Textauszug aus „Der Tod ist ganz ungefährlich“ von Wilfried Reuter
Krankheit gehört zum Leben
Der zweite Götterbote – Krankheit – verbindet sich manchmal mit dem Götterboten Alter, aber gelegentlich erscheint er schon in einem frühen oder sogar sehr frühen Lebensalter. In jedem Lebensalter gibt es Phasen, in denen du gesund bist. Auch als alter Mensch wirst du Zeiten erleben, in denen du dich in deiner Kraft fühlst, in denen du mit den Zipperlein, die vielleicht nicht mehr zu vermeiden sind, gut leben kannst. In den jungen Jahren deines Lebens wirst du diese Zeiten, in denen du in deiner Kraft bist, vermutlich häufiger erleben als beim Älterwerden. Zeiten, in denen du mit Fug und Recht sagen kannst: „Ja, ich bin gesund.“ Ab und an werden kleine Unpässlichkeiten auftauchen, wie es sie in jedem Lebensalter gibt: Du verdirbst dir den Magen oder leidest an einem grippalen Infekt. Du verstauchst dir den Fuß oder quetschst dir den Finger. Und manchmal gibt es schwerere Störungen in diesem komplexen körperlichen Gebilde. Störungen, die nachhaltige Veränderungen mit sich bringen können.
Damit erzähle ich dir nichts Neues. Wir alle wissen, dass Krankheiten, Verletzungen und Unfälle sowie auch Schmerzen zum Leben gehören. Wir wissen um den Wert von Gesundheit. Zu jedem Geburtstag wünschen wir uns Gesundheit, klopfen uns auf die Schulter: „Gesundheit für dich! Gesundes neues Lebensjahr!“ „Danke. Ja, Gesundheit ist doch das Wichtigste.“ Zu Silvester wünschen wir uns gegenseitig ein gesundes neues Jahr, knallen vielleicht ein bisschen in die Luft, trinken einen Schampus dazu und vergessen die guten Wünsche dann wieder. Wir vergessen wieder, dass Gesundheit ein wertvolles Gut ist und keine Selbstverständlichkeit. Wir vergessen, dass wir für unsere Gesundheit auch etwas tun können. Und selbst wenn wir etwas tun, dann vergessen wir gerne, dass trotz aller Bemühungen und aller guten Wünschen Krankheit manchmal nicht aufzuhalten ist. Es ist eine Illusion zu glauben, dass wir mit gesunder Lebensweise, einer ausgeglichenen Psyche und intensiver spiritueller Praxis Krankheiten immer abwenden könnten.
Drei Fragen an dich
Als Einstieg in die Beschäftigung mit dem zweiten Götterboten möchte ich dir drei Fragen stellen. Die erste lautet: „Wie bereitest du dich auf Krankheit vor? Wie bereitest du dich auf das vor, was sich nicht ändern lässt?“
Die zweite Frage könntest du vielleicht in einer stillen Stunde kontemplativ betrachten: „Was glaubst du, was dir im Falle einer schweren Krankheit wichtig sein wird? Und was könnte dann schwierig werden?“ Wenn du selbst gerade schwer erkrankt bist, dann ersetze „könnte“ mit der Gegenwartsform: „Was ist mir jetzt wichtig, und was ist jetzt schwierig für mich?“
Als dritte Frage schließt sich an: „Was oder wer könnte dich bei Krankheit unterstützen?“ Wer diesen Götterboten gerade hört, kann sich direkt fragen: „Was oder wer könnte mich jetzt unterstützen? Was könnte unter den gegenwärtigen Bedingungen mein Leben bereichern?“
In ähnlicher Form wurden diese Fragen auch den Teilnehmern der Götterbotengruppe in unserem Zentrum gestellt. Von den mannigfaltigen Antworten gebe ich hier nur einige wieder. Auf die Frage, was dann wichtig sein würde, wurde geantwortet: „Freunde werden wichtig sein.“ „Vertrauen in ärztliche Kompetenz wird mir dann wichtig sein.“ „Ich muss auf die Ärzte, die mich behandeln, vertrauen können.“ „Familie wird vermutlich wichtig sein.“ „Spiritueller Beistand könnte wichtig sein.“
Auf die Frage, was schwierig werden könnte, kamen folgende Antworten: „Widerstand könnte schwierig werden.“ „Zu starke Schmerzen könnten schwierig werden.“ „Wenn sich die Sinnestore verschließen, wenn ich nicht mehr praktizieren kann, wenn all das, was jetzt noch geht, nicht mehr möglich ist, das könnte schwierig werden.“ „Wenn ich merke, dass mir der Boden unter den Füßen wegbricht – vielleicht gehe ich dann eher mit weniger Widerstand.“ (…)
In den Widerstand gehen
Nein ist die Sprache des Widerstands. Widerstand blockiert, er verschließt nach innen und raubt Kraft. Widerstand ist der Kraftfresser schlechthin. Kraft, die du gerade in dieser Situation so dringend brauchst, wird verschleudert. Immer, wenn du in Widerstand gehst, erzeugst du Trennung. Du erzeugst Trennung zwischen dem Leben, wie es sein sollte, und dem, wie es ist, zwischen Innen- und Außenwelt. Mit dieser Trennung gehen Gefühle von Angst, Spannung, Hilflosigkeit einher und verstärken so das Unheil.
Widerstand kann sich auf verschiedene Weise ausdrücken: in Beklagen, Jammern oder Anklagen, in Gereiztheit und Niedergeschlagenheit, in Wut oder Groll. Je mehr du im Widerstand bist, desto bedrohlicher erlebst du die Außenwelt, umso mehr spürst du, dass du die Umstände nicht kontrollieren kannst. In ruhigeren Zeiten hast du vielleicht geglaubt, du könntest vieles kontrollieren. Situationen, in denen du die Kontrolle verloren hast oder verlieren könntest, waren dir nicht angenehm. Möglicherweise hat dies für dich auch schon zu Schwierigkeiten geführt, zum Beispiel in deinen Beziehungen oder in deiner Sexualität.
Aber jetzt ist etwas in dein Leben getreten, das ungleich größer ist. Etwas, das wie ein Ungeheuer bedrohlich vor dir steht und das du nicht kontrollieren kannst. Also gehst du in den Widerstand in der Hoffnung, damit wieder die Kontrolle zu erlangen. Vielleicht gehst du ins Beklagen, ins Anschuldigen oder stellst wieder und wieder die „Warum-Fragen“. Alles Versuche, die Situation unter Kontrolle zu bekommen – und letztlich alles untaugliche Strategien. Denn nichts, was du versuchst, funktioniert, und damit verstärkst du wiederum die Angst. Das Unheil, das Ungeheuer vor dir wird immer größer, je mehr Widerstand du leistet.
Möglicherweise versuchst du in dieser Situation, in Geschäftigkeit zu flüchten. Manche Menschen machen sich sehr schnell daran, sich über die Krankheit zu informieren. Oft kommen sie beim nächsten Arztbesuch mit einem Stapel Ausgedrucktem aus dem Internet. Freundinnen, Familie und Bekannte werden aktiviert. Jeder weiß von einem Wunderheiler, von einer neuen oder alten Methode, mit der schon Krankheiten besiegt wurden. Adressen und Telefonnummern werden gesammelt. Diese Geschäftigkeit erinnert mich auf tragische Weise an das Bild eines Ertrinkenden, der verzweifelt versucht, sich an Treibgut festzuklammern und nach allem greift, was an ihm vorbeizieht, in der Hoffnung, dass es ihm Halt gibt. (…)
Schmerz und Widerstand – Was ist in schwierigen Situationen förderlich?
Umgang mit Widerstand
Wir haben uns bewusst gemacht, dass es ganz natürlich ist, wenn Krankheiten Abwehr in uns hervorrufen. „Nein, es sollte anders sein“, ist die Sprache des Widerstandes. Widerstand ist nichts Schlechtes – das hieße wiederum, ihn zu bewerten –, sondern Ausdruck einer bestimmten Haltung, einer bestimmten Perspektive. Solange wir im Widerstand sind, erzeugen wir Dualität, und solange wir Dualität erzeugen, leiden wir. Wir schaffen einen Gegensatz zwischen innerem und äußerem Erleben. Wir erfahren die Außenwelt auf eine bestimmte Weise, während die Innenwelt uns sagt, die Erfahrung solle anders sein. Könnten wir diesen Widerspruch auflösen, dann wäre bei gleichen äußeren Bedingungen die Erfahrung von Zufriedenheit möglich.
Das konnte ich sehr deutlich im Verlauf der Erkrankung meines Vaters erleben. Anfangs, als die Demenz für ihn begann, waren wir beide im Widerstand. Die Situation sollte anders sein, alles so wie bisher weitergehen. Unsere gewohnten Rollen sollten sich nicht auflösen. Für mich war es die Identität des starken, liebevollen Vaters, die nicht bröckeln sollte. Er wiederum wehrte sich gegen den Verlust seiner Autonomie: „Ich sollte mich alleine versorgen können. Ich sollte einem Fernsehfilm folgen können.“ In dem Maße, wie die Widerstände anwuchsen, wurde die Situation schwierig und zuweilen schier unerträglich.
Irgendwann hatte mein Vater den Widerstand überwunden – ich hingegen noch längere Zeit nicht. In seinem letzten halben Jahr saß er fast nur noch in seinem Sessel, in den man ihn hineingesetzt hatte, denn alleine konnte er das nicht mehr. Wenn ich ihn fragte, wie es ihm ginge, dann gab er regelmäßig zur Antwort: „Ich bin zufrieden, lass mich ruhig noch ein bisschen schlafen.“ „Brauchst du noch etwas?“, erkundigte ich mich. „Nein“, sagte er. Ich kannte seine Stimme gut und wusste, ob er etwas von innen heraus oder nur mechanisch sagte. Für mich war in diesen Situationen sehr authentisch zu spüren, dass Zufriedenheit in ihm war. Als es in unserem Dorf einmal ein Fest gab, schob ich ihn im Rollstuhl auf den Marktplatz. Die Dorfkapelle spielte Lieder, die ihm sehr vertraut waren, und ich konnte sehen, wie er sich freute, an alte Zeiten erinnert zu werden. Als wir wieder zurückfuhren, war keine Spur von Wehmut oder Traurigkeit in ihm zu spüren. Die Freude ging wieder über in Zufriedenheit. Da war kein Widerstand mehr.
Wenn Widerstand da ist, dann können wir ihn zu unserem Meditationsobjekt werden lassen, so haben wir gelesen. Als ersten Schritt lassen wir die Beurteilung des Widerstandes, er sei schlecht, los. Widerstand ist Widerstand. Auf dieser Grundlage sind wir in einem zweiten Schritt bereit, mit ihm in Kontakt zu treten und seine Energie direkt zu spüren.
Und wie können wir die Bedingungen schaffen, um schließlich über den Widerstand hinauswachsen zu können? Erinnern wir uns noch einmal an den Merksatz, der uns begleitet:
„Dehne die Vergangenheit nicht aus,
lade die Zukunft nicht ein,
verändere die dir innewohnende Weisheit nicht,
habe keine Angst vor den Erscheinungen.“
Es kann nützlich sein, diese kurze Anleitung auswendig zu lernen, damit sie uns stets präsent ist. „Lade die Zukunft nicht ein.“ Wenn wir uns diesen Teil etwas genauer anschauen, dann werden wir erkennen, dass Widerstand viel mit dem Einladen der Zukunft zu tun hat. Auch ein subtiles Hinwenden zur nächsten Minute ist schon ein Einladen der Zukunft. Dieser Teil der Anleitung lautet also, ganz in der Gegenwart zu bleiben. Im Fall von Widerstand bedeutet das, mit ihm zu sein, so wie er gerade ist.
All das, was wir hier über den Widerstand lesen – dass er ein Kraftfresser ist oder eine Blockade bildet – ist sicherlich richtig. Und es ist wichtig, diese Zusammenhänge zu verstehen. Wenn wir aber den Widerstand überwinden wollen, dann ist dieses Wissen nicht mehr hilfreich. Betrachtest du ihn beispielsweise als Blockade, dann wird der Widerstand zum Feind. Damit schaffst du eine neue Dualität und somit neues Leid. Vermutlich wird er sogar stärker werden, und es kann sein, dass du unsicher wirst und Angst in dir aufkommt. Das wird dich erschöpfen, aber der Widerstand wird dem standhalten.
Zudem können Zweifel an der (Meditations-) Praxis aufkommen, und damit hättest du durch unweises Betrachten ein Hindernis hervorgebracht. Stattdessen kannst du aber auch unmittelbar den Anleitungen folgen, die dir sagen: „Wenn Widerstand da ist, praktiziere mit dem Widerstand.“ Das wird besonders deutlich in Situationen, in denen du gar nicht mehr weiterweißt, in denen kein Konzept nicht mehr dienlich ist und eher noch den Druck in dir verstärkt. Stattdessen kannst du nach innen spüren und dich dafür entscheiden, ganz in diesem Moment, in dieser Situation zu bleiben. Vielleicht spürst du: „Da ist Druck. Da ist Widerstand. Da ist Nicht-mehr-Weiterwissen.“
Aus diesem Spüren heraus kannst du noch einen weiteren Schritt gehen und denken: „Es darf alles sein. Ich weiß nicht mehr weiter. Es ist schwierig. Es ist unangenehm, und ich weiß gerade überhaupt nicht, was ich machen soll. Dies ist jetzt meine Realität.“ Wahrscheinlich versucht der Geist unterdessen, eine neue Lösung nach der anderen zu finden und läuft sich dabei in einer Endlosschleife heiß. Du musst dich aber nicht von ihm mitziehen lassen. Du kannst als Beobachter im Geschehen bleiben und nur erleben. Indem du in der Realität dieses Augenblicks bleibst, musst du nicht wissen, was im nächsten Moment geschieht. Wenn du so praktizieren kannst, wirst du vermutlich bemerken, dass eine natürliche Weisheit in dir aufsteigt: „Verändere die dir innewohnende Weisheit nicht.“ Diese kann jetzt deutlich werden und deinen nächsten Schritt lenken.
Loslassen als Frucht des Annehmens
Viele Menschen, die mit Vertrauen praktizieren, werden sagen können: „Es ist, als wenn ich in bestimmten Situationen meines Lebens geführt würde.“ So kann ich es sehr deutlich aus meiner eigenen Erfahrung heraus berichten. Es gab Zeiten in meinem Leben, in denen ich nicht mehr weiterwusste, keinen Zugang zu meiner Kraft fand und keinen Ausweg mehr sah. In einer solch schwierigen Situation lernte ich meine Lehrerin kennen, und von da an ging mein Weg in eine ganz andere Richtung weiter. Auf die Begegnung mit Ayya Khema folgte einige Jahre später die Gründung von Lotos Vihara. Ohne diesen Moment und Tausende weiterer Momente wäre dieses Buch nicht geschrieben worden, und du würdest es jetzt nicht lesen. Manchmal ist das Zusammenkommen unüberschaubar vieler Bedingungen notwendig, damit sich in schwierigen Situationen ein Spalt auftut, durch den dann das Licht eindringen kann. Für dich kann eine dieser Bedingungen darin bestehen, durch ein Nadelöhr gehen zu müssen: Durch das Nadelöhr eines Widerstandes und des damit verbundenen Erlebens von Nicht-mehr-Weiterwissen.
Wilfried Reuter
„Der Tod ist ganz ungefährlich“
Jhana Vlg., 256 S., 16 €
Mehr zum Buch: www.buchhandlung-plaggenborg.de
Mit besonderer Empfehlung von Ulrike Plaggenborg: „Ein ganz wunderbares und hilfreiches Buch!“
Autor: Manfred Folkers
"Wenn wir so weitermachen wie bisher, wird unsere Zivilisation zerstört werden."
Thich Nhat Hanh
Mit dem Satz ‘Wir müssen uns ehrlich machen‘ beginnt der Philosoph Thomas Metzinger sein Buch ‘Bewusstseinskultur - Spiritualität, intellektuelle Redlichkeit und die planetare Krise‘.
‘Ehrlich machen‘. Diese beiden Worte haben mich an ein Ereignis erinnert, das sich vor 43 Jahren zu einem Wendepunkt in meinem Leben entwickelte. Im Anschluss an einen Vortrag über ‘Ethik‘ im Dezember 1981 stellte ich die Frage: “Wenn ich mir sicher bin, dass sich die Menschheit in eine gefahrvolle Richtung entwickelt. Und wenn ich spüre, dass ich ständig dazu gedrängt werde, diese Irrfahrt mit meiner eigenen Lebenskraft zu unterstützen, frage ich mich: Was soll ich nun tun? Woran kann ich mein Handeln neu ausrichten?“
Die Antwort des Referenten - ‘weiter gehen‘ - interpretierte ich als Hinweis, dass es keinen Weg zurück geben darf ins alte Fahrwasser. Stattdessen setzte ich die schon begonnene Suche nach stimmigen Alternativen konsequenter fort.
Wichtige Hinweise fand ich während langer Reisen durch Süd- und Ostasien. Sie rückten menschliche Qualitäten in den Mittelpunkt, die ich später mit den Begriffen ‘Entschleunigung‘ und ‘Achtsamkeit‘ überschrieb. Das anschließende Trainieren der bewussten Atmung durch meditative Praktiken wie Taijiquan und Qigong führten nicht nur zur inneren Beruhigung, sondern auch zur Frage: “Womit beschäftigt sich mein Geist, wenn er zur Ruhe kommt?“
Die kurze Antwort “Er schaut genauer hin!“ weckte mein Interesse für den Buddha, der diese tiefe Analyse des Daseins bereits vor 2.500 Jahren vollzogen hat. Das Tor zur Buddha-Lehre öffnete mir Thich Nhat Hanh, als ich 1990 an einem Retreat in Plum Village teilnahm. Indem er Achtsamkeit und Meditation als säkulare Methoden behandelte, machte er sie für alle Menschen anwendbar.
Die Essenz der Buddha-Lehre zu begreifen gelang mir erst, als Thich Nhat Hanh in seinem Buch ‘Mit dem Herzen verstehen‘ die gängige Auffassung ‘Alles ist ohne eigenständiges Selbst‘ in Richtung Fülle drehte: ‘Leer von einem eigenständigen Selbst zu sein bedeutet, erfüllt zu sein von allem‘. Der vermeintliche Verlust eines ‘Selbst‘ entpuppte sich als eine Art Gewinn: das wissende Gefühl einer vollständigen Verbundenheit (‘Intersein‘).
Darüber hinaus nahmen mir diese Einsichten die bisherige Scheu vor einer spirituellen Betrachtung des Lebens. Diesen Zugang hat mir Thomas Metzinger mit der Feststellung noch weiter geöffnet, dass Spiritualität und Wissenschaft ‘aus einer gemeinsamen Wertvorstellung‘ entstehen, ‘bei der zwei Aspekte besonders ins Auge fallen: Erstens der unbedingte Wille zur Wahrheit ... zweitens das Ideal der absoluten Ehrlichkeit sich selbst gegenüber‘.
Ehrlichkeit und intellektuelle Redlichkeit - diese Merkmale einer ethisch ausgerichteten Weltanschauung fasse ich im Zusammenhang mit meiner Lebensfrage “Was soll ich nun tun?“ gern mit dem Wort ‘integer‘ zusammen.
Indem ‘integer sein‘ Wahrhaftigkeit und Ehrlichkeit enthält, weist es auf die Aufgabe hin, Widersprüche zu integrieren. Wenn ich mit dieser Einstellung abends in den Spiegel schaue, kann ich meine Unzulänglichkeiten leichter akzeptieren und am Folgetag versuchen, mich zu verbessern.
Diese Nähe des Wortes ‘integer‘ zum Begriff ‘Integration‘ ist bemerkenswert, denn sie erinnert an so erstrebenswerte Ziele wie Inklusion und Kooperation. Auch bei der Verwendung durch den Philosophen Jean Gebser im Konzept ‘Integrales Bewusstsein‘ zeigt sich ‘integer sein‘ als Gelegenheit, verschiedene Denkweisen in der eigenen Geisteshaltung zu vereinen.
‘Wir müssen uns ehrlich machen‘. In seinem Plädoyer für eine neuartige Bewusstseinskultur bezieht sich Thomas Metzinger vor allem auf die planetare Krise (‘Es sieht nicht gut aus‘). Dementsprechend enthält ‘integer bleiben‘ neben qualitativen auch diverse quantitative und vor allem ökologische Aspekte. Vor diesem Hintergrund habe ich mich sehr gefreut, als Thich Nhat Hanh im August 2014 während seines letzten Retreats in Waldbröl nochmals an die buddhistische Orientierung ‘Samtusta‘ erinnert hat: ‘Du hast genug‘.
Da die gegenwärtige planetare Krise durch menschliche Handlungen entstanden ist, kann sich jeder einzelne Mensch als Teil des Problems verstehen - mit der Erkenntnis, dass jeder und jede auch Teil der Lösung ist. Auf dieser Grundlage lässt sich der vom Buddha vorgeschlagene ‘Mittlere Weg‘ in einer vom Wachstumswahn beherrschten Gesellschaft als ‘Kultur des Genug‘ praktizieren.
Diese Geisteshaltung zu beherzigen ist nicht nur integer, sondern verwirklicht Intersein als Fundament einer enkeltauglichen Lebensweise.
Text von Manfred Folkers für das Gesprächsthema ‘Ehrlichkeit und Integrität‘ .
Fürchte dich weniger, hoffe mehr;
iss weniger, kaue mehr;
jammere weniger, atme mehr;
rede weniger, liebe mehr;
und alle guten Dinge werden dein sein.
aus: „Weisheiten aus Skandinavien“ Verlag Groh
Thomas Metzinger
„Bewusstseinskultur - Spiritualität, intellektuelle Redlichkeit und die planetare Krise“
208 S., Piper Vlg., 16 €
Siehe auch unter „Wortwelten“ S. 56.
Autor: Paramhansa Yogananda
Alles muss sich verändern
Die Bilder des Lebens müssen sich stetig verändern, um interessant zu sein. Wer will schon immer dieselben Komödien, dieselben alltäglichen Ereignisse, dieselben bitteren und zunehmend grauen Tragödien sehen? Wir alle wollen Abwechslung. Manche Menschen sind kaum in der Lage, sich zweimal denselben Film im Kino anzuschauen. Deshalb verändert der kosmische Regisseur des großen Lebensfilms immer wieder etwas, damit die Vorstellung interessant bleibt.
Tatsächlich kann man niemals zweimal an derselben Stelle dasselbe Wasser aus einem Bachlauf trinken. Man kann ein Ereignis nie zweimal auf genau dieselbe Weise erleben. Bäche fließen, Ereignisse verändern sich und wir sind jetzt schon nicht mehr genau der, der wir noch vor einer Minute waren, denn unsere Gedanken ändern sich und die Gesamtheit unserer Realität nimmt fortwährend andere Maße an.
Alles macht einen Prozess der Veränderung durch, der sich entweder günstig oder ungünstig auf den Gegenstand auswirkt, der sich verändert. Wenn ich ein Glas zu Boden werfe, ist die Veränderung beispielsweise nicht günstig, sondern ungünstig. Wenn ich das Glas dagegen poliere, es zum Glänzen bringe und seinen Rand von Bakterien befreie, tritt eine günstige Veränderung ein.
Wiederauferstehung meint jede günstige Veränderung, die bei einem Gegenstand oder einem Menschen eintritt. Du kannst deine alten Möbel in der Werkstatt eines Schreiners wiederauferstehen lassen. Du kannst dein Haus mithilfe eines Architekten wiederauferstehen lassen. Weil wir jedoch davon sprechen, den menschlichen Körper wiederauferstehen zu lassen, ist mit Wiederauferstehung jede Veränderung gemeint, die uns auf eine höhere Stufe erhebt. Du kannst nicht stehen bleiben. Du musst entweder vorwärts oder rückwärts gehen. Ist es nicht eine wunderbare, große Wahrheit, dass du in diesem Leben nicht stehen bleiben kannst, sondern Veränderungen akzeptieren musst, die entweder ungünstig oder günstig für dich sind?
Das kosmische Kino
Die Jungen, die Alten, der König, der Sklave, der berühmteste Mensch aller Zeiten, der Held jeder Nation, der angesehene Vater, die über alles geliebte Mutter, die Herzensfreunde, der freudige Liebende, der sanfte und treue Geliebte, der Hund, der Wal, der Vogel und die Lilie sind alle versammelt, um auf der Leinwand der Zeit ein neues Stück aufzuführen. Geschichte, Innenschau, Unsterblichkeit, Zeit, Raum, Äther, Erinnerung, Einsicht, Gott und seine für immer entschwundenen Heiligen sind das einzige Publikum in diesem kosmischen Kino.
Wir sind die Schauspieler. Sterne, Flüsse, Ozeane, Spiralnebel, der Schmelzofen der Sonne, Überschwemmungen, Wolkenbrüche, Blitz und Donner, gähnende Weiten, weiße Winter, blütengeschmückte Frühjahre, blättergedeckte Sommer, strömender Regen und dunkle Wolken: Sie alle stehen bereit und helfen uns, das Schauspiel von Leben und Tod, vom Kommen und Gehen, vom Erscheinen und Verschwinden und vielleicht auch vom Wiedererscheinen aufzuführen.
Hin und wieder wird uns ein Blick durch die Fenster der Geschichte auf den Schatz der zahllosen verborgenen Filmrollen aus der Urzeit, der Altsteinzeit, der Antike und der Neuzeit gewährt. Wir wissen, dass es nur ein kleines Stammpublikum derjenigen gibt, die niemals im kosmischen Kino gestorben sind. Millionen von menschlichen Schauspielern hatten in der Vergangenheit ihren Auftritt, haben ihre Rollen in Freude und Leid ebenso gespielt, wie wir es heute tun, und sind anschließend hinter dem Zwischenvorhang verschwunden.
Je nach den Wünschen des Produzenten namens Karma (früheres Handeln) erhält der Mensch in jedem Leben zahlreiche Gelegenheiten, eine Komödie, eine Tragödie oder das freudvolle Schauspiel des Lebens aufzuführen, bevor er diesen Film für immer verlassen muss. Ungeachtet des Phänomens der Reinkarnation lebt jeder Mensch nur einmal als eine bestimmte Person, weil er sich nicht an seine vorherigen Leben erinnert. Shakespeare hat einmal als Shakespeare gelebt. John Milton, Napoleon, Dschingis Khan – jeder hat nur einmal gelebt. Selbst wenn Mussolini die Reinkarnation von Cäsar wäre, wüsste er es weder noch könnte er sich daran erinnern.
Jedes Leben ist ein Film, der mehrere Teile und Aufzüge umfasst. Wenn der Tod dieses Leben übernimmt, muss der Film für alle Zeit ins Regal gestellt werden. Ein Leben, das einmal mitsamt seinen Dramen in diesem kosmischen Kino gespielt wurde, kann niemals wieder aufgeführt werden. Es scheint, dass Gott und die Unsterblichkeit ihrer einsamen Unveränderlichkeit überdrüssig geworden sind und zu ihrem Vergnügen das kosmische Kino eingerichtet haben, in dem der „Vater der Zeit“ die Filme unaufhörlicher Veränderung vorführt.
Im Filmgeschäft kann ein Schauspieler für eine Weile „ausrangiert“ werden, aber zu einem späteren Zeitpunkt zurückkehren. Im Schauspiel des Lebens ist jeder Mensch, wenn er einmal aufgehört hat zu spielen, als diese bestimmte Person für alle Zeit fort. Er kann durch Reinkarnation zurückkehren, um eine andere Rolle zu spielen, nachdem er seine Kleider aus Fleisch, Gehirn und Erinnerung vollständig gewechselt hat, und auch dann ist er sich der Tatsache nicht bewusst, dass er jemals zuvor gespielt hat. Nur ganz wenige Darsteller wie Christus, Buddha, Babaji, Shankara und Elias wussten um die Rollen, die sie in vergangenen Leben gespielt hatten, obwohl sie in vollkommen neuen Gewändern aus Fleisch und Blut zurückkehrten.
Am besten ist es, dass jeder Schauspieler, wenn er eine neue Rolle übernimmt, völlig neue Eigenschaften zeigt. Erinnerung und Gewohnheit könnten ihn behindern. Es ist wunderbar, dass jede Seele, auch wenn sie unsterblich und durch viele Inkarnationen hindurch dieselbe ist, sich nur an ihr gegenwärtiges Leben zu erinnern vermag. Es ist gut, dass sie lediglich weiß, dass sie das Schauspiel des Lebens einmal aufführen soll und anschließend an den Ort zurückgerufen wird, von dem sie gekommen ist.
Viele Menschen würden es aufschieben, ihr Bestes zu geben, wenn sie wüssten, dass sie eine weitere Chance bekommen, und viele hätten nicht den Mut, ihre Rolle in diesem Schauspiel gut zu spielen, wenn sie wüssten, dass sie sie in einem früheren Leben schlecht gespielt haben. Wenn ein wiedergeborener Mörder sich an seine Tat aus einem früheren Leben erinnern könnte, unternähme er vielleicht keinen Versuch, sich zu bessern, oder könnte sogar versucht sein, noch einmal zu morden. Wenn ein Mensch sich in diesem Leben daran erinnern würde, dass er in einem früheren Leben ein Versager oder chronisch krank war, verlöre er jeden Mut, Widrigkeiten zu überwinden oder nach einer Krankheit gesund zu werden. Deshalb ist es am besten, dass die Menschen sich nicht daran erinnern, wer sie in einem früheren Leben waren oder welche Position sie innehatten.
Wenn wir uns an alle Menschen erinnerten, die wir in vergangenen Leben geliebt haben, würden wir uns nach ihnen sehnen, wollten sie bei uns haben und würden die Gegenwart aussperren. Der Familienmensch stirbt mit der Liebe zu seiner Familie in seinem Herzen. Diese anhaftende Liebe wird in der Seele zur unpersönlichen Liebe erhoben und in einer anderen Inkarnation versucht diese Liebe, sich in einer neuen, größeren Umgebung auszudehnen.
Wir glauben, dass wir zufrieden wären, wenn wir nur wüssten, wohin unsere Lieben, die uns entrissen wurden, gegangen sind, aber das sind wir nicht. Im Kummer der Trennung liegt die Prüfung der Liebe. Der Tod lehrt uns, nur die göttliche Liebe zu lieben und nicht an der fleischlichen Herberge anzuhaften, in der die göttliche Liebe vorübergehend wohnt. Wenn wir eine Seele lieben, dürfen wir nicht versuchen, sie zu unserem Vergnügen und unserem Trost in unserer Nähe zu halten. Wenn wir sie wirklich lieben, dann lieben wir sie auch und vor allem dann noch, wenn sie uns genommen wird, um auf ihrem eigenen Weg der Reinkarnation voranzuschreiten, oder wenn sie gerufen wird, um im Schoß des Vaters zu ruhen.
Wenn der Tod sie von einem geliebten Menschen trennt, weinen die Toren eine Weile und vergessen dann, während die Weisen den inneren Impuls verspüren, ihre verlorene Liebe im Herzen der Unendlichkeit zu suchen. Was wir im endlichen Leben verlieren, das müssen wir im Raum der Unendlichkeit suchen. Krankheit, Schmerz und Kummer stellen sich ein, wenn wir auf der Leinwand des Bewusstseins unwissentlich falsche Rollen spielen. Ungeachtet dessen, wer stirbt, wie krank wir sind oder wie arm wir sind, sollten wir mit Verständnis und Gelassenheit sagen: „Ich muss meine Rolle gut spielen, damit es ein guter Film wird, mit dem ich meinen Vater unterhalten kann.“ Wenn ich die Kunst des guten Spiels beherrsche, ohne mein inneres Gleichgewicht zu verlieren, wird der Vater sagen: „Nun brauchst du nicht mehr zu spielen. Komm, setze dich zu uns in die Loge der Unsterblichkeit und Unveränderlichkeit und sieh dir mit immer neuer Freude die ständig wechselnden Filme des Lebens in meinem kosmischen Kino an.“
Paramhansa Yogananda (1893-1952) war ein indischer Yogameister, Philosoph und Schriftsteller. Er gilt als einer der weltweit bedeutendsten spirituellen Lehrer des 20. Jahrhunderts. Yogananda war einer der ersten Meister, die die indische Yogaweisheit in den Westen brachten. Sein Buch Autobiographie eines Yogi wurde zu einem internationalen Bestseller.
Paramhansa Yogananda
„Veränderungen im Leben meistern“
128 S., Verlag Via Nova, Petersberg, 12,95 €
Siehe auch unter „Wortwelten“ S. 55.
Textveröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Via Nova Verlages.
Herausgeber Achtsames Leben:
Buchhandlung Plaggenborg
Lindenstraße 35, 26123 Oldenburg
Tel. 0441-17543
Karl-Heinz & Ulrike Plaggenborg
Das Achtsame Leben erscheint drei Mal im Jahr:
am 15. April, 15. August und 15. Dezember.
Der Abgabe-Termin für Anzeigen für die
Ausgabe Dezember 2025 - April 2026:
(erscheint zum 15. Dezember 2025):
Marktplätze, Veranstaltungen, Ausbildungen, Praxis & Methoden,
Weitere AnbieterInnen:
spätestens 24. Oktober 2025;
Wer macht was im Internet, Kleinanzeigen:
spätestens 24. Oktober 2025;
fertige Formatanzeigen: spätestens 14. November 2025.
Webservice der Buchhandlung Plaggenborg: