Autorin: Sabine Bourjau
Im Jahre 2013 hat es begonnen: neben vielen anderen nachhaltigen Bewegungen, die von der UNI Oldenburg ausgingen, gab es die Transition Town Initiative um Nico Paech. Hier entstand auch die Idee des Urban Gardening direkt neben dem Wilhelm 13 in Oldenburg. Eine kleine Netzwerkgruppe bildete sich aus NaBu, Slow Food, Wurzelwerk und Transition Town. Der Ort überzeugte durch seine zentrale und ruhige Lage. Und eine gute Wasserversorgung, z.B. mit Regenwasser vom Dach des „Wilhelm 13“.
Über Slow Food war ein Vertragspartner mit der Stadt Oldenburg gefunden. Im Jahr 2014 legten wir der Stadt Oldenburg ein Konzept mit unseren Ideen vor. Daraufhin wurde der einjährige mobile Gestattungsvertrag – es durften zunächst nur Pflanzkübel aufgestellt werden für den Rückbau am Jahresende - in einen fünfjährigen Gestattungsvertrag mit Einpflanzungen umgewandelt. Ein erster Meilenstein.
Mit den Jahren entstand eine wunderbare Kooperation mit dem Kulturveranstalter Wilhelm 13 sowie zur jüdischen Gemeinde. Am Wilhelm 13 wurden Tomatenpflanzen und Wein angebaut. Gerade bei den Tomaten und beim Grünkohl wurde mit alten Sorten experimentiert. Den erhielten wir netterweise vom Versuchsgelände der Uni Oldenburg. Überhaupt ist nahezu ALLES, Pflänzchen, Saatgut und vor allem Werkzeug aus Altbeständen gesammelt, gespendet, aus Weggeworfenem aufgelesen und nun weiterverwendet, denn Nachhaltigkeit steht ganz oben auf Bunkergarten-Agenda. Wobei das Saatgut von eigenen Gärten stammt oder hin und wieder von befreundeten Kleinbetrieben erworben wurde, z.B. dem „Wurzelwerk“ und ähnlichen Initiativen, mit denen sich eine gute Kooperation ergeben hat. Hier ist natürlich der NABU zu erwähnen, die Studenteninitiative oder die Donner-Nesseln.
Nichts kommt aus dem Baumarkt! Auch nicht die erstellten Hochbeete, die selbst gezimmert wurden und von denen zwei als „Bürgerbeete“ an der Bauwerk-Halle ihren Platz gefunden haben. Backsteine für eine Kräuterspirale fielen uns bezeichnenderweise beim Neubau der Steinstraße „in die Hände“, ein ausgedienter Rasenmäher fand seine Bestimmung, die Stadt erstellte einen ansprechenden, offenen Schuppen aus Beständen des alten PFL, der ehedem als Ruheraum für TBC-Kranke gedient haben mag, und versorgt mit Strom.
So ist nach und nach aus einem brachliegenden, etwas verwilderten Wiesen-Grundstück, auf dem sich lediglich Ackerschachtelhalm und hartnäckige Disteln wohlfühlten, ein kleines Paradies geworden (sogar mit Apfelbaum!). Und manch noch geschwächter Krankenhauspatient entfleucht zwecks Erholung kurz aus dem nahegelegenen „Evangelischen“, manch gestresste Innenstadtbesucherin oder Nachtschwärmer findet zu kurzem Durchschnaufen ein Plätzchen auf der mobilen Palettenbank.
Der steinig-schottrige Untergrund hat dazu veranlasst, etliche Hochbeete anzulegen, die mit dem anfallenden Kompost angereichert werden. Darin gedeihen jetzt Kichererbsen, Bohnen, Kürbis, Kartoffeln, Karotten, Kohl, Zucchini, Pastinaken, diverse Salatsorten, bereichert durch essbare oder einfach nur schöne Blüten, Kräuter und teils vergessene Gräser oder Wildpflanzen. Auch verschiedene Beerensträucher wurden angesiedelt, ein Blühstreifen und eine Benjeshecke angelegt, das Wissen um verschiedene Gartenbaumethoden wie Permakultur und Kompostierung ausgetauscht und z. T. in Workshops weitergegeben. Der Kontakt mit anderen Initiativen ist erwünscht und gegeben, seit April 2020 vor allem zum Ernährungsrat Oldenburg, dem der „Bunkergarten“ versicherungstechnisch angegliedert ist, da wir keinen Verein bilden, sondern eine freie Gemeinschaft bleiben wollen.
Trotzdem hat man sich auf einige Statuten geeinigt, die den Garten als einen Ort der Begegnung auszeichnen, an dem vielfältiges Wissen zu Themen wie Garten, Selbstversorgung oder Vorratshaltung weitergegeben wird. Der Bunkergarten symbolisiert sozusagen einen Nährboden für Vielfalt, Nachhaltigkeit und Gemeinschaft, was in einem Handreichungstext zusammengefasst und im Einzelnen gern nachzulesen ist.
Die Gruppe ist ansonsten mit Hilfe eines E-Mail-Verteilers, eines Blogs und wöchentlichen Treffen hierarchie-arm organisiert. An regelmäßigen Donnerstagen besprechen wir Anstehendes, Pläne und Vorgehensweisen, entwickeln Ideen und pflegen unsere Gemeinschaft. Der Garten bietet ein Experimentier- und Lernumfeld. Es geht darum, miteinander und voneinander zu lernen. Wir verstehen unser Gärtnern als Beitrag zur Umweltbildung und Gartenkultur.
Dazu gehören außerdem je nach Lust und Laune auch kleine Ausflüge mit Besuch in anderen Initiativen wie der Gemüsewerft Bremen, Heilkräuterschulen oder Biohöfen der Umgebung, einem gemeinsamen Pilzesammeln, Sonnwendfeier, Lagerfeuer oder dem Erntedankfest mit großem Gemüse-Eintopf aus hauseigener Ernte. Dann gab es den Markt der Möglichkeiten, Schnibbeldisco, Saatguttauschbörse, Radtouren etc.. In einer eigens gezimmerten Saatgutbox findet der Besucher Informationen, kann Überschüssiges entnehmen oder Selbstgesammeltes deponieren.
Wir sind offen für Interessierte und Neuzugänge!
Weitere Infos und Kontakt: www.bunkergarten-oldenburg.blogspot.com - bunkergarten@lists.posteo.de
Gartentreff: donnerstags ab 17 Uhr, im Winter früher: Leo-Treppstraße/ neben Wilhelm 13
Fotos: Manfred Kowalewski, Sabine Bourjau
Für Pflanzen hatte sie immer ein Herz. Schon als kleines Mädchen schützte Helga Köhne die ersten Schneeglöckchen in den Beeten mit einem Mooskränzchen, damit sie es nicht so kalt hatten. Später, als Erwachsene, war ihr klar, dass es im Grunde umgekehrt ist: Die Pflanzen können uns Menschen Schutz und Hilfe bei Krankheiten geben. Die Natur liefert uns auch alles, was wir zum Leben brauchen.
Helga war in jungen Jahren in der ganzen Welt unterwegs. Sie arbeitete unter anderem bei der Lufthansa und ironischerweise sogar in der Agrarchemie. Hier bekam sie wichtige Einblicke, die ihre Einstellung zur Natur maßgeblich beeinflussten. Nach einem Unfall, der sie bleibend körperlich stark einschränkte und sie berufsunfähig machte, kam sie wieder auf ihren elterlichen Hof zurück. Diese Zeit war für sie sehr schwer, weil sie auch ihre mittlerweile pflegebedürftige Mutter versorgen musste. Mit ihrer körperlichen Einschränkung musste sie auch bei der Bewirtschaftung des Hofes viele Abstriche machen, aber daraus entwickelte sich im Laufe der Jahre ihr „wildes Paradies“. Sie lernte die Wildpflanzen, die in den Augen der Anderen Unkraut waren, als Schätze zu erkennen und zu nutzen. Sie zauberte sogar die köstlichsten Speisen aus ihnen, frei nach dem Motto „Gibt dir das Leben Zitronen, mache Limonade daraus!“.
Den Unfall, gekoppelt mit der Rückkehr nach Hause, empfand Helga im Nachhinein als lebensrettend, denn das gab ihr die Chance, ihr gesamtes Leben um 180 Grad zu drehen. Ihr wachsendes Interesse an Umweltthemen veranlasste sie, ein dreijähriges Kontaktstudium in Oldenburg zu absolvieren. Während des Studiums widmete sie sich wieder mehr und mehr der Pflanzenkunde und wurde schließlich von ihren Mitstudenten animiert, ihr Wissen in Kursen anzubieten. Diese daraus entstehenden Seminare erfreuten sich einer wachsen¬den Beliebtheit. Am Anfang kamen die Teilnehmer von weit her zu ihr. Sogar aus Italien und Norwegen waren sie angereist, irgendwann kamen sie auch aus der Nachbarschaft. Das freute Helga ganz besonders. Denn das Naheliegende ist oftmals tatsächlich das Beste. „Vor unserer Haustür wächst im Prinzip alles, was wir für unsere Gesundheit brauchen”. „All’ns vör use Döör“ (von Ulla Haschen und Karl-Heinz Heilig, Anm. d. Red.) ist auch der Titel des 2007 erschienenen Dokumentarfilms über das Leben und Wirken von Helga Köhne aus Bohlenberge, einem idyllischen Ortsteil der Gemeinde Zetel in Friesland nahe der Nordseeküste.
Die zahlreichen verborgenen Fähigkeiten der Wildpflanzen, die so viel wirkstoffreicher sind als ihre kultivierten Vettern, kannte Helga wie kaum eine Zweite: „Man kann ganz ohne Pülverchen und Tabletten eine hochdosierte Vitamin- und Vitalstoffkur durchführen”, sagte sie oft. Helgas Überzeugung war, dass Menschen Lebensmittel und Pflanzen mit allen Sinnen erfahren müssen, um sie wirklich kennenzulernen. „Sehen, fühlen, riechen, schmecken“, wer so an Pflanzen herangeht und sich von seiner Intuition leiten lässt, der weiß auch, ob die fragliche Pflanze gut für ihn ist. Dies bekam die Kräuterkundige in ihren Seminaren oftmals bestätigt. Immer wieder suchten sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer in Helgas weitläufigem Garten intuitiv genau die zurzeit für sie „richtigen” Pflanzen heraus, ohne vorher deren Namen oder Wirkungsweise zu kennen. „Natürlich ist es im zweiten Schritt wichtig, sich bei unbekannten Pflanzen von einem naturkundlichen Arzt oder Heilpraktiker über Wirkung und Anwendung der Pflanze unterrichten zu lassen.“
Wer meinte, Wildpflanzen wie Giersch, Brennnesseln oder Franzosenkraut seien zwar gesund, könnten jedoch unmöglich schmecken, den überzeugte Helga Köhne vom Gegenteil. Denn ein Verkosten der zubereiteten Pflanzen gehörte bei ihr immer dazu: „Es darf nie gesund – es muss immer nur gut schmecken.” Von vielen wurde sie deswegen die Aufstrich-Königin genannt.
Süßer Hagebutten-Aufstrich (frisch)
Man nehme die reifen roten Früchte der Rosa rugosa (Kartoffelrose). Die Hagebutten werden gewaschen, man entfernt die Blüte und den Stiel, schneidet sie auf und entfernt dann die Kerne. Die fertig vorbereiteten Hagebuttenschalen (das komplette rote Fruchtfleisch) nun mit etwas Honig mit dem Stabmixer pürieren. In dieser Form bleiben viele Vitamine wunderbar erhalten, da nichts erhitzt wird. Der Aufstrich ist im Kühlschrank einige Tage haltbar. Er lässt sich (nur mit Honigzugabe!) sehr gut einfrieren. Besonders das Entfernen der Kerne ist eine sehr zeitaufwändige Arbeit. Helga empfiehlt daher, eine kleine Menge vom Aufstrich herzustellen, die Familie probieren zu lassen und wenn die Familie begeistert ist, spannt man sie beim Herstellungsprozess mit ein. (Wer mitessen will, muss mitarbeiten!)
Helga Köhne: „Da diese Delikatesse ausnahmsweise etwas mehr Arbeit kostet, muss die ganze Familie mithelfen. Die Kerne und andere Reste nicht wegwerfen, sie werden für Tee getrocknet. Wenn ich etwas in die Hand nehme, soll auch alles verwertet werden! Damit es nicht ganz so mühsam ist, nehme ich gern die Kartoffelrose (Rosa rugosa). Ein Festessen wird bei mir mit selbstgemachtem Eis und Hagebutten-Honig-Mus gekrönt.“
„Viele kleine Leute in vielen kleinen Orten, die viele kleine Dinge tun,
können das Gesicht der Welt verändern.“ (Afrika)
Helga als Impulsgeberin – von Theresia de Jong (Herausgeberin)
Den Tag, an dem ich Helga kennenlernte, werde ich nie vergessen, obwohl inzwischen circa 25 Jahre vergangen sind. Ich hatte mich zu einem ihrer legendären Wildkräuterkurse angemeldet, der in der Zeitung angekündigt war. Damals wusste ich natürlich noch nicht, dass sie legendär werden würden. Dort wurde ich von einer Frau empfangen, die sofort in jedes Märchen gepasst hätte: Eine grüne Schürze, die Haare mit einem nach hinten geknoteten Kopftuch gebändigt, die Füße in Birkenstock-Sandalen und ein überaus herzliches, mütterliches Lächeln. „Wow, dass es sowas noch gibt“, dachte ich damals überrascht. In ihrem Seminarraum unter dem Dach stand ein langer Tisch überladen mit allerlei Leckereien und vielen Teekannen aus Glas. In ihnen sah ich allerlei frisches Grünzeug.
Diese Tees wurden verdünnt getrunken. Dazu wurde ein wenig Tee aus der Kanne durch ein Teesieb in die Tasse gegossen und mit heißem Wasser aufgefüllt. Welche Geschmacksexplosion! Frischer Kräutertee schmeckt ganz anders als Tee aus getrockneten Blättern! Was für mich ein Segen war, denn bis dato mochte ich eigentlich keinen Kräutertee. Alsbald wurden wir nach draußen in ihren riesigen Garten geschickt, in dem alles so wuchs, wie es Mutter Natur arrangiert hatte. Ein gigantisches Dickicht aus den unterschiedlichsten Pflanzen, die mir teilweise bis über den Kopf wuchsen. Auf gemähten Wegen wanderte unsere kleine Frauengruppe durch Helgas Garten Eden und hielt Ausschau nach Pflanzen, die uns irgendwie ansprachen. Das war für die damalige Zeit durchaus verwegen. Wir wussten auch nicht, warum wir ein kleines Pflanzenteil mitbringen sollten. Das wurde uns allerdings klar, als sie jedem von uns auf den Kopf zusagte, welche gesundheitlichen Weh¬wehchen uns derzeit plagten. Große Überraschung bei allen. Woher wusste diese Frau, die uns alle zum ersten Mal sah, wo bei uns der Schuh drückte?
Nun, wie sich herausstellte, war Helga überzeugt davon, dass jeder Mensch instinktiv weiß, was ihm/ihr fehlt. Wenn wir die passende Pflanze sehen, die uns helfen kann, ins natürliche Gleichgewicht zurück zu kommen, würden wir uns davon angezogen fühlen und sie auswählen. Dass dies funktionierte, hatte sie eindrucksvoll demonstriert. Und das hatte mich total überzeugt, denn es entsprach meiner eigenen Überzeugung, obschon ich mir zu diesem Zeitpunkt darüber noch gar nicht selbst klar war.
Dieser Impuls war extrem wichtig für mein gesamtes Leben. Viele Kurse weiter, viele private Treffen später, schrieb ich Helgas Geschichte für ein Porträtbuch, an dem ich arbeitete: „Unerhört weise“. Helga war eine der ersten Frauen, die mir zum Thema Weisheit einfielen. Ihre Weisheit hier weiterzugeben ist mir ein echtes Anliegen. Damit gleichzeitig dafür zu sorgen, dass ihre Weisheit nicht verloren geht, ist in den letzten Jahren, die wir als Autorinnenteam an diesem Projekt gearbeitet hatten, Ansporn für uns alle gewesen, dieses Buch nun tatsächlich herauszugeben.
Textauszüge mit freundlicher Genehmigung des Einklang-Verlages, Friesland.
Das Helga Köhne Wildkräuterbuch
Autorinnen: Theresia de Jong, Tanja Michaela Meyer, Marleen Meinel
Siehe auch unter Wortwelten auf S. 54.
Autor: Jan Haft
Was bedeutet eigentlich Wildnis? Der preisgekrönte Naturfilmer Jan Haft über einen Sehnsuchtsort für Naturliebhaber und ein wichtiges Konzept des Naturschutzes
Wenn man zu Fuß in einem Wildreservat in Afrika unterwegs ist oder durch einen amerikanischen Nationalpark wandert, erlebt man das Gefühl, der Natur bis zu einem gewissen Grad ausgeliefert zu sein: die Weite, in der man sich verlaufen und verlieren könnte; die Absenz vertrauter Zeichen von Zivilisation (vor allem fehlender Mobilfunkempfang); die Möglichkeit, dass einem plötzlich ein großes Raubtier über den Weg läuft oder dass ein Gewitter heraufzieht, vor dem man sich nicht so einfach in Sicherheit bringen kann. In der Wildnis werden wir uns rasch unserer Grenzen bewusst, erahnen das große Ganze der Natur und spüren, dass wir – so auf uns alleine gestellt – nicht mehr als ein Staubkorn im Universum sind.
Um die Natur als groß und uns selbst als kleines, aber zum Bild gehörendes Puzzleteil der Natur zu erleben, müssen wir jedoch nicht unbedingt weit reisen. Eine Bergtour durch ein abgelegenes Alpental oder eine Wattwanderung an der Nordsee können denselben Effekt haben. Und wenn wir uns erst richtig auf die Natur einlassen und genau hinschauen, genügt auch ein Streifzug durch eine Wiese, einen Wald, ein Moor oder das Verweilen im eigenen Garten. Auch hier können wir in das mannigfaltige Beziehungsgeflecht der Natur eintauchen und die großen und kleinen Wunder erleben, die die Evolution im Lauf der Erdgeschichte hervorgebracht hat.
Ob in der Fremde oder in heimischen Gefilden, uns erfasst schnell das Staunen darüber, wie viele Arten da ihren eigenen Weg gehen, wie sie mit der belebten und unbelebten Umwelt in Beziehung treten und so ihren Lebensraum beeinflussen. Sie folgen Gesetzmäßigkeiten, die nicht von uns Menschen gemacht wurden, und erinnern uns daran, dass das Leben auf der Erde ohne uns entstanden ist und ohne uns zurechtkommt.
Wo allein die Gesetze der Natur regieren, da herrscht Wildnis. Ganz im Gegensatz zu jenen Orten, an denen wir Menschen die natürlichen Abläufe bestimmen. Die Savanne der Serengeti in Ostafrika, wo Abertausende Lebensformen sich das Land teilen und nach Jahrmillionen alten Regeln zusammenleben, ist offenkundig Wildnis. Und was ist bei uns?
Der Volksmund bezeichnet ungepflegte Gärten als »verwildert« und ungemähte Vegetation als »Wildwuchs«. Ist vielleicht ein wenig Wildnis überall dort, wo die Natur ungestört ihre Kräfte entfalten kann, wenigstens auf kleinstem Raum? Wo all jene Organismen, die eben da sind, auf ihre Mit- und Gegenspieler treffen und mittels ihrer im Laufe der Evolution erworbenen Strategien interagieren, und seien es nur die Blattläuse und Marienkäfer im Rosenstrauch vor der Terrasse?
Welche Kräfte und wie viele Prozesse sind unentbehrlich, damit ein Gebiet die Bezeichnung Wildnis verdient? Was fasziniert uns überhaupt daran, warum träumen viele Menschen von unberührter Wildnis als idealer Landschaft? Haben wir ein schlechtes Gewissen aufgrund unserer gar nicht mehr so intakten Umwelt, die die einen als Produkt einer schier unüberschaubar komplexen Evolution betrachten und die anderen schlicht als Schöpfung? Unberührte, ursprüngliche Natur gibt es bei uns nicht mehr, denn hierzulande ist praktisch das gesamte Land vom Menschen überformt. Bedeutet das im Umkehrschluss, dass Wildnis entsteht, wenn wir ein ausgewähltes Gebiet sich selbst überlassen und aufhören zu bestimmen, was dort fortan passiert? Dieser entscheidenden Frage wollen wir in diesem Buch auf den Grund gehen. Was also ist Wildnis?
Wildlebende Tiere, Pilze und Pflanzen werden weltweit weniger, auch bei uns. Darüber kann nicht hinwegtäuschen, dass vereinzelt große Tiere in unsere Landschaften zurückkehren. Biber, Wolf und Seeadler sind wieder häufig anzutreffen, weil wir ihnen nicht mehr hemmungslos nachstellen. Wie andere Rückkehrer auch, gehören sie alle zu jenen Spezies, die nicht viele Ansprüche an ihren Lebensraum stellen, einst im ganzen Land zu Hause waren, jedoch aus unterschiedlichen Gründen fast bis zur Ausrottung bejagt wurden.
Die Mehrheit der bedrohten Arten stellt dagegen sehr wohl Ansprüche an ihren Lebensraum. Ansprüche, die unsere industrialisierte und für unsere Zwecke optimierte Landschaft immer weniger erfüllt. Während einige wenige Arten in unserer modernen Kulturlandschaft gut zurechtkommen, brauchen die meisten Organismen einen Lebensraum, der ursprünglicher Natur zumindest nahekommt. Wenn nur wenige Prozent unserer Landschaften so wären, wie sie waren, bevor sich der Mensch die Erde untertan machte, hätten wohl alle bedrohten Arten einen sicheren Hafen. Fragt sich nur, wie es bei uns einmal aussah. Und die nächste, vielleicht viel wichtigere Frage ist: Wie müssten neu geschaffene Wildnisgebiete heute am besten aussehen, damit wir den Artenschwund aufhalten können?
Hinter uns liegt die »UN-Dekade Biologische Vielfalt«. Sie wurde 2010 von den Vereinten Nationen ausgerufen, um zur Bewahrung der auf der ganzen Erde bedrohten biologischen Vielfalt zu werben. Im Hinblick auf diese weltweite Kampagne hatte die Bundesregierung 2007 beschlossen, dass zwei Prozent der Fläche Deutschlands Wildnis werden sollen. Die UNDekade verstrich, ohne dass viel passiert ist. Damals wie heute gelten nicht mehr als 0,6 Prozent der Fläche Deutschlands offiziell als Wildnis. Und: Können diese Gebiete die zentrale Aufgabe, die biologische Vielfalt zu sichern, überhaupt erfüllen? Laufen dort genügend natürliche Prozesse ab, um dem Begriff Wildnis wirklich gerecht zu werden?
Sieht man einmal vom Meer und dem Hochgebirge ab, sind unsere Naturschutzgebiete und Nationalparks überwiegend bewaldet. Wenn wir auf geräumten und beschilderten Wegen durch diese geschützten Wälder spazieren, sehen wir rechts und links abgestorbene Bäume. Sie stehen da als hölzerne Gerippe, liegen flach auf dem Boden oder sind kreuz und quer übereinander getürmt. Je nachdem von welchen Baumarten es stammt und wie feucht das tote Holz ist, ragen unterschiedliche Pilzkonsolen – die flachen, harten Fruchtkörper der Baumpilze – aus den Baumleichen. Aus liegenden Stämmen wachsen junge Nadelbäumchen. Sie waren als nackte, aber geflügelte Samen hier gelandet, nach der ersten und letzten Reise ihres Lebens. Der Wind hat sie aus den Baumkronen herabgeweht, und nun stehen sie für den Rest ihrer Zeit an diesem Ort.
Was für ein Glücksfall! Pilze und Mikroorganismen zerlegen das abgestorbene Holz nach und nach in seine Bestandteile. In den Fraßgängen von Insekten sammeln sich deren Hinterlassenschaften und anderer Abfall. All diese freiwerdenden Nährstoffe lösen sich im Wasser, das der morsche Stamm nach jedem Regen aufsaugt. Die Baumleiche wird zu einem riesigen Powerriegel, und die Bäumchen obenauf können aus dem Vollen schöpfen. Zudem haben die Keimlinge hier gute Chancen, auf einen passenden Pilz zu treffen, der sich mit ihnen über die Wurzeln verbindet und im besten Fall eine lebenslange Symbiose eingeht. Vier Fünftel aller Gewächse leben in einer solchen Partnerschaft mit den Pilz-Wesen, die weder Tier noch Pflanze sind. Auf dem leicht erhabenen, modernden Holzkörper ist es außerdem etwas wärmer als auf dem Boden ringsum, was den Bäumchen ebenfalls zugutekommt. Das jahrzehntelange Vergehen des darniederliegenden Pflanzenriesen steht also nicht nur im übertragenen Sinne für Erneuerung und Wachstum, sondern es schafft dafür auch nahrhaften Boden.
Wie viele kleine Bäume aus morschen Stämmen emporwachsen, ja wie viele Sprösslinge der Bäume überhaupt im Wald stehen, hängt aber nicht nur von dem Angebot an lebensnotwendigen Nährstoffen ab. Auch das verfügbare Sonnenlicht spielt eine große Rolle. Manche Baumarten vertragen in ihrer Jugend Schatten gut, andere überhaupt nicht, was zu dem bemerkenswerten Umstand führt, dass eine Art wie die Eiche in einem durchschnittlichen Wald ohne Förster auf Dauer nicht überleben kann. Auch wenn eine ausgewachsene Eiche noch jahrhundertelang in einem dichten, schattigen Wald gedeiht; ihr Nachwuchs hat hier wegen des Lichtmangels und der Konkurrenz durch schneller wachsende Gehölze keine Chance emporzukommen.
Begegnen wir einem abgestorbenen Baum, aus dem jede Menge Pilzkonsolen ragen, erschaudern wir bei dem Gedanken, dass er vielleicht zweihundert Jahre lang wuchs, dass er seit einem Jahrzehnt hier als Baumleiche steht, bis er irgendwann umfällt und anschließend ein halbes Jahrhundert lang am Boden vergeht. Was für Zeiträume!
Für uns Naturliebhaber liegt ein großer Zauber darin, wenn auf einem Fleckchen Erde der Mensch keinen Einfluss mehr nimmt und die Natur nur noch ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten gehorcht. Der Plural »Gesetzmäßigkeiten« weist darauf hin, dass es viele verschiedene sind. Diese Naturgesetze äußern sich in unterschiedlichen Prozessen wie Feuer, Sturm, Hochwasser oder der Massenvermehrung von sogenannten Forstschädlingen, die ihre Wirkung auf Landschaft und Vegetation frei entfalten dürfen. Dort, wo sie ungehindert ablaufen, ist Wildnis, das haben wir eingangs bereits festgestellt. „Prozessschutz« heißt daher das offizielle Schlüsselwort für Schutzgebiete, in denen der Mensch nicht oder nicht mehr eingreift. (…) Sie umfassen meist Flächen, die irgendwann aus der Nutzung genommen wurden. Oftmals weil sich eine Bewirtschaftung ohnehin nicht mehr lohnte, immer jedoch mit dem Ziel, der Natur Raum zur Entfaltung zu geben.
Textauszug mit freundlicher Genehmigung des Penguin Verlages.
Siehe auch unter „Wortwelten“.
Jan Haft:
Wildnis. Unser Traum von unberührter Natur
Penguin Verlag, 144 Seiten, 18 €
Autor: Marcel Sebastian
Der Beziehungsstatus zwischen Menschen und Tieren ist kompliziert. Während wir als Gesellschaft einige Tiere als Individuen wahrnehmen, die ein Recht auf ihr eigenes Leben haben, betrachten wir andere vor allem durch die Brille ökonomischer Verwertbarkeit. Beziehungen zu Hunden und Katzen sind von Liebe und Zuneigung geprägt, und diese Liebe scheint bei einigen Menschen schier grenzenlos. Begegnungen mit Wildtieren lösen oft tiefe Faszination und Ehrfurcht aus: Den Tränen nah beobachten manche von uns Wölfe, Wale und Adler in freier Natur. Die Existenz der einen Tierart ist uns unbekannt, für das Überleben der anderen sammeln wir Millionenbeträge an Spenden. Manche Tiere werden sogar als heilig verehrt. Die tiefe symbolische Bedeutung von Tieren kommt auch in Märchen, Mythen und Sprichwörtern zum Ausdruck. »Schlau wie ein Fuchs« oder »scheu wie ein Reh« sind wir manchmal. Aber auch »dumm wie ein Schwein«.
Andere Mensch-Tier-Beziehungen sind von Abneigung und Angst geprägt. Ratten oder Kaninchen werden in vielen Städten als Schädlinge bekämpft und verdrängt. Spinnen sind in den meisten Wohnungen ungebetene Gäste und werden wahlweise zerdrückt oder von friedfertigeren Gemütern auf dem Balkon ausgesetzt.
Wenig friedfertig gehen wir Menschen mit den Tieren um, die zu Schnitzel, Wurst und Nackensteak verarbeitet werden. Besonders die industrielle Haltung von Hühnern und Schweinen wird von vielen Menschen als Massentierhaltung kritisiert und abgelehnt. Trotzdem essen die meisten Menschen in westlichen Gesellschaften Fleisch.
Auch wir sind Tiere
Unsere Beziehungen zu Tieren sind also uneindeutig. Das fängt schon bei den Bezeichnungen an, mit denen wir über diese Beziehung sprechen. Die geläufige Gegenüberstellung »Mensch und Tier« suggeriert, dass sich hier zwei Gruppen gegenüberstehen: Hier die Menschen, dort die Tiere. Das ist jedoch zu kurz gedacht. Der Begriff »Tier« ist ein Containerbegriff, in den wir die unterschiedlichsten Tierarten von der Wüstenspringmaus bis zum Orang-Utan einordnen. Wenn über »das Tier« im Allgemeinen gesprochen wird, geht es nicht um konkrete Tierarten, sondern um die Abgrenzung des Menschen gegenüber Tieren. Dabei ist es längst kein Geheimnis mehr, dass auch Menschen biologisch zu den Tieren gehören. Wir als Homo Sapiens sind die letzte überlebende Sapiens-Art und damit eine Tierart unter vielen.
Und doch ist unsere Spezies etwas sehr Besonderes. Wie kein anderes Tier sind wir in der Lage, unsere Umwelt zu verändern, Kultur zu entwickeln und über uns und die Welt zu sinnieren. Dass Sie dieses Buch lesen, ist ein Ausdruck Ihrer Einzigartigkeit. Herzlichen Glückwunsch, Sie sind ein ganz besonderes Tier! Wir Menschen sind in der Lage, über unser Geschick und das der uns umgebenden Welt erheblich mitzubestimmen. Aber wie wir mit dieser Macht umgehen, hat weitreichende Konsequenzen. Und je größer unsere Macht über die Welt, desto größer ist auch unsere Verantwortung. Wie wir beispielsweise als Gesellschaft die Herstellung von Nahrungsmitteln organisieren, hat unmittelbare Folgen für Tiere und Umwelt. Unsere Fähigkeiten der Weltgestaltung spannen vielfältige Möglichkeiten vor uns auf. Es liegt an uns, diese Möglichkeiten zu bewerten und unser gemeinsames Handeln an diesen Werten auszurichten. Behalten Sie die Frage der Verantwortung beim Lesen dieses Buchs im Hinterkopf, denn sie geht auch Sie persönlich etwas an! (…)
Doch bevor wir tiefer in die Mensch-Tier-Beziehung eintauchen, möchte ich Ihnen gleich zu Anfang drei ernüchternde Botschaften mit auf den Weg geben.
Erstens: Unser Verhältnis zu Tieren ist keine Privatsache
Wäre es eine Privatangelegenheit, würde es absolut niemanden etwas angehen, was Sie mit Tieren anstellen. Sie mögen sich zwar selbst entscheiden, ob Sie Fleisch essen, vegetarisch oder vegan leben – der Staat zwingt Sie weder zum Verzehr von Fleisch noch von Tofu –, aber die Beziehung zwischen Menschen und Tieren ist gesellschaftlich vermittelt: Die Politik definiert die Grenzen der rechtlich erlaubten Behandlungsweisen von Tieren, und die Justiz kann Menschen, die gegen Tierschutzgesetze verstoßen, bestrafen. Allein aus diesen Gründen ist die Mensch-Tier-Beziehung keine reine Privatangelegenheit. Aber auch wenn jemand nicht gegen Tierschutzgesetze verstößt, bedarf das eigene Verhalten gegenüber Tieren der Legitimation, da wir als Gesellschaft Tieren eine moralische Relevanz zuerkennen. Heute fragen wir uns nicht (mehr), ob unser Verhalten gegenüber Tieren moralisch von Bedeutung ist, sondern vielmehr, wo die Grenzen des moralisch vertretbaren Verhaltens liegen. Fleisch zu essen ist beispielsweise keine Straftat, bedarf aber dennoch einer Begründung. Wenn Ihnen das wenig einsichtig erscheint, fragen Sie sich selbst, warum Sie keine Hunde essen, und schon stecken Sie mitten in der Diskussion, wo die Grenze zwischen gut und schlecht, zwischen ›essbaren‹ und ›befreundeten‹ Tieren verläuft. Lassen Sie uns der spannenden Frage nachgehen, inwiefern diese unterschiedlichen Begründungen auf gesellschaftliche Zustimmung oder Ablehnung stoßen und welche Folgen das für uns als Gesellschaft hat.
Zweitens: Wir müssen uns vor Vereinfachungen hüten
Viele Menschen neigen dazu, sich schnell eine klare Meinung zu bilden. Wenn es um Tiere geht, scheint das besonders häufig der Fall zu sein. Oftmals verlieren wir dadurch aber den Blick für die Komplexität der Dinge. Die Konflikte über die Mensch-Tier-Beziehung sind eine große, oft unübersichtliche Gemengelage aus unterschiedlichen Menschen und Gruppen, die sehr unterschiedliche Sichtweisen und Interessen haben. Wenn wir verstehen wollen, wieso unsere Beziehungen zu Tieren so kompliziert und widersprüchlich sind, müssen wir die unterschiedlichen Perspektiven systematisch in den Blick nehmen. Wir müssen versuchen, auch Positionen, die uns wenig plausibel erscheinen, in ihrer inneren Logik zu verstehen. Das heißt nicht, dass wir sie auch übernehmen müssen. Die aufmerksame, systematische Betrachtung sollte stets vor einer Bewertung stehen. Erst wenn wir ein möglichst gutes Bild der Situation haben, können wir ein fundiertes Urteil entwickeln. Das ist nicht nur ein Wissenschaftsideal, ein fundiertes Urteilen ist gut für jede Streitkultur!
Drittens: Komplexe Problemlösungen brauchen Zeit
Es gibt wenig Grund zur Annahme, dass wir den gesellschaftlichen Streit über Tiere in absehbarer Zeit beilegen können. Die verschiedenen Konfliktparteien stehen sich zum Teil so unversöhnlich gegenüber, dass es wohl noch lange brodeln wird. Zugeständnisse für die eine Gruppe lösen oft Empörung und Protest bei einer anderen Gruppe aus. Dass wir alle direkt oder indirekt in den Streit über Tiere eingebunden sind, macht die Sache nicht einfacher. Es scheint, als sei die Gesellschaft in unterschiedliche Lager aufgeteilt. Je mehr Einfluss ein Lager gewinnt, desto heftiger reagiert die Gegenseite. Diese Polarisierung können wir auch in Bezug auf viele weitere Themen wie Nachhaltigkeit, Integration oder Geschlechtergerechtigkeit feststellen. Wir stecken mitten in einer Phase der kollektiven kulturellen Selbstfindung – und bisher ist nicht klar, welche Sichtweise am Ende die Oberhand gewinnt.
Seit die Tierfrage auf die Agenda der deutschen Nachkriegsgesellschaft gehievt wurde, scheint die Suche nach dem richtigen Verhältnis zu Tieren immer stärker zu polarisieren. Tierrechtler*innen gelten längst nicht mehr als Verrückte und der Veganismus ist insbesondere bei jungen Menschen beliebter denn je. Gleichzeitig sind viele Deutsche nicht bereit, sich die Butter vom Brot nehmen zu lassen, und beschweren sich über moralische Bevormundung. Ich glaube, dass die Lösung aus dem Dilemma nur in einer aufgeklärten, öffentlichen Debatte bestehen kann. Die Tiere stehen auf der öffentlichen Agenda und werden von dort so schnell nicht wieder verschwinden. Ich lade Sie ein, sich in diese Debatte einzumischen. (…)
Wie wir über Tiere streiten
Ende Juli 2016 spielen sich dramatische Szenen in der Nähe des Herforder Weddingenufers ab. Gegen acht Uhr morgens läuft eine Entenmutter aufgeregt schnatternd auf der Straße umher. Ihre Jungen schnattern nicht weniger aufgeregt, denn sie sind in einen nahe gelegenen Gully gefallen und kämpfen dort um ihr Leben. Aus eigener Kraft schaffen es die Küken nicht, sich aus ihrem anderthalb Meter tiefen Gefängnis zu befreien. Zum Glück spaziert zu diesem Zeitpunkt Frau W. in Begleitung ihres Yorkshire-Mischlings Lui am Weddingenufer entlang und beobachtet die Szene. Sie alarmiert die Feuerwehr. Der Lokalzeitung berichtet Frau W. später, die Küken seien um ihr Leben geschwommen und hätten sich kaum mehr über Wasser halten können. Das Kommando über den Rettungseinsatz übernahm der Leiter der örtlichen Feuerwehr, denn »Entenrettung ist eben Chefsache«, wie die Zeitung zu berichten weiß. Sein Kollege Peter L., »Geflügelexperte« der Herforder Feuerwehr, legt sich flach auf den Boden, um die kleinen Enten zu erreichen. Mit einer Schöpfkelle fischt er die entkräfteten Küken einzeln aus dem Gully. Ein weiterer Kollege übernimmt die Erstversorgung und legt die durchnässten Küken behutsam in einen Karton. Nach der geglückten Entenrettung vereinen die Männer der Feuerwehr Mutter und Kinder. Die Entenfamilie wird zum nahe gelegenen Ufer gebracht und dort in die Freiheit entlassen. Doch Peter L. ist besorgt. Möglicherweise waren die Strapazen für eines der Küken zu anstrengend, es schien unterkühlt. Seine Sorgen teilt er mit der Lokalzeitung. »Hoffen wir mal, dass ein paar Sonnenstrahlen, etwas Nahrung und ganz viel Fürsorge dafür sorgen, dass es wieder zu Kräften kommt«, so der Retter.
Enten in parallelen Universen
Zeitungsartikel wie dieser sind kein Einzelfall. Sie folgen einem klaren erzählerischen Muster: Die Enten sind handelnde Subjekte mit einem individuellen Charakter. Wir können uns mit ihrem Schicksal und ihren Sorgen identifizieren und fiebern mit der Entenmutter um das Überleben ihrer verunglückten Küken. Auf die Rettung der Tiere und die Wiedervereinigung der Entenfamilie reagieren wir mit Freude und Erleichterung. Für das gute Ende der Geschichte gibt es nur eine Option: Die Enten sollen überleben.
Doch es lassen sich auch ganz andere Geschichten über Enten erzählen. Sie sind alle gleich und klingen etwa so: Unsere Ente schlüpft in einem Brütereibetrieb in Sachsen-Anhalt. An ihrem Geburtstag werden in der Brüterei noch rund 25.000 weitere Peking-Enten vom Typ »Cherry Valley« zur Welt gebracht. Cherry-Valley-Enten können nicht fliegen, dafür aber in Rekordzeit fett werden. Das nennt man eine gute »Mastleistung«. Weil Cherry Valleys körperlich optimal an ihre landwirtschaftliche Verwertung angepasst sind, gehören sie zu den profitabelsten Mastenten. Spezialfutter sorgt dafür, dass sie schnell ein »schlachtreifes« Körpergewicht erreichen, weil es auf die unterschiedlichen Phasen ihres Wachstums angepasst ist. Anfangs macht es sie robust: Darm und Skelett sollen für die körperlichen Belastungen der Mast vorbereitet werden. Das »Entenendmastfutter« hat dann das Ziel, möglichst effizient Muskel- und Fettgewebe aufzubauen. In der Entenmast verwandeln sich Küken innerhalb von vierzig Tagen in lebende Rohstofflager. In den Mastanlagen, so erklären die Betreiber*innen, werden die Tiere unter Einhaltung strenger gesetzlicher Vorgaben und mit viel Know-how versorgt und betreut, bis sie »Schlachtreife« erlangt haben.
Aktivist*innen der Tierrechtsbewegung zeichnen ein ganz anderes Bild und beschreiben die Zustände als Hölle auf Erden. (…) Diese zwei Entengeschichten scheinen in Paralleluniversen des Mensch-Tier-Verhältnisses zu spielen. Es drängt sich die Frage auf, welche der Geschichten denn nun einen angemessenen Umgang mit Enten widerspiegelt.
Textauszug aus
„Streicheln oder schlachten?“
von Marcel Sebastian
mit freundlicher Genehmigung des Kösel-Verlages.
Siehe auch unter „Wortwelten“.
Autor: Thich Nhat Hanh
Wenn Sie diese Schönheit nicht sehen, sollten Sie sich fragen, warum. Vielleicht steht Ihnen etwas im Weg oder Sie sind so sehr damit beschäftigt, nach etwas anderem Ausschau zu halten, dass Sie den Ruf der Erde nicht hören.
Mutter Erde sagt: »Mein Kind, ich bin für dich da; ich biete dir all dies an.« Es ist wahr: die Sonnenstrahlen, das Vogelgezwitscher, die klaren Bäche, die Kirschblüten im Frühling und die Schönheit der vier Jahreszeiten – das alles ist für Sie da. Wenn Sie es nicht sehen oder hören können, liegt das daran, dass Sie zu viel im Kopf haben.
Die Erde sagt Ihnen, dass sie da ist und dass sie Sie liebt. Jede Blume ist ein Lächeln der Erde. Sie lächelt Ihnen zu, doch Sie wollen nicht zurücklächeln. Die Frucht in Ihrer Hand – vielleicht eine Orange oder eine Kiwi – ist ein Geschenk der Erde. Verspüren Sie aber keine Dankbarkeit, dann sind Sie nicht wirklich für die Erde und das Leben da.
Eine wesentliche Voraussetzung dafür, den Ruf der Erde zu hören und ihr zu antworten, ist Stille. Ohne innere Stille werden Sie ihren Ruf nicht hören: den Ruf des Lebens. Ihr Herz ruft Sie, aber Sie hören es nicht. Sie haben keine Zeit, auf Ihr Herz zu hören.
Achtsamkeit hilft uns, uns nicht länger abzulenken und zu unserer Atmung zurückzukehren. Indem wir mit der Aufmerksamkeit nur bei unserer Ein- und Ausatmung sind, hören wir auf zu denken und erwachen innerhalb weniger Sekunden zu der Tatsache, dass wir lebendig sind, dass wir einatmen, hier sind. Wir existieren. Wir sind nicht nicht existent. Wir erkennen: »Ahhh, ich bin hier, ich bin lebendig.« Wir hören auf, an die Vergangenheit zu denken, wir hören auf, uns über die Zukunft zu sorgen, wir richten unsere gesamte Aufmerksamkeit auf die Tatsache, dass wir atmen. Unser achtsames Atmen befreit uns. Wir sind frei, ganz gegenwärtig zu sein: frei von Gedanken, Angst, Sorgen und Streben.
Sind wir frei, können wir auf den Ruf der Erde antworten. »Ich bin hier. Ich bin dein Kind.« Wir erkennen, dass wir Teil des Wunders sind. Und wir können sagen: »Ich bin frei: frei von all dem, was mich daran hindert, ganz und gar lebendig zu sein. Du kannst dich auf mich verlassen.«
Wenn Sie erwachen und erkennen, dass die Erde nicht nur Umwelt ist, sondern dass Sie die Erde sind, dann berühren Sie die Natur des Interseins, unsere wechselseitige Verbundenheit und Verwobenheit. Und in diesem Moment treten Sie in eine echte Kommunikation mit der Erde ein. Das ist die höchste Form des Gebets. In dieser Art Beziehung werden Sie über die Liebe, die Kraft und das Erwachen verfügen, die Sie für die Veränderung Ihres Lebens benötigen.
Viele von uns haben sich der Erde entfremdet. Wir vergessen immer wieder, dass wir hier auf einem wunderschönen Planeten leben und dass unser Körper ein Wunder ist, welches wir der Erde und dem gesamten Kosmos zu verdanken haben. Die Erde vermochte Leben hervorzubringen, weil sie auch Nicht-Erde-Elemente in sich trägt, darunter die Sonne und die Sterne. Die Menschheit ist aus Sternenstaub entstanden. Die Erde ist nicht nur die Erde, sondern der gesamte Kosmos.
Nur mit dieser Sichtweise und Einsicht werden Sie Ihre wertenden Unterscheidungen aufgeben und sich mit der Erde tief verbunden fühlen. Daraus wird sich viel Gutes entwickeln. Sie sehen die Dinge nicht länger auf dualistische Weise und überwinden die Vorstellung, dass die Erde nur die Umwelt mit Ihnen im Zentrum ist und Sie nur dann etwas für die Erde tun wollen, wenn es Ihrem Überleben dient. Werden Sie sich beim Einatmen Ihres Körpers bewusst, schauen Sie tief in Ihren Körper hinein und erkennen Sie, dass Sie die Erde sind und dass Ihr Bewusstsein das Bewusstsein der Erde ist und es zu einem befreiten Bewusstsein werden kann, frei von jeglichen wertenden Unterscheidungen und falschen Ansichten. Damit werden Sie das, was Mutter Erde von Ihnen erwartet: erleuchtet, ein Buddha, sodass Sie allen Lebewesen helfen können, nicht nur auf der Erde, sondern letztlich auch auf anderen Planeten.
Meine Generation hat viele Fehler gemacht. Wir haben uns diesen Planeten von den jüngeren Generationen geliehen, und wir haben ihm immensen Schaden zugefügt und große Zerstörung angerichtet. Wir sind beschämt, ihn jetzt so zu übergeben, und hätten es uns anders gewünscht. Ihr Jungen erhaltet einen wunderschönen, aber beschädigten, verwundeten Planeten. Das tut uns leid. Als jemand der älteren Generation hoffe ich, dass die junge Generation so schnell wie möglich aktiv wird. Dieser Planet gehört euch, den zukünftigen Generationen. Euer Schicksal und das Schicksal des Planeten liegen in euren Händen.
Unsere Zivilisation ist eine Zivilisation, die auf Pump lebt. Wann immer wir uns etwas anschaffen, das wir uns nicht leisten können, wie ein Haus oder ein Auto, setzen wir darauf, dass wir in der Zukunft in der Lage sein werden, die Schulden zurückzuzahlen. Wir leben auf Pump, ohne zu wissen, ob wir das alles jemals zurückzahlen können. Auf diese Weise sind wir bei uns selbst, unserer Gesundheit und unserem Planeten zu Schuldnern geworden. Aber der Planet kann das nicht mehr tragen. Wir haben uns auch zu viel von unseren Kindern und Enkelkindern geliehen.
Der Planet und die zukünftigen Generationen sind auch wir; wir sind nicht voneinander getrennt. Der Planet sind wir, und die zukünftigen Generationen sind auch wir. Die Wahrheit ist aber, dass von uns selbst nicht mehr sehr viel übrig ist. Von daher ist es sehr wichtig, dass wir aufwachen und erkennen: Wir müssen uns nichts mehr ausleihen. Was uns im Hier und Jetzt zur Verfügung steht, reicht vollkommen aus, damit wir uns genährt und glücklich fühlen. Das Wunder von Achtsamkeit, Konzentration und Einsicht besteht in der Erkenntnis, dass wir glücklich mit den uns verfügbaren Bedingungen sein können, dass wir nicht danach streben müssen, immer mehr zu bekommen und dafür den Planeten auszubeuten. Wir müssen nicht mehr auf Pump leben. Nur mit dieser Art von Erwachen können wir die Zerstörung stoppen.
Das ist keine individuelle Angelegenheit. Wir müssen gemeinsam aufwachen. Und wenn wir gemeinsam erwachen, dann haben wir eine Chance. Unsere Lebensweise und Zukunftsplanung haben uns in diese Situation geführt. Und jetzt müssen wir genau hinschauen, um einen Ausweg zu finden, nicht nur individuell, sondern kollektiv, als Menschheit. Man kann nicht mehr auf die ältere Generation allein zählen. Ich habe oft gesagt, dass ein Buddha nicht ausreicht; wir brauchen ein kollektives Erwachen.
Wir alle müssen Buddhas werden, damit unser Planet eine Chance hat.
Textauszug aus „Zen und die Kunst, die Welt zu retten“ von Thich Nhat Hanh, mit freundlicher Genehmigung des Lotos Verlages.
Siehe auch bei „Wortwelten“.
Aus "Am Waldesrand"
Thich Nhat Hanh
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