stärken:

  • Bewegung in der Natur: Wandern, Spazieren oder Radfahren setzen stimmungsaufhellende Endorphine frei und fördern die körperliche Gesundheit.
  • Sinneswahrnehmung aktivieren: Naturgeräusche, Düfte und Berührungen wirken beruhigend und helfen dabei, Stress abzubauen.
  • Selbstwirksamkeit erleben: Herausforderungen in der Natur, wie das Besteigen eines Berges, fördern das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten.

Durch regelmäßige Naturaufenthalte kann das Nervensystem lernen, sich schneller zu regulieren. Studien zeigen, dass Menschen, die viel Zeit in der Natur verbringen, eine höhere Stressresistenz und eine bessere emotionale Balance entwickeln.

Ein weiteres Konzept, das in diesem Zusammenhang an Bedeutung gewinnt, ist die sogenannte "Biophilie". Der Biophilia-Effekt beschreibt die natürliche Affinität des Menschen zur Natur und erklärt, warum sich Menschen in natürlichen Umgebungen wohler fühlen als in künstlichen. Diese tief verwurzelte Verbindung zeigt sich darin, dass schon der Anblick von Naturbildern eine beruhigende Wirkung haben kann.

 

Selbstwirksamkeit durch Naturverbindung erfahren

Selbstwirksamkeit beschreibt das Vertrauen in die eigene Handlungsfähigkeit. Naturtherapie unterstützt diese Kompetenz:

  • Eigenständige Entscheidungen treffen: Beim Wandern oder Klettern lernt man, sich auf sich selbst zu verlassen und eigene Lösungsstrategien zu entwickeln.
  • Herausforderungen bewältigen: Hindernisse zu überwinden, stärkt das Selbstvertrauen und reduziert Ängste.
  • Achtsamkeit & Reflexion: Naturerfahrungen fördern die Selbstwahrnehmung und emotionale Balance.
  • Wiederholte Erfolgserlebnisse: Positive Naturerlebnisse festigen das Vertrauen in die eigene Wirksamkeit.

In der Natur gibt es keine vorgegebenen Abläufe oder Anforderungen, was Raum für kreative Problemlösungen und eigenständige Entscheidungen schafft. Diese Erlebnisse tragen dazu bei, sich kompetenter und handlungsfähiger zu fühlen.

 

Natur als therapeutischer Raum

Aus therapeutischer Sicht bedeutet es, die Natur nicht nur als angenehme Kulisse zu betrachten, sondern als aktiven Mitgestalter im Heilungsprozess. Der Begriff therapeutischer Raum beschreibt dabei ein Umfeld, das heilsame Erfahrungen ermöglicht – sei es durch Ruhe, Anregung, Reflexion oder soziale Interaktion. Die Natur bietet all diese Elemente in besonders wirksamer Form. Die Natur ist mehr als eine Kulisse – sie ist ein aktiver Heilraum:

  • Stressreduktion: Studien zeigen, dass Aufenthalte im Wald den Cortisolspiegel senken und das Immunsystem stärken. Selbst kurze Aufenthalte von 20 Minuten können messbare Verbesserungen bringen.
  • Soziale Aspekte: Gruppenaktivitäten im Grünen fördern Gemeinschaftsgefühl und Austausch. Das gemeinsame Erleben von Natur stärkt soziale Bindungen und kann Isolation entgegenwirken.
  • Integration in den Alltag: Regelmäßige Naturaufenthalte verbessern langfristig das Wohlbefinden. Schon ein täglicher Spaziergang im Park kann sich positiv auf die Psyche auswirken.

Naturbasierte Therapieformen wie Waldbaden (Shinrin Yoku) oder Outdoor-Coaching nutzen gezielt die positiven Effekte der Natur für mentales Wohlbefinden. Diese Methoden helfen Menschen, bewusster zu leben und sich mit ihrer Umgebung zu verbinden.

 

Nachhaltigkeit in der Naturtherapie

Eine umweltfreundliche Gestaltung von Naturtherapien ist essenziell:

  • Schonende Methoden: Achtsamkeitsübungen und meditative Spaziergänge hinterlassen keine Spuren und erhalten die Natur.
  • Nachhaltige Materialien: Wiederverwendbare Ressourcen minimieren die Umweltbelastung. Beispielsweise werden Naturmaterialien in therapeutischen Prozessen genutzt, ohne die Umwelt zu schädigen.
  • Regionale Naturorte: Die Nutzung lokaler Gebiete reduziert den CO₂-Ausstoß und macht die Naturtherapie für viele Menschen zugänglich.
  • Bewusstseinsförderung: Naturerfahrungen stärken das Umweltbewusstsein der Teilnehmer und fördern nachhaltiges Verhalten im Alltag.

Nachhaltigkeit bedeutet nicht nur, die Natur zu schonen, sondern auch langfristige gesundheitsfördernde Strukturen zu schaffen. Naturtherapie trägt nicht nur zur mentalen Gesundheit bei, sondern fördert auch den nachhaltigen Umgang mit der Umwelt.

Die Natur ist eine wertvolle Ressource für unser Wohlbefinden. Sie bietet nicht nur einen Raum für Erholung, sondern stärkt gezielt mentale Fähigkeiten wie Resilienz und Selbstwirksamkeit. Gleichzeitig lehrt sie uns Achtsamkeit und Verantwortung gegenüber unserer Umwelt. Durch wissenschaftlich fundierte und ethisch ausgerichtete Ansätze schafft die Naturtherapie langfristige Vorteile – sowohl für den Menschen als auch für die Natur.

www.waldbaden-akademie.com


April - August 2025


Power-Küchenkräuter, und was sie uns für einen gesundheitlichen Benefit schenken

© Mouse23 – pixabay.com
© Mouse23 – pixabay.com

Autorin: Barbara Simonsohn

Unsere Vorfahren betrachteten Küchenkräuter nicht als leckere Gewürze, sondern als Mittel, uns gesund zu machen und zu erhalten, den „inneren Arzt“ (Paracelsus) zu stärken. Dieses Wissen ist größtenteils verlorengegangen. Schon im alten Griechenland und Rom galten Kräuter wie Rosmarin oder Salbei als Mittel, Krankheiten vorzubeugen und sogar zu heilen. Die moderne Wissenschaft hat jetzt die Heilwirkungen von Küchenkräutern durch zahlreiche Studien bestätigt. „Gegen jede Krankheit ist ein Kraut gewachsen“, stellte der Naturkundler Sebastian Kneipp im 19. Jahrhundert fest. Viele Küchenkräuter sind wahre Tausendsassas, was ihr Wirkspektrum betrifft. (…) Sie sind ursprüngliche Pflanzen, kaum züchterisch bearbeitet. Sie enthalten nach Fritz-Albert Popp und Marco Bischof besonders wertvolle Lichtinformationen und damit positive Botschaften für Leib und Seele. Daher schenken sie uns neben Gesundheit auch Ordnungskraft, Vitalität und Lebensfreude. Was könnte uns in der heutigen Zeit mehr zugutekommen?

Küchenkräuter lassen sich als Tee zubereiten, die häufigste Anwendungsform, aber auch in Teil- und Vollbäder, zum Inhalieren, als Salben und Cremes, als Wickel und Umschläge, als Tinkturen, in Essig eingelegt oder als ätherisches Öl. Alle erwähnten Anwendungen lassen sich selbst zubereiten bis auf ätherisches Öl: das Verfahren zur Gewinnung von Destillaten ist zu aufwändig. Man kann sie in Bio-Qualität in Bioläden, Reformhäusern und Apotheken bekommen und sollte dabei auf den richtigen lateinischen Namen achten. 

 

Bärlauch, der Knoblauch der Germanen 

Bärlauch Allium ursinum wächst bei uns wild, erfreut sich aber auch in Biogärten zunehmender Beliebtheit. Er ist wesentlich heilkräftiger als Knoblauch, ursprünglich aus China kommend. Die Wildform des Knoblauch ging verloren. Bärlauch gehört zu den ältesten und meist verwendeten Arznei-, Gewürz- und Gemüsepflanzen Europas. Die Germanen begrüßten sich mit „Leinen und Lauch“, „linar, laukar“ für Glück und Segen, weil sie Verletzungen mit Bärlauch heilten, den sie in Leinentücher wickelten. Einmal angepflanzt, verbreitet sich Bärlauch von allein. Die Pflanze ist ausdauernd und wird bis zu 50 Zentimeter hoch. 

Wertvoll sind die Schwefelverbindungen in Bärlauch, 7,8 Gramm pro 100 Gramm Trockensubstanz im Gegensatz zu 1,7 Gramm in Knoblauch. Sulfensäuren kondensieren zu Thiosulfinaten, hochpotenten Anti-Pilz-Mitteln und Phytobiotika. Durch die Aktivierung von Entgiftungsenzymen wird die krebsfördernde Wirkung von Schimmelpilzen deaktiviert und Tumorwachstum ausgebremst. Die schwefelhaltigen Stoffe wirken tumorwachstumhemmend für Dickdarm, Speiseröhre, Magen und Lunge und entgiften die Leber. Theosulfinate verhindern die Oxidation von LDL im Blut und in den Arterien und beugen damit Arteriosklerose vor. Bärlauch enthält Adenosin, was das Herz schützt, einen zu hohen Blutdruck und zu hohe Blutfettwerte senkt.  Bärlauch entgiftet Schwermetalle und weitere Schadstoffe. Außerdem wirkt Bärlauch entzündungshemmend. (…)

 

Lavendel, Heilkraut für innere Ruhe und noch viel mehr    

Lavendel oder lateinisch Lavendula angustifolia wurde schon von den alten Ägyptern als Heilmittel und als Parfum genutzt. Seine eigentliche Karriere als Heilpflanze begann für den Lavendel mit der Klostermedizin als schmerzstillendes Mittel, als Kraut gegen Blähungen und bei schmerzhaften Monatsblutungen. Hildegard von Bingen hielt große Stücke auf Lavendel, auch, um böse Geister zu vertreiben. Der Lavendelstrauch wird bis zu 1 Meter hoch. Die blau-lila Blüten verströmen einen betörenden Duft. Der Hauptwirkstoff des Lavendelöls aus Blüten sind ätherischen Öle mit dem Hauptwirkstoff Linalylacetat. Lavendelöl hat antidepressive, angstlösende, entkrampfende und antiseptische Eigenschaften. 

Lavendelöl als Präparat namens Silexan erwies sich bei Angststörungen als genauso effektiv wie die angstlösenden Mittel Paroxetin, Pregabalin und Diazepam, wie eine randomisierte, doppelverblindete Studie der Universität Würzburg aus dem Jahr 2014 ergab. Gleichzeitig verbesserten sich Begleitsymptome wie depressive Verstimmungen. Das Lavendelölpräparat Silexan erwies sich ebenfalls wirksam bei Schlafstörungen. Die Schlafqualität verbesserte sich signifikant. Studien belegen, dass Lavendel die Wundheilung fördert zum Beispiel bei Frauen, die einen Dammschnitt hatten, und die Gefahr von Entzündungen verringert. 2019 belegte eine Studie die neuroprotektive Wirkung von Lavendel. Polyphenole in Lavendel schützen das Gehirn vor dem Angriff freier Radikaler und hemmen Entzündungsprozesse im Gehirn. Ich empfehle für einen gesunden Schlaf, ein paar Tropfen ätherisches Lavendelöl aufs Kopfkissen zu träufeln.

 

Oregano: als Heilkraut unterschätzt

Oregano, auch Dost oder Wilder Majoran genannt, ist viel mehr als ein Pizzakraut. Oreganum vulgare  kommt bei uns häufig wild vor. Der Lippenblütler wächst bis zu 50 Zentimeter hoch. Oregano sollte man ernten, wenn er blüht, dann enthält er die meisten Wirkstoffe. Im Gegensatz zu anderen Küchenkräutern wird Oregano mitgekocht. 

Die Polyphenole in Oregano wirken antioxidativ und dienen zur Diabetesprophylaxe, sie wirken antiviral, krebsvorbeugend und antientzündlich. Die Gerbstoffe der Pflanze haben eine zusammenziehende Wirkung auf Haut und Schleimhäute und verhindern damit ein Eindringen von Bakterien und Giftstoffen. Innerlich und äußerlich wirkt Oregano antimykotisch gegen pathogene Pilze wie dem Genital- und Darmpilz Candida albicans sowie Fußpilz. Rosmarinsäure und weitere Polyphenole begünstigen ein Selbstmordprogramm von Krebszellen, Apoptose genannt und wirken selektiv, das heißt nicht auf gesunde Zellen. Oregano-Extrakte erwiesen sich außerdem als wirksam gegen pathogene Bakterien, und zwar auch gegen die gefürchteten MRSA-Krankenhauskeime. Der echte Majoran ist eine hervorragende Insektenweide. Weil er zahlreiche Schmetterlinge wie Bläulinge, Schwalbenschanz, Purpurbär und Schachbrettfalter anlockt, wird Oregano auch als „Mini-Schmetterlingsbaum“ bezeichnet.

 

Salbei, Arzneipflanze und Tausendsassa

Der Salbei oder Salvia officinalis, „Arzneipflanze des Jahres 2023“, (…) polyphenolreichste Pflanze Europas, wurde von den alten Ägyptern in Stein verewigt. Der mittelalterliche Gelehrte Albertus Magnus nannte Salbei „Ambrosia der Götter“. Im 17. Jahrhundert galt die Pflanze als „herba sacra“, heiliges Kraut, und Allheilmittel. Salbei wurde bei Schlangenbissen, Epilepsie, Diabetes, Herzleiden, Grippe, Depressionen, Rheuma, zur Wundheilung und als Lungenheilmittel verwendet. Der pflegeleichte Lippenblütler ist frosthart. Die Blüten sind eine Augen- und Insektenweide.

Mehr als 1000 Studien belegen die Heilwirkungen von Salbei. Extrakte wirken zelltoxisch selektiv auf Krebszellen. Die Metastasierung von Krebszellen wird unterbunden. Salbei vermindert die Symptome von Alzheimer-Patienten wie Unruhe. Salbeiextrakte wirken antientzündlich und stärken das Immunsystem, indem die richtige Immunantwort gefördert wird. Salbeizahnpasta wirkt gegen Karies erzeugende Bakterien und macht die Zähne weiß. Auch gegen jede Art von Viren ist Salbei wirksam, und gegen pathogene Pilze. In den Wechseljahren gleicht Salbei den Hormonspiegel aus und bremst eine übermäßige Schweißbildung.   

 

Thymian befreit die Lunge - und auch die Seele

Schon die Alten Ägypter nutzten Thymian Thymus vulgaris wegen seiner keimtötenden Wirkung zur Einbalsamierung. Die Ärzte der Antike wie Plinius der Ältere, Hippokrates und Dioskurides setzten Thymian bei Atemwegserkrankungen ein, bei Asthma, Ödemen, Krämpfen und Menstruationsbeschwerden. Hildegard von Bingen und Albertus Magnus schätzten die Pflanze und machten sie bekannt. Der Lippenblütler stellt eine hervorragende Bienen- und Insektenweide dar. 

Thymian ist ähnlich wie Oregano eine Art Wunderwaffe gegen antibiotikaresistente Bakterienstämme wie MRSA, dem gefürchteten Krankenhauskeim. Thymusöl ist wirksam bei vierzehn MRSA-Keimen. Es reduziert die Zahl der Erreger signifikant und minimiert die Gefahr einer Resistenzentwicklung. Außerdem wirkt Thymian krampflösend und schmerzlindernd zum Beispiel bei Bronchitis. Ätherisches Thymianöl wirkt vorbeugend gegen Durchfallerkrankungen. Thymian wirkt gegen Darmkrebs- und Brustkrebszellen, senkt den Glukosespiegel im Blut und senkt einen zu hohen Blutdruck. Bei Menstruationsschmerzen hilft Thymian als verdünntes ätherisches Öl – Rezeptur in meinem Buch - besser als Ibuprofen, und ganz ohne Nebenwirkungen. Meine Tochter macht während menstruationsbedingt bedingter Krämpfe sehr gute Erfahrungen mit einem starken Thymiantee. Auch bei leichten Depressionen ist Thymian wirksam.

In den Blue Zones von Sardinien, in denen besonders viele gesunde Hundertjährige leben, ist ein Tee aus Oregano Nationalgetränk, neben weiteren Kräuter-Stars wie Lavendel, Rosmarin und Salbei. Mein Vorschlag: werden Sie zu Ihrer eigenen „Blue Zone“. Betreiben Sie Gesundheitsvorsorge auf täglicher Basis mit Küchenkräutern und Wildpflanzen. Leben Sie glücklich im Einklang mit Mutter Natur. Treffen wir uns wieder im Club der fitten Hundertjährigen?


Barbara Simonsohn


„Heilsame Küchenkräuter. 10 Kräuter für Körper und Seele“ 


159 S., Mankau Verlag, 12 €


Siehe auch unter „Wortwelten“, S. 55.

 


Der Vagusnerv – eine Einführung

© Mike_68 – pixabay.com
© Mike_68 – pixabay.com

Autorin: Jessica Maguire

Beim biopsychosozialen Ansatz geht es nicht darum, das, was in unserem Körper abläuft, zu »hacken« oder zu umgehen: Wir müssen lernen, uns darauf einzustimmen, was in unserem Gehirn-Körper-System passiert, und uns mithilfe dieser Informationen aktiv um unsere emotionale Verfassung und unsere Physiologie kümmern. Das kann etwas ganz Einfaches sein – zum Beispiel, zu merken, dass wir Durst haben, und dann ein Glas Wasser zu trinken, oder zu erkennen, dass unsere Arbeitssituation uns in einen Zustand ständiger Angst versetzt, und uns ehrlich einzugestehen, dass sich daran etwas ändern muss. Dadurch können wir echte Regulation erreichen und unsere Lebensqualität, unseren Gesundheitszustand, unser emotionales Wohlbefinden und unsere zwischenmenschlichen Beziehungen verbessern.

Und wie können wir alle drei Bereiche des biopsychosozialen Modells – unsere Biologie, Psychologie und sozialen Interaktionen – in die Behandlung von Erkrankungen und Beschwerden einfließen lassen? Durch eine großartige Struktur namens Vagusnerv. Das ist ein extrem wichtiger Nerv, der das Gehirn über Nacken, Brust, Herz und Lunge bis hin zum Darm mit den wichtigsten Körpersystemen verbindet. (…) Hinter vielen chronischen Gesundheitsproblemen – von Angstzuständen, Depressionen und Burn-out bis hin zu Reizdarmsyndrom, Autoimmunerkrankungen und chronischen Schmerzen – kann ein dysreguliertes Nervensystem stecken.

Den Vagusnerv zu beeinflussen, ist eine Fähigkeit, die sich erlernen lässt. Obwohl es dabei nicht um das Training eines Muskels, sondern das eines Nervs geht, bezeichnet man dieses Verfahren als »Erhöhung des Vagotonus«. Genauso wie wir unsere Muskeln durch Training und andere körperliche Aktivitäten stärken können, können wir auch die Funktion unseres Vagusnervs verbessern, indem wir unseren Vagotonus stärken. Das ist eine wichtige Voraussetzung für ein Reset unseres Nervensystems, denn unser Vagusnerv hilft uns, uns zu regulieren. Er ist der wichtigste Bestandteil unseres Nervensystems, der unser Tempo entweder beschleunigt oder verlangsamt. Das wiederum verbessert unseren Gesundheitszustand und versetzt uns in eine ruhigere, ausgeglichenere seelische Verfassung. Zu sagen, dass der Vagusnerv für uns eine enorm wichtige Rolle spielt, wäre noch untertrieben; deshalb werden wir in Teil 1 dieses Buches genauer auf die vielen verschiedenen Funktionen dieses Nervs eingehen. Vorläufig reicht es für dich jedoch zu wissen, dass er ein Tor zu emotionalem, seelischem und körperlichem Wohlbefinden ist.

Ich plädiere nicht dafür, das biomedizinische Modell über Bord zu werfen – ganz im Gegenteil. Ich halte es nach wie vor für wichtig, dass medizinische Experten und Expertinnen zunächst organische Probleme oder Erkrankungen ausschließen, bevor sie ein Ungleichgewicht des Nervensystems diagnostizieren. 

Doch genauso wichtig ist es anzuerkennen, dass viele Beschwerden, für die es »keine medizinische Erklärung gibt«, auf eine stressbedingte Störung zurückzuführen sein könnten. Viel zu lange wurde die körperliche Manifestation seelischer Schmerzen und Traumata als unwichtig abgetan. Noch bis vor einiger Zeit hatten wir einfach nicht die richtigen Mittel, um genau zu verstehen, wie die Datenautobahn des Vagusnervs mehr oder weniger alles beeinflusst, was wir tun – einschließlich unserer Fähigkeit, ein angenehmes, kontaktfreudiges Leben zu führen. Inzwischen sind wir in dieser Hinsicht zum Glück schon ein bisschen weiter.

 

Ein Weg zu Gesundheit und Balance

Ich stelle immer wieder fest, dass ein besseres Verständnis unserer Biologie – vor allem des Vagusnervs – uns dabei hilft, unsere Gefühle aus einer anderen Perspektive zu betrachten. Wenn es uns gelingt, diese wissenschaftlich fundiertere Perspektive in unser Leben einfließen zu lassen, können wir uns von den emotionalen Höhen und Tiefen befreien, die wir durchmachen, wenn wir in den Extremen unseres inneren Thermostats, den heißen oder kalten Zuständen, feststecken. Dann müssen wir keine Phasen in unserem Leben mehr ertragen, in denen wir uns überdreht oder gestresst fühlen und einfach nicht abschalten können. Und wir müssen auch keine Angst mehr davor haben, in einen Zustand der Apathie zu verfallen und wochen- oder gar monatelang antriebs- oder hoffnungslos vor uns hin zu vegetieren. Durch einen besseren Vagotonus werden wir resilienter und flexibler. Wir können mit den Strömungen des Lebens mitfließen, ohne ins Stocken zu geraten. Und auch unsere Selbstgespräche verändern sich – dann fragen wir uns nicht mehr: Was ist nur mit mir los? und Warum werde ich mit dieser Situation nicht fertig?, sondern sagen: Das ist zwar schwierig, aber ich werde es schon hinkriegen. Ich schaffe das.

Vielleicht bist du zurzeit noch nicht richtig auf die Signale deines Körpers eingestimmt; doch mit mehr Wissen und den richtigen Hilfsmitteln wird es dir mit der Zeit gelingen, sie richtig zu interpretieren. Dein Körper will genau das Gleiche wie du: Gesundheit, Sicherheit, Balance und Stabilität. In diesem Buch werde ich dir beibringen, die Sprache deines Körpers zu lernen, damit du mit ihm kommunizieren und eine Partnerschaft aufbauen kannst, von der du auf vielen verschiedenen Ebenen profitierst. Diese wechselseitige Kommunikation ist die Basis für jede erfolgreiche Arbeit am Nervensystem. Wir können dadurch unsere körperliche und geistige Gesundheit erheblich verbessern, Stress abbauen und unser allgemeines Wohlbefinden steigern. Ich habe diesen tiefgreifenden Prozess nicht nur bei anderen Menschen immer wieder beobachtet, sondern auch bei mir selbst erlebt.(…)

Viele Menschen leiden unter körperlichen und psychischen Erkrankungen, ohne dass sich eine eindeutige Ursache dafür finden ließe. Und gerade das ist paradoxerweise ein Zeichen dafür, dass unser Körper genau das tut, wofür er geschaffen wurde: Irgendetwas stimmt mit uns nicht, und darauf macht er uns aufmerksam. Vielleicht glaubst du, dass unser Umfeld der Faktor ist, bei dem wir als Erstes nach der Ursache für unsere Dysregulation suchen sollten, doch oft stimmt das nicht. Bei mir lag die Ursache jedenfalls woanders, und bei vielen meiner Patientinnen und Patienten auch. 

Jedes Mal, wenn wir im Job ein weiteres Projekt übernehmen, obwohl wir sowieso schon überlastet sind und immer wieder unter Spannungskopfschmerzen leiden, stellen wir wahrscheinlich fest, dass wir damit über unsere natürlichen Grenzen hinausgehen und uns das an den Rand der Erschöpfung oder sogar des psychischen Zusammenbruchs bringt. So sind wir gezwungen, uns mit unseren Problemen auseinanderzusetzen. Doch statt zu erkennen, dass der ständige Druck am Arbeitsplatz ihre Gesundheit beeinflusst, sehen viele Menschen die Schuld eher bei sich selbst und sagen sich: Ich komme damit nicht so gut zurecht, wie ich sollte – oder den Klassiker: Das sollte ich doch eigentlich schaffen.

Gefühle wie Angst, Scham, Wut, Stress oder ein innerer Shutdown (Abschaltung) sind Frühwarnsignale – sie sind die Alarmglocken, die uns darauf aufmerksam machen, dass wir an unsere neurobiologischen Grenzen stoßen. Doch wenn wir die Sprache dieser Botschaften nicht beherrschen, verstehen wir nicht, was sie uns sagen wollen. Wir wissen nur, dass diese Gefühle uns unangenehm sind, also versuchen wir, sie so schnell wie möglich zu unterdrücken. Und je länger wir die Botschaften unseres Körpers ignorieren, umso schwieriger wird es für uns, sie zu hören. Doch auf sie zu hören und unsere Gemütszustände mithilfe dieser Informationen aktiv zu steuern, ist der erste Schritt auf unserem Weg zurück in einen regulierten Zustand.

Die Lösung besteht darin, zu lernen, wie man den inneren Thermostat, der durch chronischen, traumatischen Stress auf »zu kalt« oder »zu heiß« eingestellt wurde, wieder repariert und die Temperatur so reguliert, dass man angenehm darin leben kann. (…) Im Gegensatz zu anderen Maßnahmen zur Stress- und Traumabewältigung ist die Arbeit mit deinem Nervensystem eine Praxis, die du überall und jederzeit anwenden und immer weiter vervollkommnen kannst. (…) Wenn wir eine engere Beziehung zu unserem Körper aufbauen und uns erlauben, einfach mit dem Auf und Ab des Lebens mitzufließen, werden die Herausforderungen, denen wir uns stellen müssen, leichter zu bewältigen, und wir werden resilienter. Unsere Aufgabe besteht darin, unsere inneren Narrative zu verstehen – vor allem, wenn es darin um Traumata aus der Vergangenheit geht – und mithilfe der richtigen Werkzeuge darauf zu reagieren.(…)

 

Jessica Maguire

 

„Das Vagusnerv-Reset-Programm“

 

416 S., Arkana Verlag, 20 €

 

Siehe auch unter „Wortwelten“ S. 57.

 

Textveröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Arkana Verlages.

 


Dezember 2024 - April 2025


Unser empfindsamer Körper

Foto: © guvo59 – pixabay.com
Foto: © guvo59 – pixabay.com

Autorin: Katrin Jonas 

 

Wenn wir unseren Körper ins Verhältnis zur Dimension und Kraft unseres Lebensraums, der Natur oder sogar des ganzen Kosmos setzen, muss er uns wie eine Miniatur vorkommen. Und vor allem wird uns seine Zartheit bewusst. Der sensible Stoff, aus dem er gemacht ist, seine dünne Haut, seine weichen Organe, die tofuähnliche Hirnmasse und sein fühlendes Herz sind Ausdruck seiner Fragilität. Da er im Laufe der Evolution sogar sein beschützendes Fell abgelegt hat, ist er seiner Umgebung ausgelieferter, als es der Körper eines Lebewesens jemals zuvor war.

Darüber hinaus ist auch die menschliche Motorik begrenzt. Wir können nicht wie die Vögel davonfliegen oder wie die Wale, Delphine und Reptilien einfach abtauchen. Und mit unserer Fähigkeit zur Selbstverteidigung sieht es auch nicht rosiger aus. Wir haben keine scharfen Krallen, weder gefährliche Reißzähne noch Gift speiende Drüsen, die unsere Unversehrtheit sichern.

Wie es sich in der Evolution auch immer zugetragen hat: Der menschliche Organismus ist der feinste, der je geboren wurde. Und das bringt mit sich, dass er verwundbar ist und Schutz braucht.

 

Innerer und äußerer Selbstschutz:

Die Roadmap zu einem organischen Körperverständnis 

Es ist kein Zufall, dass die Natur unseren Organismus mit so viel Zartheit ausgestattet hat. Das hängt damit zusammen, dass der Homo Sapiens in der Entwicklung ein paar Stufen auf einmal genommen hat und in ihm ein Bewusstsein wohnt. Dieses braucht offenbar eine durchlässigere Hülle als unsere dickfelligen Vorfahren, sodass es eingehüllt in die Schichten des Körpers wachsen und durch diese hindurchscheinen kann.

Doch damit unser Organismus dabei auch genug Schutz erfährt, ist der Natur ein Geniestreich geglückt: Sie hat in uns ein Sicherheitssystem installiert und die Funktionsweise des Zentralen Nervensystems so eingerichtet, dass es wie ein hochspezialisierter Bodyguard wirkt. Dieser filtert alle Gefahren im Außen heraus und entwirft daraufhin die exakt passende Sicherheitsstrategie. Die damit verbundenen Reaktionen, wie der Stress- oder der Traumareflex, bilden unseren somatischen Survivalguide und helfen uns, in Gefahren- und Stresssituationen bestmöglich behütet zu sein.

Doch so hilfreich diese Schutzreflexe in Stress- oder Gefahrensituationen für uns sind, so viele Probleme können sie bereiten, wenn sie bleiben. Wie Neuro- und Traumaforscher herausstellen, ziehen sie sich nämlich nicht immer automatisch zurück, wenn die Gefahr verebbt ist. Sie hinterlassen Spuren und führen zu Ungleichgewichten im Organismus, die nicht nur sein natürliches Funktionieren hemmen, sondern die Ursache von vielen gesundheitlichen und für unsere Zeit typischen Symptome sind. Also hat dieser gutgemeinte Selbstschutz auch eine Kehrseite. Und deshalb ist es wichtig, dass wir den Ist-Zustand unserer inneren Schutzmechanismen kennen und aktualisieren – und gleichzeitig unseren äußeren Selbstschutz im Blick behalten.

Wenn wir diese beiden Aspekte, den inneren und den äußeren Selbstschutz, verstehen und leben, übernehmen wir einen großen Teil der Bodyguard-Leistungen sogar selbst. Und das kommt unserer Gesundheit immens zugute:

  1. Indem wir erkennen, dass die Selbstschutzreflexe die Ursache zahlreicher gesundheitlicher Probleme sind, wird uns klar, warum sich viele von ihnen durch die Anwendung herkömmlicher Methoden nicht zurückziehen. Allein diese Erkenntnis kann eine Riesenüberraschung für Menschen mit Langzeitsymptomen sein.
  2. Indem wir erfahren, welche somatisch klugen Schritte wir gehen können, damit sich die Schutzreflexe zurückziehen, gehen wir mit unserer Selbstregulation Hand in Hand. Körperliche, emotionale und seelische Symptome dürfen heilen, und das versetzt uns einen Wohlfühlbooster ohnegleichen.
  3. Indem wir sehen, welche Lebensweise und persönlichen Prioritäten unseren Selbstschutz stärken, tragen wir dazu bei, dass sich keine neuen Schutzreflexe manifestieren. So können wir uns inmitten einer unkontrollierbaren Welt dennoch wohl und gut behütet fühlen.

In diesem Buch entblättere ich, welches somatische Wissen wir beim Umgang mit Stress- und Traumareflexen benötigen und woran wir uns dabei orientieren können. Gehen wir’s an!

 

Das innere Bodyguardsystem des Körpers und sein Wirken

Den inneren Selbstschutz als Survivalguide des Organismus verstehen

Wann immer ich mir die Dienstleistungen unseres inneren Selbstschutzsystems etwas genauer ansehe, beginne ich sofort, den menschlichen Körper zu bewundern. Mich erfasst eine Ehrfurcht davor, mit welcher Weisheit die Natur uns Menschen erschaffen hat.

Erstmalig kam ich mit dem Thema des inneren Selbstschutzes in den neunziger Jahren in Kontakt, als ich meine Ausbildung zur Feldenkraislehrerin absolvierte. Bis dahin hatte ich von Schutzreflexen, die sich in unserem Organismus einnisten können, noch nie etwas gehört, obwohl ich damals mein berufliches Zuhause bereits auf dem Gebiet der Körper-Mind-Intregration und des Körperbewusstseins gefunden hatte. Ich erfuhr, dass der Physiker Dr. Moshe Feldenkrais bereits Jahrzehnte zuvor auf solche Schutzmechanismen in seiner praktischen Arbeit mit der Feldenkraismethode eingegangen war. Danach verschlang ich die Bücher des kanadischen Arztes Dr. Thomas Hanna, der Begründer von Hanna Somatics, in denen er die Konsequenzen der Schutzreflexe für das neuromuskuläre System und die Sensomotorik beschrieb. Und ich werde die vielen Aha- Momente nicht vergessen, als ich dieses Verständnis sowohl in meinem eigenen Körper als auch später im Zuge meiner therapeutisch-coachenden Arbeit bei anderen Menschen wiederfand.

Gleichzeitig sah ich damals, dass dieses Wissen über die Selbstschutzmechanismen in der Medizin- und Therapielandschaft damals so gut wie keine Rolle spielte. Weil es sich nur bis in ein paar alternative Nischen vorgearbeitet hatte und somit Insiderwissen blieb, wurde es so vielen Menschen mit gesundheitlichen, emotionalen und seelischen Problemen vorenthalten. Diese steckten in Therapiekreisläufen fest, schluckten unnötigerweise Medikamente, unterzogen sich überflüssigen Operationen und verpassten so ihre Chance auf ein gesundes Leben. Der symptomorientierte Ansatz in Therapie und Heilung war so übermächtig, dass es in diesem keine Schlupfwinkel für die Beobachtungen der Somatiker und Body-Mind-Mediziner zu den Schutzmechanismen gab.

 

Die somatische Forschung und inneres Lernen

Doch glücklicherweise ist das Thema des Selbstschutzes in den letzten fünfundzwanzig Jahren nahezu revolutioniert worden. Immer wieder bahnten sich mutige, kluge Visionäre und Pioniere den Weg in die Öffentlichkeit, die durch ihre medizinische, heilende oder wissenschaftliche Arbeit neue Wege aufzeigten. Wissenschaftler, Hirnforscher, Mediziner und Fachautoren brachten das verborgene Wissen über das natürliche Funktionieren des menschlichen Organismus nachdrücklicher in die öffentliche Diskussion, so dass es immer mehr Menschen zugänglich wurde. Und weil das seit einigen Jahren auch die Neurowissenschaft mit bildgebenden Verfahren in Bezug auf die Beeinflussbarkeit der Hirnfunktionen unterstützt, verfügen wir heute über ein viel größeres Verständnis davon, wie unser Organismus sich in Stress- und Gefahrensituation organisiert und welche gesundheitlichen Konsequenzen das für uns hat. (…)

Mich fasziniert die Aussicht, dass wir Menschen mit unserer Innenwelt im Einklang leben können, wenn wir ihr nur mit einem Funken Bewusstsein begegnen. Und so begrüße ich alles, was den modernen Menschen sich selbst besser fühlen und verstehen lässt, ihm beim Bewältigen der täglichen Herausforderungen und im Umgang mit körperlichen Beschwerden und emotionalen Unstimmigkeiten hilft. In Sachen Selbstschutzreflexe möchte ich, dass so viele Menschen wie möglich ihren eigenen Organismus begreifen lernen, sich im Umgang mit ihm sicher fühlen und „somatisch selbstkompetent“ werden, wie ich gern sage.

Tatsächlich ist eine neue Ära angebrochen, eine, in der wir Menschen mit unserem Nervensystem, welches unseren Organismus instruiert, eine nie dagewesene Intimität erleben dürfen und den Zugang zu einem neuen Körperverständnis finden. Und genau das ist ja auch nötig! Wenn wir in dieser unruhigen, bebenden Welt seelisch und körperlich gesund bleiben wollen, muss unser Organismus in der Lage sein, ziemlich viele Herausforderungen zu meistern. Indem abertausende Impulse täglich auf ihn einstürmen, muss er diese ja auch verdauen und ausbalancieren können.

Darüber hinaus steht der Mensch wie auf unsicherem Boden, weil sich persönliche und gesellschaftliche Gefüge verschieben, als sicher Geglaubtes sich auflöst und Wertigkeiten neu definiert werden müssen. Und dabei nimmt der allgemeine Stressfaktor zu.

Deutlich wird: Wir haben uns tatsächlich um uns selbst zu kümmern, wenn wir heil sein und gesund bleiben wollen, und das schließt den Umgang mit dem Thema des inneren und äußeren Selbstschutzes ein. Weil die Beschäftigung mit dem Thema Selbstschutz dennoch für viele Menschen immer noch so etwas wie das Betreten von Neuland darstellt und der Bedarf nach real umsetzbaren Schritten und Maßnahmen groß ist, stelle ich hier meine beruflichen Erfahrungen aus über 25 Jahren somatischer Praxis zur Verfügung und wünsche mir, dass die Inhalte dieses Buches zu einer wertvollen Gesundheitsressource für so viele Menschen wie möglich werden.

 

Katrin Jonas

 

„Der innere Bodyguard“

 

176 S., Innenwelt Vlg., 20 €

 

Siehe auch unter „Wortwelten“ S. 56.

 

Textauszug mit freundlicher Genehmigung des Innenwelt Verlages.