Archiv Spiritualität


August - Dezember 2023


Wie wir leben, so sterben wir

© Ulrike Plaggenborg
© Ulrike Plaggenborg

Autorin: Pema Chödrön

 

Im Fluss des Werdens und Vergehens wahre Freiheit finden
Manche glauben, dass das Bewusstsein im Moment des Todes endet. Andere glauben, dass es fortbesteht. Einig sind sich jedoch alle darin, dass die Dinge während unserer jetzigen Lebenszeit auf jeden Fall weitergehen. Und dabei verändern sie sich unablässig. Ständig endet etwas, und ständig entsteht etwas neu. Es ist ein kontinuierlicher Prozess von Tod und Erneuerung, Tod und Erneuerung. Diese Erfahrung, die alle Lebewesen machen, wird bekanntlich als »Vergänglichkeit« oder »Unbeständigkeit« bezeichnet. Wie der Buddha betonte, ist das Betrachten der Vergänglichkeit eine der wichtigsten Kontemplationen auf dem spirituellen Weg. »Von allen Spuren sind die des Elefanten besonders herausragend«, sagte er. »Genauso ist von allen Themen der Meditation ... die Vorstellung der Vergänglichkeit unübertroffen.« Die Vergänglichkeit zu betrachten, ist der perfekte Weg in die Bardo-Lehren und in die Lehren über den Tod insgesamt. Denn dass sich alles kontinuierlich verändert, ist im Vergleich zu diesen schwierigeren Themen leicht zu erkennen und zu verstehen. Die Jahreszeiten, die Tage, die Stunden des Tages ändern sich. Wir selbst wandeln uns die ganze Zeit und erleben von einem Augenblick zum nächsten viele Veränderungen. Das geschieht überall um uns herum und in uns, rund um die Uhr, ohne auch nur einen Augenblick aufzuhören.

 

Doch aus irgendeinem Grund verstehen wir das nicht ganz. Wir verhalten uns tendenziell so, als wären die Dinge fester gefügt, als sie es tatsächlich sind. Wir haben die Illusion, dass das Leben so bleibt, wie es jetzt ist. Ein anschauliches Beispiel aus jüngster Zeit ist die Coronapandemie. Wir hielten es für selbstverständlich, dass der Lauf der Welt sich auf eine bestimmte Weise fortsetzen würde, doch dann wurde plötzlich alles solcherart auf den Kopf gestellt, wie wir es uns nie hätten vorstellen können. Trotz unserer lebenslangen Erfahrung mit Veränderungen hört etwas in uns niemals auf, auf Stabilität zu beharren. Jede Veränderung, selbst eine zum Besseren, kann uns aus der Fassung bringen, weil sie unsere grundlegende Unsicherheit in Bezug auf das Leben offenlegt. Wir glauben lieber, dass wir festen Boden unter den Füßen haben, als zu erkennen, dass alles immer im Wandel begriffen ist. Eher leugnen wir die Realität des ständigen Wandels, als zu akzeptieren, wie die Dinge sind.

Auch bei unseren emotionalen Zuständen halten wir an dem Gefühl fest, sie seien dauerhaft. Ob wir uns gut oder schlecht fühlen, ob wir glücklich oder traurig, optimistisch oder pessimistisch sind - wir neigen dazu zu vergessen, dass Gefühle flüchtig sind. Es ist, als hielte uns ein Mechanismus davon ab, daran zu denken, dass alles immer im Fluss ist. Der derzeitige Zustand der Angst oder der Hochstimmung scheint dann einfach dem zu entsprechen, wie unser Leben ist. Sind wir glücklich, stellt sich Enttäuschung ein, sobald dieses gute Gefühl schwindet; und wenn wir unglücklich sind, fühlen wir uns in unangenehmen Emotionen gefangen. Ob wir uns also gut oder schlecht fühlen, unsere Illusion der Beständigkeit führt zu Problemen. 

 

Der Buddha sprach über unsere Schwierigkeiten, die Vergänglichkeit zu akzeptieren, als er die drei Arten des Leidens lehrte. Er nannte die erste Art »das Leiden des Leidens«. Das sind die offenkundigen Qualen des Krieges, des Hungers, der furchteinflößenden Umgebung, des Missbrauchs, der Vernachlässigung, des tragischen Verlustes oder einer Reihe schwerer Krankheiten. An so etwas denken wir normalerweise, wenn wir von »Schmerz« oder »Leiden« sprechen. Menschen und Tiere, die in einer solchen Situation sind, geraten nahezu pausenlos von einem Leiden ins nächste.

Manche Menschen haben das Glück, das offenkundige Leiden des Leidens nicht zu erleben. Verglichen mit dem, was andere durchmachen, geht es ihnen in ihrem gegenwärtigen Leben recht gut. Aber es bleibt trotzdem noch das Leiden, das aus der Tatsache resultiert, dass nichts von Dauer ist. Wir freuen uns, doch die Freude wechselt sich mit Enttäuschung ab. Wir erleben Erfüllung, aber sie wechselt sich mit Langeweile ab. Wir erleben Genuss, aber er wechselt sich mit Unbehagen ab. Diese Wechsel und all die damit einhergehenden Hoffnungen und Ängste sind selbst eine große Quelle des Schmerzes.

 

Diese zweite Art des Leidens, die der Buddha einfach »das Leiden der Veränderung« nannte, lauert in unserem Inneren als das schmerzliche Wissen, dass wir niemals wirklich alles haben können, was wir wollen. Wir können nie ein für alle Mal erreichen, dass unser Leben so ist, wie wir es haben wollen. Nie können wir an einen Punkt gelangen, an dem wir uns immer gut fühlen. Vielleicht sind wir manchmal zufrieden und fühlen uns wohl, aber wie meine Tochter einmal sagte: »Das ist das Problem.« Weil es bei uns oft genug gut läuft, kehren wir immer wieder zu der falschen Hoffnung zurück, wir könnten es bewahren, damit es so weitergeht. Wir denken: » Wenn ich nur alles richtig mache, kann ich mich immer großartig fühlen!« Ich glaube, das ist unter anderem ein Grund für Drogenmissbrauch und all unsere anderen Abhängigkeiten. Die zugrunde liegende Sucht ist der Traum von dauerhafter Freude und Annehmlichkeit.

 

Alle Religionen und Weisheitstraditionen der Welt sprechen davon, dass es vergeblich ist,  nach Glück zu streben und dabei auf Dinge zu setzen, die nicht von Dauer sind. Wenn wir solche Lehren hören, überraschen sie uns nicht, und eine Zeit lang haben wir vielleicht sogar das Gefühl, von ihnen überzeugt zu sein. Möglicherweise finden wir es sogar lächerlich, auf so fruchtlose Weise nach Glück zu streben. Doch sobald wir wieder an etwas Neues denken, das wir haben wollen, werfen wir all diese Weisheiten über Bord. Und dann ist es nur eine Frage der Zeit, bis die Vergänglichkeit die brandneue Anschaffung oder Errungenschaft wieder verdirbt. Selbst wenn wir am nächsten Morgen keinen Kaffee darauf verschütten, vergeht unsere Freude nach einiger Zeit in nicht allzu ferner Zukunft.

Das klassische Beispiel ist das Verliebtsein. Anfangs ist es das größte Hochgefühl, das man sich nur vorstellen kann. Von da an kann es leicht in größte Enttäuschung umschlagen.  Wenn das Hochgefühl nachlässt, müssen die Liebenden - falls sie zusammenbleiben wollen - ihre Enttäuschung überwinden und ihre Beziehung vertiefen. Viele Paare meistern diesen Übergang wunderbar, aber selbst dann ist das absolut großartige Gefühl vorbei, das zwei Menschen, die sich ineinander verlieben, anfangs haben.

 

Die dritte Art des Leidens, das sogenannte »alles durchdringende Leiden«, spielt sich auf einer tieferen, subtileren Ebene ab als die ersten beiden. Es handelt sich um das ständige Unbehagen, das von unserem grundlegenden Widerstand gegen das Leben, wie es wirklich ist, herrührt. Wir wünschen uns zwar festen Boden unter den Füßen, der uns Halt gibt, doch das ist einfach nicht vorgesehen. Denn in Wirklichkeit verhält es sich so: Nichts kommt jemals zum Stillstand, nicht einmal einen Augenblick. Bei genauem Hinsehen erkennen wir, dass selbst die scheinbar beständigsten Dinge sich fortwährend verändern. Alles ist in Bewegung, und wir wissen nie, in welche Richtung es geht. Wenn sich selbst Berge und Felsen auf unvorhersehbare Weise bewegen und verändern, wie könnten wir dann in irgendetwas Sicherheit finden? Dieses ständige Gefühl der Bodenlosigkeit und Unsicherheit durchdringt unauffällig jeden Augenblick unseres Lebens. Es ist das subtile Unbehagen, das sowohl dem Leiden des Leidens als auch dem Leiden der Veränderung zugrunde liegt.

Auch hier können wir wieder das Sichverlieben betrachten. Ein großer Teil des Nervenkitzels liegt darin, dass diese neue Liebe etwas frisches in unser Leben bringt. Die ganze Welt fühlt sich frisch an. Doch die Zeit vergeht, und wir wollen, dass alles ganz genau so bleibt, wie es uns gefällt. Das ist der Zeitpunkt, an dem das alles durchdringende Leiden sein Haupt erhebt und die Flitterwochenphase zu Ende geht. Wenn das Neue und Frische nachlässt, fallen den Liebenden allmählich bestimmte Dinge auf, wie zum Beispiel, dass der oder die andere geizig oder überkritisch ist. In irgendeiner Weise wird der Schleier gelüftet, und sie ärgern sich zunehmend übereinander, einfach weil sie so sind, wie sie sind. Als Nächstes versuchen sie oft, sich gegenseitig zu verbessern und den Partner, die Partnerin zum Vorteilhaften hin zu verändern. Doch dieser Ansatz macht es nur noch schlimmer. Eine Beziehung kann nur dann wirklich funktionieren, wenn beide fähig sind, die Gegebenheiten anzunehmen und so, wie sie sind, miteinander zu arbeiten. Das bedeutet, einen Teil ihres allgemeinen Widerstands gegen das Leben, wie es ist, zu überwinden, statt auf einem Leben, wie sie es gerne hätten, zu beharren. Oft hören wir Äußerungen wie »Keine Sorge, es wird schon alles klappen«. Ich habe so etwas immer als einen Versuch verstanden, uns zu versichern, dass die Situation schließlich entsprechend unseren Wünschen »klappen« wird. Aber sehr oft kommt es nicht so, wie wir es gerne hätten, und selbst wenn es so kommt, ist unsere Freude nur von kurzer Dauer. Und sehr häufig bekommen wir das, was wir nicht wollen. Ach, die Wechselfälle des Lebens! 

 

Trungpa Rinpoche hatte dazu einen Spruch: »Vertraue nicht auf den Erfolg. Vertraue auf die Realität.« Zu glauben, dass es so kommen wird, wie wir wollen, heißt »auf den Erfolg vertrauen« - Erfolg zu unseren Bedingungen. Aus eigener Erfahrung wissen wir jedoch sehr genau, dass Erfolg nichts Verlässliches ist. Manchmal kommt es tatsächlich so, wie wir es uns wünschen, manchmal aber auch nicht. »Auf die Realität vertrauen« ist eine viel offenere, entspanntere Einstellung. Die Realität wird eintreten, so oder so. Darauf können wir uns verlassen. Es ist sehr tiefgreifend und gleichzeitig völlig unkompliziert. » Realität« bezieht sich auf die Dinge, wie sie sind, frei von unseren Hoffnungen und Ängsten. Mit diesem Wissen können wir offen sein für Freude und Schmerz, Erfolg und Misserfolg - was völlig im Gegensatz steht zu dem Gefühl, alles hätte sich gegen uns verschworen, wenn es mit einer Bewerbung nicht klappt, eine Liebesbeziehung nicht zustande kommt oder wir krank werden. Das ist ein radikaler Ansatz, der unserer üblichen Sichtweise völlig zuwiderläuft. Wir können sowohl für Erwünschtes als auch für Unerwünschtes offen sein. Wir wissen, dass beides sich ändern wird, so wie sich das Wetter ändert. Und wie gutes und schlechtes Wetter, so gehören auch Erfolg und Misserfolg gleichermaßen zum Leben.

Das alles durchdringende Leiden beruht auf unserem ständigen Kampf: dagegen, dass alles ganz offen ist, dass wir nie wissen, was kommt, dass unser Leben nicht festgeschrieben ist, sondern sich erst nach und nach entfaltet, und dass wir nur sehr wenig tun können, um es zu kontrollieren. Diesen Kampf spüren wir wie ein ständiges Summen der Angst im Hintergrund unseres Lebens. All das kommt daher, dass alles vergänglich ist. Alles im Universum ist im Fluss.

 

Der feste Boden, auf dem wir gehen, verändert sich von Augenblick zu Augenblick. Doch wie Thich Nhat Hanh gesagt hat: »Nicht die Vergänglichkeit bewirkt, dass wir leiden. Wir leiden, weil wir wollen, dass die Dinge dauerhaft sind, obwohl sie es nicht sind.« Wir können uns entweder weiterhin gegen die Realität sträuben oder aber lernen, zu einer anderen Sichtweise zu gelangen und das Leben als dynamisch und lebendig, als ein wunderbares Abenteuer zu sehen. Dann sind wir wirklich mit der Frische jedes Augenblicks in Kontakt, egal ob wir unseren Partner für vollkommen halten oder nicht. Wenn wir die kontinuierliche Veränderung so annehmen können, werden wir spüren, wie das Summen der Angst leiser wird und langsam, ganz langsam verklingt.

 

Textauszug mit freundlicher Genehmigung des Arkana-Verlages.

 

Pema Chödrön: Wie wir leben, so sterben wir 

224 S., 24 €

 

Siehe auch unter „Wortwelten“.

 


Enneagramm – Der Schlüssel zum Erwachen

Autor: A. H. Almaas

 

Punkt Acht: Wahre Stärke

Jede Ich-Idealisierung prägt den Typ so vollständig, dass sie viele seiner Eigenschaften, Haltungen und Präferenzen beeinflusst, ja sogar bestimmt. Wir beginnen mit Punkt Acht, Ichazos „Ego-Venge“ (auch Herausforderer genannt), da dessen Ich-Ideal am einfachsten zu verstehen und sein idealisierter Aspekt für den durchschnittlichen Menschen am leichtesten zugänglich ist. Die Fixierung von Ego-Venge ist offensichtlicher als die anderer Typen, da sie sich häufig durch offene Aggression ausdrückt. Achten sind leicht reizbar und ständig bereit, sich mit Menschen aus ihrem Umfeld zu streiten. Oft sind sie ungestüm, laut, herrisch und eher als andere Typen geneigt, Kontroversen auszutragen. Naranjo schreibt: „Eng verbunden mit der für diesen Typ charakteristischen Feindseligkeit ist seine Dominanz… Mit der Dominanz verknüpft sind solche Wesenszüge wie Arroganz, Suche nach Macht, das Bedürfnis nach Triumphen, andere schlechtmachen, Konkurrenzverhalten, Überheblichkeit etc.“  Naranjo zufolge ist die Idealisierung der Acht „Ich bin mächtig, ich kriege das hin“. Das kommt dem idealisierten Aspekt ziemlich nahe. Natürlich äußert er sich nicht bei allen  Achten auf dermaßen grobe Weise; viele sind einfach nur durchsetzungsfähig und stark und die Emotion der Wut ist ihnen leicht zugänglich. Unsere Intention ist es jedoch, die Enneatypen in ihrem Rohzustand zu beleuchten, denn das verdeutlicht die von ihnen idealisierte Eigenschaft.

Es ist nicht ungewöhnlich, dass Achten ziemlich groß sind. Sie treten groß auf, indem sie überdimensionale Gesten und Ausdrucksformen verwenden und laut und bestimmt auftreten. Sie nehmen Raum ein. Sie können ungehobelt, grob, unverfroren in der Öffentlichkeit, furcht- und sogar schamlos darin sein, wie sie sich zum Ausdruck bringen und ihre Bedürfnisse kundtun. Ihre Familie und ihre Freunde können sie damit in Verlegenheit bringen, dass sie Forderungen mit Nachdruck vertreten und vulgäre Sprache benutzen oder sich in sozialen Situationen vulgär verhalten. Ein gutes Beispiel für jemanden mit diesem Charakterzug ist Fritz Perls, der deutsche Analytiker, der den Begriff „Gestalttherapie“ prägte. Er war eine expansive Acht und bekannt dafür, dass es ihm vollkommen egal war, ob er sich sozial angemessen verhielt.

Doch natürlich haben Achten auch noch andere Qualitäten – wie zum Beispiel diejenige, dass sie die Schwachen und Hilflosen verteidigen und vor allem Menschen, die ungerecht behandelt worden sind –, doch ich hebe hier die Charaktereigenschaften hervor, die ihr Ich-Ideal am deutlichsten widerspiegeln. Statt mich zum Beispiel auf ihre Bereitschaft zu beziehen, für Gerechtigkeit zu kämpfen, weise ich darauf hin, dass sie vor nichts zurückschrecken, um sie zu erreichen, auch nicht vor Vergeltung oder Grausamkeit. Außerdem stehen diese auch nicht immer im Dienste der Gerechtigkeit oder Verteidigung der Opfer. Sie können lediglich Reaktionen auf die vermeintlichen Beleidigungen und Erniedrigungen durch andere sein.

Das Ich-Ideal von Punkt Acht ist Stärke und die damit verbundene Aggression. Viele der bisher erwähnten Charaktereigenschaften bringen in irgendeiner Form Stärke oder forsche Aggression zum Ausdruck. Doch wir können diese Merkmale besser verstehen, wenn wir uns eine Vorstellung von der wahren essenziellen Qualität machen können, die diese Stärke imitiert.

 

Der idealisierte Aspekt: wahre Stärke

Die idealisierte Stärke von Punkt Acht ist eine Annäherung, eine schwache Imitation wahrer Stärke. Er empfindet Stärke physisch oder sozial als rohe Gewalt oder Charakterstärke. Doch das ist Stärke von einem tierischen Standpunkt aus gesehen. Dort herrscht das Gefühl vor, die Situation zu beherrschen, der Rudelführer oder der unangefochtene Leitwolf zu sein. Diese Stärke drückt sich bisweilen auf extreme Weise aus, wie bei Josef Stalin, der, ebenso wie Saddam Hussein, unvorstellbare Auswüchse von Brutalität und Aggression an den Tag legte. Ein reiferes und gemäßigteres Beispiel einer Acht ist Winston Churchill, der sich mutig gegen die Nazi-Aggression zur Wehr setzte und Großbritannien in den dunklen Jahren des Zweiten Weltkriegs führte, bis der Sieg errungen war. (…)

Diese Charaktereigenschaften geben uns ein Gefühl einer expansiven Stärke, die – wenn sie durch das Ego verzerrt wird – so vulgär, offensiv und grausam werden kann, dass sie Tyrannen und unbarmherzige Diktatoren hervorbringt. Die essenzielle Qualität herauszulocken setzt voraus, dass man den positiven und hochwirksamen konstruktiven Ausdruck von Aggression sieht. Wir müssen über das hinausgehen, was nicht menschlich, nicht akzeptabel und nicht sinnvoll erscheint – das, was destruktiv und dysfunktional ist –, um die positive Qualität aufzudecken, die das Ego nachzuahmen versucht.

Natürlich bringen verschiedene Achten die essenzielle Qualität der Stärke auf unterschiedliche Weise und mit unterschiedlichen Graden an Verzerrung, Nachahmung oder Annäherung zum Ausdruck. Nur durch genaue Beobachtung können wir die gemeinsamen Elemente erkennen, die in ihrer Gesamtheit auf das hindeuten, was hinter den fixierten Erscheinungsformen wahr ist.

 

Die Präsenz wahrer Stärke

© Maeghan Smulders auf Unsplash.com
© Maeghan Smulders auf Unsplash.com

Die wahre Qualität hinter dem Ich-Ideal der Acht ist die eigentliche Essenz von Aggression: die positive und nützliche Funktion authentischer, sich selbst behauptender Stärke. Doch da die Achten diese Qualität weder wirklich kennen noch verkörpern, tun sie in dem Bestreben, auf eine ichbezogene und primitive tierische Art stark zu sein, alles Erdenkliche, um ihr nachzueifern. Was sind die wahren Eigenschaften wahrer Stärke, des Seins? (…)

Wenn wir wahre Stärke erleben, fühlen wir uns stark, weil wir die Präsenz von Stärke an sich fühlen – wir sind voller Energie und Präsenz, die die Essenz der Lebenskraft ist. Die häufigste Erfahrung ist die, dass wir Hitze in der unteren Körperhälfte wahrnehmen, wie ein Feuer, das nicht brennt. Dieses kann optisch wie eine Flamme oder ein leuchtend rotes, loderndes Feuer wirken. Wahre Stärke ist ein Medium, das aus sich heraus leuchtet. Dieses Leuchten ist nicht nur das Leuchten von Gewahrsein und Sensibilität, sondern es zeichnet sich durch ein wunderschönes, herrliches rubinrotes Licht aus. Die feurige rote Präsenz ist mit einem besonderen, unverwechselbaren Affekt verbunden: dem Affekt der Stärke. Wir fühlen uns stark, weil wir von der Essenz der Stärke berührt oder erfüllt sind. Diese ist weder physisch noch tierisch, weder muskulär noch emotional, sondern organisch und angeboren, ein Teil dessen, was wir sind. Sie ist nicht etwas, das wir besitzen, sondern vielmehr eine Qualität dessen, wer wir sind, eine Qualität unseres eigenen Bewusstseins, ein Aspekt unseres Seins.

Außer als Feuer oder Flamme kann rote Stärke auch als fließende Lava erscheinen, als eine dichte Flüssigkeit, die durch das Becken, die Beine oder den gesamten Körper fließt. Sie kann auch wie eine rote, blutähnliche Flüssigkeit sein, die den Körper und das Bewusstsein durchströmt. Diese leuchtende und sich ihrer selbst bewusste Flüssigkeit ist sensibel und verbindet sich von Natur aus mit dem Gefühl von Kraft und Stärke – der Stärke des Seins, der Kraft des Geistes.

Wenn sich Menschen der Stärkeessenz zum ersten Mal bewusst werden, erkennen sie häufig nicht, dass es die Präsenz der Stärke ist, die sich selbst spürt und erkennt. Wir neigen dazu, zu glauben, dass wir sie als Ich-Persönlichkeit fühlen und erkennen. Es sind Neugier und Unterscheidungsvermögen erforderlich, um zu erkennen, dass wir Stärke gewöhnlich nicht auf diese Weise erleben und erkennen. Das Wissen um die Stärke stammt aus der Präsenz selbst; es stammt nicht aus erlerntem Wissen. Die Stärke hat ihre eigene Wahrnehmung; wir als Selbst spüren sie nicht. Es handelt sich hier um eine eigenständige Offenbarung, durch die die Dimension direkten Wissens, oder Gnosis, enthüllt wird. 

Stärke ist angeboren und elementar und sie schließt die platonische Form ein, die alle anderen Arten von Stärke beseelt – auf der physischen, emotionalen, mentalen, moralischen Ebene und so weiter. Sie ist der Prototyp von Stärke auf jeder Ebene, doch sie ist gleichzeitig eine Stärke, die rein ist und für sich steht, nicht die Stärke von etwas, sondern Präsenz als Stärke. Wie ich erwähnt habe, kann diese wahre Stärke in vielen Formen auftreten, doch unabhängig davon, wie sie erscheint, ist sie häufig heiß, hat immer eine wunderschöne rubinrote, reine, ja geradezu unwirkliche Farbe und ist rein in ihrem Affekt der Stärke. Wenn diese Präsenz auftaucht, haben wir das Gefühl, dass wir da und präsent sind, aber gleichzeitig stark. Wenn wir sie vollständig und auf nicht-dualistische Weise spüren – was bedeutet, dass wir in unserem individuellen Bewusstsein untrennbar mit ihrer Präsenz verbunden sind –, dann haben wir das Gefühl, dass wir die Präsenz von Stärke, reine Stärke, die wahre Essenz von Stärke tatsächlich sind.

Die meisten Menschen kennen die weit verbreitete Eigenschaft physischer oder emotionaler Stärke, doch nur wenige sind sich bewusst, dass sie einen spirituellen Ursprung, ein himmlisches Pendant hat.

 

Textauszug mit freundlicher Genehmigung des Kamphausen Media Verlages.

 

A.H. Almaas: Enneagramm – Der Schlüssel zum Erwachen

204 S., 20 €

 

 

Siehe auch unter Wortwelten auf S. 58.


April - August 2023


RAIN sagt Ja zum Leben

Bild: © Bru-nO – pixabay.com
Bild: © Bru-nO – pixabay.com

Autorin: Tara Brach

Zwischen Reiz und Reaktion gibt es einen Raum,

und in diesem Raum haben wir die Freiheit und

die Macht, unsere Reaktion zu wählen.

Viktor Frankl

 

Das vorliegende Buch habe ich geschrieben, um eine Praxis des radikalen Mitgefühls mit Ihnen zu teilen, die die Schwingen der Achtsamkeit und des Mitgefühls zum Leben erweckt, wenn wir sie am meisten brauchen. Sie hilft, schmerzhafte Überzeugungen und Gefühle, die uns daran hindern, in Übereinstimmung mit uns zu leben, zu heilen und loszulassen. Diese Praxis nennt sich RAIN. Der Name ist im Englischen ein Akronym, das für vier Schritte steht: Recognize (Erkennen), Allow (Zulassen), Investigate (Erkunden) und Nurture (Nähren). Die Arbeit mit diesen vier Schritten hat mir einen zuverlässigen Weg hin zu Heilung und Freiheit eröffnet, der sich auch inmitten von emotionalem Schmerz gehen lässt.

 

Die ersten beiden RAIN-Schritte

Die einschneidendsten Transformationen in unserem Leben gehen auf etwas sehr Simples zurück: Wir lernen, mit dem, was in uns vorgeht, in Resonanz zu gehen, statt nur darauf zu reagieren. Was passiert zum Beispiel, wenn jemand Wut oder Angst bei uns auslöst? Reagieren wir gewöhnlich so, dass wir uns in uns zurückziehen, andere beschuldigen oder sie verletzen oder dass wir uns als Opfer fühlen, dann steigern wir das in Trance verursachte Leid nur noch. Wecken wir stattdessen mithilfe der ersten beiden RAIN-Schritte – Erkennen und Zulassen – eine achtsame Präsenz in uns, dann sind wir auf einem Pfad, der unser Herz befreit.

 

Zum Tee mit Mara

Einer der größten Mythen der buddhistischen Tradition zeigt, wie wir angesichts von Schwierigkeiten diesen Weg gehen können.

Vielleicht kennen Sie Bilder des Buddha, wie er die ganze Nacht unter dem Bodhi-Baum sitzt und meditiert, bis er die vollkommene Erleuchtung erlangt. Der Schattengott Mara (der die universellen Energien von Gier, Hass und Täuschung verkörpert) lässt sich alles Mögliche einfallen, um ihn zum Scheitern zu bringen: Er schickt ihm gewaltige Stürme, wunderschöne Frauen als Versuchung, wütende Dämonen und große Armeen, um ihn abzulenken. Siddhartha begegnet allen mit einer wachen, mitfühlenden Präsenz, und als der Morgenstern am Himmel erscheint, wird er zu einem Buddha, einem vollkommen erwachten Wesen.

Aber das war nicht das Ende seiner Beziehung zu Mara!

In den fünf Jahrzehnten nach seiner Erleuchtung bereiste der Buddha Nordindien und lehrte überall dort, wo die Menschen interessiert waren, am Pfad der Präsenz, des Mitgefühls und der Freiheit. Auf Feldern und in Hainen, in Dörfern und an Flussufern – an all diesen Orten versammelten sich Bauern und Händler, Stadtleute und Adlige, Mönche und Nonnen, um seine weisen Lehren anzuhören.

Und wie Zenmeister Thich Nhat Hanh erzählt, erschien mitunter auch Mara. Wenn ihn Ananda, der treue Begleiter des Buddha, erblickte, wie er verstohlen am Rand einer Versammlung lauerte, lief er alarmiert zum Buddha. »Schreckliche Nachricht, der Bösewicht ist wieder da! Wir müssen etwas tun!« Worauf der Buddha Ananda liebevoll anschaute. »Nicht doch, Ananda«, antwortete er. Dann schlenderte er zu Mara und sagte ihm mit fester, sanfter Stimme: »Ich sehe dich, Mara … Komm, lass uns Tee trinken.« Und der Buddha lud Mara als Ehrengast und servierte ihm Tee.

 

Das können auch wir tun. Stellen Sie sich vor, Mara erscheint in Ihrem Leben in der Gestalt einer Woge von Angst vor dem Scheitern oder einer Verletzung durch Missachtung oder mangelnden Respekt von jemandem. Wie wäre es, wenn Sie innehalten und Mara erkennend sagen würden: »Ich sehe dich, Mara.« Und zulassend: »Lass uns Tee trinken.« Statt die Gefühle zu vermeiden, statt vor Wut um sich zu schlagen oder sich selbstkritisch zu geißeln, lassen Sie sich so mit mehr Klarheit und Würde, Freundlichkeit und Leichtigkeit auf das Leben ein. Mit diesen ersten beiden RAIN-Schritten haben Sie den Pfad in die Freiheit eingeschlagen. 

In meinen Augen ist diese Geschichte vom Buddha für uns alle eine gute Nachricht. Selbst dem Buddha begegneten auch weiterhin die schmerzhaften Energien Maras. Wir sind nicht die Einzigen, die sich immer wieder mit Stürmen der Verwirrung, mit widersprüchlichen Wünschen, mit den Pfeilen von Angst, Verletzung oder Wut auseinandersetzen müssen. Darüber hinaus verfügen wir über eine Übung, die uns mitten in all dem befreien und erwecken kann!

Fragen Sie sich: »Wann ist Mara das letzte Mal da gewesen?« Vielleicht mögen ja auch Sie das nächste Mal zu ihm sagen: »Ich sehe dich, Mara … Komm, lass uns Tee trinken.«

 

Nein zu sagen ist eine Angewohnheit

Indem der Buddha Mara zum Teetrinken einlud, sagte er Ja zum jetzigen Augenblick und Ja zum Leben insgesamt. Unsere Gewohnheit, Nein zu sagen – uns zu wehren oder eine Erfahrung zu vermeiden –, schafft nur umso mehr Leid. Stellen Sie sich vor, was passiert, wenn Mara in der Gestalt von Angst, Hass, Wut oder Verletzung erscheint. Der Kopf sagt Nein, indem er sofort davon ausgeht, dass irgendetwas nicht stimmt, indem er etwas oder jemanden beschuldigt und versucht, das Problem zu beseitigen. Unser Körper sagt Nein, indem er sich anspannt oder taub wird; unser Herz sagt Nein, indem es sich verbarrikadiert oder verschließt. Mit unserem Verhalten sagen wir Nein, wenn wir um uns schlagen, uns zurückziehen oder in Besorgnis geraten. (…)

Ja zu sagen ist unvertraut und desorientierend, es fühlt sich in gewisser Weise riskant an. Unsere Grundkonditionierung angesichts einer Bedrohung besteht darin, uns anzuspannen und Nein zu sagen. Wenn ich meine Schüler in Workshops bitte, sich an eine schwierige Situation zu erinnern, ermutige ich sie zu beobachten, auf wie viele verschiedene Arten sich Körper und Geist gegen die in ihnen auftauchenden Emotionen wehren. Die Schüler erleben dann, häufig gepaart mit Traurigkeit, wie ihre Bemühungen, sich zu schützen, in Wahrheit zu nur noch mehr Schmerz in ihrem Leben führen.

Ein Mann, der als Kind gemobbt worden war, hatte dadurch einen inneren, kritischen Supervisor, der ihm regelmäßig schlechte Leistungen bescheinigte. Als er eine gerade erlebte Konfrontation noch einmal durchspielte, konnte er spüren, wie sich sein Magen vor Angst zusammenzog und sein Herz schneller schlug. Statt sich nach solchen Konfrontationen die Zeit zu nehmen und sich für seine Erfahrung zu öffnen (Ja zu ihr zu sagen), ging er regelmäßig sofort dazu über, sich dafür zu rügen, dass er sich eingeschüchtert fühlte, und tobte innerlich gegen seinen Supervisor. Dann stürzte er sich wieder in die Arbeit, erledigte seine Schreibarbeiten noch hektischer, machte dabei noch mehr Fehler und kommunizierte noch unklarer. Sein Nein erhielt sein Gefühl, ungenügend und Opfer zu sein, aufrecht.

Eine ältere Frau mit einem erwachsenen Sohn, der sich von ihr entfremdet hatte, spürte ihrem unbewussten Nein bis in seine gelegentlichen E-Mails nach. Sie las dann seine knappen Mitteilungen, fragte sich unter Tränen »Womit habe ich das verdient?« und steigerte sich in Zwangsvorstellungen über ihre Schwiegertochter hinein, die sie für ihr Problem verantwortlich machte. Ihr wurde klar, dass ihr Groll gegen die Schwiegertochter unvermeidlich in ihren E-Mail-Antworten durchscheinen musste. Sie begriff, dass ihr eigenes Nein sie in dem Gefühl festhielt, nicht gemocht und abgewiesen zu werden.

Welche Form unser Nein auch immer annimmt, es ist eine Art, sich gegen die Wirklichkeit zu wehren und zu versuchen, den blanken Schmerz emotionalen Leidens zu vermeiden. Doch kann das Nein auch zu dem Marker werden, der uns zeigt, dass wir in Trance sind und unsere Aufmerksamkeit schärfen müssen. Je schneller wir uns unseres Neins bewusst werden, desto besser können wir Mara antworten. Die schwierigen Situationen, die gewöhnlich das Nein hervorrufen, sind perfekte Gelegenheiten, mit dem tiefen Ja zu experimentieren, das sich in unseren Eingangsschritten zu RAIN, im Erkennen und Zulassen, ausdrückt. (…)

 

Das, was Sie üben, wird gestärkt

Ich erzähle den Schülern gern die Geschichte von einem Mann, der auf ein Achtsamkeits-Retreat geht, weil sein Therapeut ihm gesagt hat, wenn er meditieren lerne, werde er sich besser fühlen. Das Retreat wird für ihn zu einer echten Achterbahnfahrt. Er erlebt zwar schon Momente der Ruhe, ja, aber er taucht auch tief in Angst, Wut und Trauer ein. Als er das nächste Mal zu seinem Therapeuten geht, sagt er ihm, er habe schrecklich gelitten. »Wie konnten Sie mir versprechen, ich würde mich besser fühlen?« Weise nickend, antwortet der Therapeut: »Sie fühlen sich besser … Sie fühlen Ihre Angst besser, fühlen Ihre Wut besser, fühlen Ihre Trauer besser!«

Wegen des Wiedererkennungseffekts erntet die Geschichte immer einen Lacher. Die Achtsamkeitsmeditation – das Erkennen und Zulassen von RAIN – trainiert uns darin, aus unseren abschweifenden Gedanken aufzuwachen und die Umkehr zu vollziehen, indem wir unserer augenblicklichen, körperlichen Erfahrung unsere volle Aufmerksamkeit schenken. Zwangsläufig werden wir dann allem begegnen, was wir zu vermeiden versucht haben – der Einsamkeit, den Verletzungen und Ängsten. Doch wenn wir regelmäßig üben, entdecken wir, dass wir mitten im Sturm ausgewogen, warmherzig und offen präsent bleiben können.

 

Dank neuesten Erkenntnissen über die Neuroplastizität wissen wir heute, dass sich unser Gehirn bis an unser Lebensende verändern kann. Das bedeutet, dass sich selbst die am tiefsten verwurzelten und schädlichsten Gewohnheiten dekonditionieren lassen. Der Satz, der dies am besten erfasst und auf Englisch fast wie ein Sprichwort klingt, lautet: Neurons that fire together, wire together. (Neuronen, die gemeinsam feuern, verschalten sich miteinander.) Unsere Gewohnheiten werden durch sich wiederholende Denk-, Fühl- und Verhaltensmuster, die neuronale Netzwerke im Gehirn gebildet und gestärkt haben, aufrechterhalten. Indem wir unsere Denk-, Fühl- und Verhaltensmuster ändern, können wir auch diese neuronalen Netzwerke verändern.

Viele Studien haben gezeigt, dass Achtsamkeit die Struktur und Funktionsweise des Gehirns direkt und positiv beeinflusst. Befinden wir uns dagegen in Trance, werden wir hektisch, machen uns Sorgen oder fangen an zu werten, sobald uns Stress begegnet, und so vertiefen wir die auf Angst beruhenden Furchen in unserem Geist noch. Werden wir angesichts von Stress dagegen achtsam, lernen innezuhalten, erkennen unsere Erfahrung an und lassen sie zu, wird etwas anderes möglich. Statt auf unsere flüchtigen Wünsche und Ängste zu reagieren, können wir von einem Ort tieferer Intelligenz, Kreativität und Fürsorge aus auf unsere Umstände eingehen. Dies stellt eine neue Struktur, neue Nervenbahnen im Gehirn her, die mit echtem Wohlbefinden und Frieden einhergehen. Je öfter Sie Ja sagen zu Erfahrungen, umso stärker wird dieses Ja in seiner Offenheit und Präsenz in den lebenden Zellen verkörpert und Ihre Lebenserfahrung insgesamt mitformen.

 

Textauszug aus mit freundlicher Genehmigung des O.B. Barth Verlages.

Siehe auch unter „Wortwelten“.

 

Dein furchtloses Herz

Tara Brach

288 S., O.W. Barth Verlag, 20 €

 


Dezember 2022 - April 2023


Grüne Tara - Freie Frau

Foto: © Karin Henseler – www.pixabay.com
Foto: © Karin Henseler – www.pixabay.com

Autorin: Sylvia Wetzel

 

Am Vollmondtag Ende Juli 1977 kam ich morgens um acht Uhr im nordindischen Dharamsala, dem Residenz-Dörfchen des Dalai Lama, an. Ich war etwas müde und aufgedreht nach dem Flug von Hongkong nach Delhi, einer Fahrt mit dem Nachtzug im Ladies’ Compartment von Delhi bis Pathankot und drei Stunden Busfahrt auf dem Dach beim Gepäck, bei Vollmond und Sonnenaufgang. Wie es Schicksal oder Zufall so wollten, saß ich schon nachmittags um drei Uhr in einer Guru-Puja in der Library of Tibetan Works and Archives. Mitten im Singen tibetischer Verse, mit englischer Übersetzung in unserem Puja-Heft, spürte ich: »Ja. Ich bin angekommen«. Mein Verstand fand und erfand in den vergangenen mehr als vierzig Jahren viele gute Argumente, um diese Erfahrung irgendwie zu verstehen.

Ich blieb bis Ende Oktober in Dharamsala, etwa 1500 Meter ü.d.M., studierte an der Tibetan Library, d. h. ich hörte täglich einen Vortrag über Buddhismus zu Shantidevas poetischen Versen zum Bodhisattva-Weg, lernte meditieren und besuchte einen Tibetischkurs. Ich ging in den Ausläufern des Himalaya mit neuen Dharma-Freundinnen und Weggefährten wandern und genoss die grandiose Aussicht ins indische Tiefland. Gut zwei Wochen später, Mitte August 1977, hörte ich den ersten Vortrag über die Grüne Tara – und spürte noch einmal: »Ja. Ich bin angekommen«. Anfang 1977 war dieser Vortragszyklus angekündigt worden, und alle hatten sich seit Monaten darauf gefreut. Während dieser Tara-Woche wuchsen die etwa fünfzehn Frauen unter den rund dreißig Hippies, die zuhörten, gefühlt jeden Tag um einen Zentimeter.

 

Als der tibetische Lama Geshe Ngawang Dhargyey die Tara-Legende erzählte, amüsierte ich mich über die kluge feministische Widerlegung der patriarchalen Scheinargumente der Mönche durch die Prinzessin Mondengleiche Weisheit, jnana chandra, tib. yeshe dawa, die Tara in spe. Die Mönche empfahlen ihr, sie solle sich mit ihren übersinnlichen Kräften noch in diesem Leben in einen Mann verwandeln oder sich von Herzen wünschen, wenigstens im nächsten Leben als Mann wiedergeboren zu werden. Sie hörte sich die gutgemeinten naiven Wünsche der Mönche an, zerpflückte sie mit dem unschlagbaren Argument der Leerheit von Zuschreibung und überraschte sie mit einem revolutionären Entschluss.

Prinzessin Mondengleiche Weisheit sagte sinngemäß: »Habt ihr noch nie davon gehört, dass alle klugen Konzepte bestenfalls angemessene Zuschreibungen sind? Ich habe lange danach gesucht, aber noch nie das wahre Wesen einer Frau oder eines Mannes gefunden, immer nur kulturelle Zuschreibungen. Und aus dem Grund gelobe ich, in allen künftigen Leben als Frau wiedergeboren zu werden und als Frau zu erwachen, als Inspiration für Frauen und als fassbarer Beweis für Männer, dass Frauen genauso erwachen können wie Männer«. Sie erfüllte ihr Gelübde, erwachte als Frau und wird seit rund zweitausend Jahren in Indien und seit dem 11. Jahrhundert in Tibet von Frauen und Männern aller Schichten der Bevölkerung verehrt. (…)

 

Wie kommt ein katholisch aufgewachsenes Schwarzwaldmädel, das 1968 Abitur machte und mit der linken und feministischen Szene der 1970er-Jahre in Berlin vertraut war, dazu, mit einer weiblichen grünen Lichtgestalt aus Tibet zu meditieren? Diesen Weg will ich in diesem Buch nachzeichnen. (…) Das Buch ist Ausdruck meiner Dankbarkeit für einen Weg, der mein Leben tiefgreifend verändert hat. Es will und kann keine definitive Interpretation des Buddhismus und der Praxis der Grünen Tara geben, und das kann vermutlich auch niemand. Es will zu einem wohlwollenden und kritischen Blick auf die eigene buddhistische Praxis anregen und Mut machen zu einer alten Imaginations-Übung mit einem weiblichen Bild des Erwachens. In kleinen Essays beschreibe ich den Reichtum buddhistischer Überlegungen so lebendig und nachvollziehbar wie möglich.

 

Dieses Buch richtet sich vor allem an Personen, die die Praxis der Grünen Tara bereits kennen und schätzen, mit der tibetischen Tradition vertraut sind oder eine andere Gottheiten-Praxis üben. Wer in einer anderen Tradition des Buddhismus übt, fragt sich vielleicht, was denn diese vielen Bilder und Mantras und liturgischen Gebete für moderne Menschen bedeuten können und sollen. Vielleicht lesen es auch Menschen, die nach einem Weg suchen, der nicht nur den Verstand und die Neigung zur Selbstoptimierung anspricht, sondern Herz und Geist berührt und beruhigt und für die vielen Dimensionen der Wirklichkeit öffnet, die unser Herz ahnt.

 

Für mich war und ist die ungewöhnliche Verbindung von berührenden Bildern und Gesängen, von körperlichen Gesten und klugen und intellektuell anspruchsvollen Erklärungen und Hinweisen ein Schatz. Der Schatz im Acker oder unter der Türschwelle und die blaue Blume im eigenen Garten. Tara-Praxis hat mir den Weg »nach Hause«, zu der Quelle von Liebe und Einsicht, von Vertrauen und klugem Handeln gezeigt. Und sie schenkt mir immer wieder Zuversicht, wenn Herz und Geist eng werden oder ich glaube, ich müsste alles alleine schaffen und in den Griff bekommen.

Weil die Tara-Praxis uns als ganze Menschen erfassen will und soll, braucht sie wie jede spirituelle oder religiöse Übung eine persönliche, direkte und analoge Einführung durch eine Person, die diese Übung schätzt, selbst lange übt und zu ihrer Weitergabe autorisiert wurde. Aus dem Grund stelle ich die gesprochene Tara-Praxis oder unsere gesungene Puja nicht öffentlich als Audioaufnahmen zur Verfügung und auch nicht als Download ins Internet. Die Übung entfaltet ihre volle Wirkung nach meiner Erfahrung erst dann, wenn wir sie im Rahmen von Kursen mit erfahrenen Lehrerinnen kennenlernen und über längere Zeit alleine und gemeinsam mit anderen und einer guten Begleitung üben.

 

Möge dieses Buch Ihre Zuversicht stärken, dass es in Ihnen und allen Menschen aller Kulturen und Religionen und auch in Atheistinnen, Agnostikern und Menschen, die wir nicht verstehen, seltsam finden oder ablehnen, die Anlagen für kluges und mitfühlendes Leben und Handeln gibt. Wir können diese Anlagen in uns allen stärken durch die eigene Übung und ein mitfühlendes und ethisches Verhalten. Und durch Dankbarkeit und Wertschätzung für die über hundert Generationen von Meistern und Lehrerinnen und ihrer Schüler und Nachfolgerinnen, die seit der Zeit des historischen Buddha vor zweieinhalbtausend Jahren die Lehren bewahrt und aufgeschrieben, übersetzt und kommentiert, für ihre Zeit neu interpretiert und weitergegeben haben.

Möge meine freie Interpretation der Praxis der Grünen Tara Ihr Herz öffnen und Ihren Geist klären, zum eigenen Wohl und dem aller.

 

Textauszug mit freundlicher Genehmigung der Edition Steinrich. 

Siehe auch unter "Wortwelten".

 

Grüne Tara – Freie Frau

Sylvia Wetzel

Edition Steinrich, 440 S., 36 €

 


August - Dezember 2022


Gegen den Strich - die Tonglen-Praxis

© Foto: Ian Lindsay auf Pixabay.com
© Foto: Ian Lindsay auf Pixabay.com

Autorin: Pema Chödrön

 

Damit wir Mitgefühl für andere empfinden können, müssen wir Mitgefühl mit uns selbst haben. Speziell wenn es um Mitgefühl für Menschen geht, die ängstlich, zornig, eifersüchtig, abhängig von Süchten, arrogant, stolz, geizig, selbstsüchtig, gemein oder was auch immer sind: Wenn wir uns um diese Menschen kümmern wollen, dürfen wir nicht vor der schmerzlichen Entdeckung all dieser Eigenschaften in uns selbst davonlaufen. Tatsächlich ist es möglich, dass sich unsere Einstellung dem Leiden gegenüber vollkommen verwandelt. Statt Schmerz auszugrenzen und uns vor ihm zu ducken, können wir unser Herz öffnen und uns gestatten, den Schmerz als etwas zu empfinden, das uns aufweicht und reinigt und uns liebevoll und sanftmütig macht.

 

Tonglen ist eine Praxis, die uns mit dem Leiden in Kontakt bringt – unserem eigenen und all dem, auf das wir stoßen, wo immer wir uns hinwenden. Tonglen ist eine Methode, um unsere Angst vor dem Leiden zu überwinden und die Enge unseres Herzens aufzulösen. Zuallererst aber weckt diese Praxis das Mitgefühl, das wir alle in uns tragen, gleichgültig, für wie grausam oder kalt wir uns halten.

 

Wir beginnen die Übung damit, dass wir uns eines Menschen annehmen, von dessen Leiden wir wissen und dem wir helfen möchten. Wenn wir zum Beispiel von einem Kind wissen, das verletzt wurde, atmen wir mit dem Wunsch ein, allen Schmerz und alle Angst dieses Kindes auf uns zu nehmen. Und wenn wir ausatmen, senden wir Glück, Freude und alles, was dem Kind Linderung verschafft. Das ist der Kern der Praxis: Man atmet das Leid anderer ein, damit es ihnen gut geht und sie mehr Raum finden, sich zu entspannen und zu öffnen, und mit dem Ausatmen sendet man Entspannung und alles, von dem man glaubt, dass es dem anderen Linderung verschafft und Glück bringt.

 

Häufig misslingt uns diese Übung jedoch, weil wir mit unserer eigenen Angst, unserem Widerstand, Zorn oder was immer unser persönlicher Schmerz gerade sein mag, konfrontiert sind. In diesem Fall ändern wir die Ausrichtung der Praxis und üben Tonglen für das, was wir gerade empfinden und für die Millionen anderen Menschen, die sich in diesem Augenblick ebenso festgefahren und elend fühlen wie wir. Vielleicht können wir unseren Schmerz beim Namen nennen. Wir erkennen ihn klar als panische Angst, als Abscheu, Zorn oder Rachsucht. Also atmen wir für alle Menschen ein, die in der gleichen Emotion gefangen sind, und wir senden Linderung, alles, was uns selbst und den zahllosen anderen wieder Raum schafft. Vielleicht können wir unser Gefühl nicht beim Namen nennen. Aber fühlen können wir es – unser Magen zieht sich zusammen, eine schwere Dunkelheit lastet auf uns oder ähnliches. Wir berühren einfach, was wir fühlen und atmen es ein, wir nehmen es in uns auf und senden mit dem Ausatmen Erleichterung für uns selbst und alle anderen aus.

 

Viele Menschen sagen, diese Übung ginge unseren gewohnten Reaktionen völlig gegen den Strich. Ehrlich gesagt, diese Praxis geht uns tatsächlich gegen den Strich. Sie torpediert unseren Wunsch, dass alles nach unserer Pfeife tanzt, unsere Erwartung, dass alles in unserem Sinn ausgeht, egal, was die anderen brauchen. Die Praxis von Tonglen reißt die Mauern nieder, die wir um unser Herz gebaut haben. Sie löst die Schichten des Selbstschutzes auf, die wir so angestrengt zu errichten versucht haben. Buddhisten würden sagen, diese Praxis löst die Fixierung und das Anhaften des Ich.

 

Tonglen stellt die übliche Logik, nach der wir Leid aus dem Weg gehen und Vergnügen suchen, auf den Kopf. Im Verlauf dieser Übung befreien wir uns von uralten selbstsüchtigen Gewohnheitsmustern. Wir beginnen, sowohl uns selbst als auch andere zu lieben; wir beginnen, sowohl für uns selbst als auch für andere zu sorgen. Tonglen weckt unser Mitgefühl und schenkt uns eine weitere Sicht der Wirklichkeit. Es zeigt uns die unbegrenzte Offenheit von Shunyata. Durch die Praxis von Tonglen kommen wir allmählich in Kontakt mit der offenen Dimension unseres Seins. Es beginnt damit, dass wir die Welt nicht länger als großes Drama sehen. Wir erkennen, dass nichts so solide ist, wie wir angenommen hatten.

 

Man kann Tonglen für Menschen praktizieren, die krank sind, die im Sterben liegen oder bereits gestorben sind, für alle, die auf irgendeine Weise leiden. Man kann Tonglen im Rahmen einer formellen Meditation üben oder jederzeit und überall. Wir machen einen Spaziergang und sehen jemanden, der leidet – direkt an Ort und Stelle können wir den Schmerz dieses Menschen einatmen und Linderung ausatmen. Oder wir wenden uns wie gewohnt ab, sobald wir Leiden begegnen. Der Schmerz bringt unsere eigene Angst und unseren Zorn zum Vorschein; er konfrontiert uns mit unseren eigenen Widerständen und unserer Verwirrung. Sofort können wir dann Tonglen für alle üben, denen es genauso geht wie uns, für alle also, die mitfühlend sein wollen, aber ängstlich sind, die mutig sein möchten, aber feige sind. Statt uns selbst abzukanzeln, können wir unsere persönliche Unbeweglichkeit als Sprungbrett nutzen, um zu verstehen, womit Menschen in der ganzen Welt zu kämpfen haben. Atmen Sie für uns alle ein und aus. Machen Sie aus dem scheinbaren Gift eine Medizin. Wir können unser eigenes Leiden als Pfad zum Mitgefühl für alle Wesen nutzen.

 

Wenn Sie jetzt Tonglen üben möchten, atmen Sie einfach ein und aus, nehmen Sie Schmerz an, und senden Sie Offenheit und Linderung aus.

Wenn Sie Tonglen im Rahmen einer formellen Meditationspraxis üben, halten Sie sich an vier Stufen:

  1. Lassen Sie Ihren Geist zuerst für ein oder zwei Sekunden in einem Zustand von Offenheit oder Stille ruhen. Diese Stufe wird traditionell das Aufblitzen absoluten Bodhichittas genannt: Plötzlich öffnen Sie sich der fundamentalen Offenheit und Klarheit.
  2. Dann arbeiten Sie mit materieller Struktur. Atmen Sie ein Gefühl von heiß, dunkel und schwer ein – eine Empfindung von Klaustrophobie –, und atmen Sie ein Gefühl von kühl, hell und leicht aus – eine Empfindung von Frische. Atmen Sie vollständig ein, durch alle Poren Ihres Körpers, und atmen Sie ebenso vollständig durch alle Poren Ihres Körpers aus. Üben Sie das so lange, bis es mit Ihrem Atemrhythmus synchron läuft.
  3. Nun arbeiten Sie mit einer persönlichen Situation. Sie können jede schmerzhafte Situation nehmen, die real für Sie ist. Traditionell beginnt man die Übung von Tonglen mit jemandem, der einem am Herzen liegt und dem man helfen möchte. Wenn man sich blockiert fühlt, kann man die Praxis jedoch ohne weiteres auch auf den eigenen Schmerz anwenden und zugleich für alle üben, denen es ähnlich geht. Wenn Sie sich zum Beispiel überfordert fühlen, dann atmen Sie dieses Gefühl für sich selbst und alle anderen, die im selben Boot sitzen, ein, und senden Sie mit dem Ausatmen Vertrauen und Kompetenz oder Erleichterung in jeder beliebigen Form aus.
  4. Schließlich dehnen Sie das Nehmen und Geben weiter aus. Wenn Sie Tonglen für einen geliebten Menschen üben, dehnen Sie Ihre Praxis auf die aus, die sich in der gleichen Situation befinden wie Ihr Freund. Wenn Sie Tonglen für jemanden üben, den Sie im Fernsehen oder auf der Straße gesehen haben, praktizieren Sie auch für alle anderen, die im selben Boot sitzen. Gehen Sie über den einen Menschen hinaus. Wenn Sie Tonglen für alle üben, die denselben Ärger, dieselbe Angst, dasselbe Leiden spüren wie Sie selbst, dann denken Sie wahrscheinlich weit genug. Aber in jedem Fall können Sie immer noch weiter gehen. Sie können Tonglen zum Beispiel auch für Ihre Feinde üben, für diejenigen, die Ihnen selbst oder anderen wehtun. Stellen Sie sich vor, dass sie unter derselben Verwirrung, derselben Unbeweglichkeit leiden wie Sie selbst und Ihre Liebsten. Atmen Sie ihr Leiden ein, und senden Sie ihnen Linderung.

Tonglen lässt sich unendlich ausdehnen. Wenn Sie die Praxis regelmäßig üben, nimmt Ihr Mitgefühl im Lauf der Zeit ganz natürlich zu, ebenso Ihre Erkenntnis, dass alles weniger solide ist, als Sie geglaubt haben. Wenn Sie die Praxis allmählich in Ihrem eigenen Tempo üben, werden Sie überrascht sein, wie sehr es Ihnen mehr und mehr gelingt, für andere da zu sein, selbst in Situationen, die Sie sich früher nicht einmal hatten vorstellen können.

 

Textauszug mit freundlicher Genehmigung des Goldmann Verlages. 

Pema Chödrön: „Wenn alles zusammenbricht“, Goldmann Vlg., 224 S., 8 €. Mehr zum Buch: www.buchhandlung-plaggenborg.de 

Siehe auch unter „Wortwelten E-Books“.


April - August 2022


Nachruf auf Thich Nhat Hanh

© Karl-Heinz Plaggenborg
© Karl-Heinz Plaggenborg

Autor: Manfred Folkers

 

Am 22.1.2022 ist der am 11.10.1926 geborene Dharma-Lehrer und Friedensarbeiter Thich Nhat Hanh in seiner vietnamesischen Heimat gestorben. Er war 80 Jahre lang Mönch und lebte 50 Jahre im Exil in Frankreich. Er war engagierter Buddhist und Schriftsteller. Seine rund 100 Bücher wurden in viele Sprachen übersetzt. Er gründete mehrere Klöster (plumvillage.org) und das europäische Institut für angewandten Buddhismus in Waldbröl (eiab.eu).

 

Im Rahmen der vom Kulturamt der Stadt Oldenburg organisierten Vortragsreihe ‘Orientierung in bedrohlicher Zeit‘ sprach Thich Nhat Hanh am 21. Mai 1993 im völlig überfüllten Großen Saal des PFL zum Thema ‘Innerer Friede Äußerer Friede - Buddhistische Anregungen für westliche Lebensgestaltung‘. Später leitete er eine Geh-Meditation vom PFL zum Mahnmal für die Opfer des Nationalsozialismus. Diese Veranstaltungen bewirkten ein großes Interesse am Thema ‘Achtsamkeit‘, das zur Gründung des gemeinnützigen Vereins ‘Achtsamkeit in Oldenburg‘ führte und letztlich auch dem Magazin ‘Achtsames Leben‘ seinen Namen gab.

 

Drei Jahre später organisierte das Kulturamt unter dem Titel ‘Mit dem Herzen verstehen‘ einen weiteren Vortrag mit Thich Nhat Hanh, dem über 1.000 Interessierte in der Aula der Cäcilienschule beiwohnten. Wie 1993 leitete er anschließend ein 6-tägiges Retreat im Seminarhaus Hof Oberlethe bei Wardenburg; weitere Retreats folgten 2001 und 2005.

 

Bevor er Vietnam verlassen musste, hatte er eine ‘Schule für soziale Dienste‘ gegründet, deren zahlreiche Mitglieder sich intensiv dem Beheben von Kriegsfolgen widmete. Außerdem war er damals schon als Dichter beliebt. Seine Fähigkeit, tiefe spirituelle Erfahrungen in einer einfachen Sprache zu beschreiben, machte ihn auch später weit über buddhistische Kreise hinaus bekannt.

 

Als Buddhist war Thich Nhat Hanh traditionsübergreifend unterwegs, wobei es ihm gelang, wichtige Aspekte der Buddha-Lehre (Dharma) zeitgenössisch zu interpretieren. So bearbeitete er die Auffassung, Leiden sei ein Merkmal des Daseins, indem er betonte, dass die Überwindung von Leid zwar das zentrale Ziel des Dharma, aber Leiden kein Grundelement von Existenz ist. Er befreite das Wiedergeburtskonzept von esoterischen Annahmen, indem er von Fortdauer sprach und das Leben des einzelnen Menschen mit einer Welle verglich, die immerzu auch Wasser ist. Außerdem erläuterte er eine Kernaussage des Dharma (‘Alles ist ohne eigenständiges Selbst‘), indem er sie aus dem Herz-Sutra ableitete und mit dem Satz veranschaulichte: ‘Leer von einem eigenständigen Selbst zu sein bedeutet, erfüllt zu sein von allem‘. Das Ziel aller meditativen Methoden (die eigene Anwesenheit achtsam wahr- und annehmen) erreichte er mit den Worten: ‘Einatmend verweile ich ganz im gegenwärtigen Augenblick - ausatmend weiß ich, dass es ein wundervoller Augenblick ist‘. 

 

Thich Nhat Hanh gehört neben dem Dalai Lama zu den bekanntesten Dharma-Lehrenden der Gegenwart. Mit seinem Tod haben wir zwar einen achtsamen Menschen verloren, aber uns bleibt die Praxis einer ökologisch orientierten Seinslehre, die uns hilft, unsere Verabredung mit dem Leben einzuhalten und unsere Integration in das Universum als waches Wesen zu erfahren. 


Dezember 2021 - April 2022


Der erste Schritt - Orientierung

© Jan Huber auf Unsplash.com
© Jan Huber auf Unsplash.com

Autor: David Steindl-Rast

 

Freunde erzählten mir von ihrem Zweijährigen: „Wenn er morgens aufwacht, muss er sich zuerst zurechtfinden, er sucht seine Orientierung. Wir hören ihn in seinem Kinderbett nebenan mit sich selber reden. Er orientiert sich, indem er die Dinge in seinem Zimmer eins nach dem andren beim Namen nennt und eine ganze Litanei neu erlernter Wörter laut wiederholt: ,Decke, Lampe, Teddybär‘.“ Nicht nur als Kinder, sondern unser Leben lang  verwenden wir Wörter, um unsren Weg durch das Labyrinth dieser verwirrenden Welt zu finden, um uns zu orientieren.

 

Das Wort Orientierung kommt wie „Orient“ aus dem Lateinischen, wo „oriens“ auf den „Sonnenaufgang“, den „Osten“ hinweist. Wenn wir wissen, wo die Sonne aufgeht, können wir alle andren Himmelsrichtungen bestimmen und uns auf unser Ziel ausrichten. Manche Wörter können uns auf ähnliche Weise den Weg weisen. Sie strahlen auf wie Leuchtturmlichter und leiten uns verlässlich durch stürmische See. Solche leuchtenden Wörter können zu Schlüsselwörtern werden, die uns neue Erkenntnisse eröffnen. Wir müssen nur „der Sprache nachdenken“; lernen, wie man einem Pfad durch Wiesen nachgeht und sich dabei Blume um Blume an neuen Entdeckungen freut. „Der Sprache nachdenken“ ist ein Ausdruck, den der Philosoph Martin Heidegger (1889–1976) geprägt hat. Ich habe schon vor langer Zeit die Freude entdeckt, die diesem Nachdenken entspringt. Es lehrt uns, den Einsichten große Aufmerksamkeit zu schenken, die unsre Vorfahren als Spuren ihres Denkens in der Sprache zurückgelassen und uns so vererbt haben. So wie wir versuchten ja auch sie, sich in der Welt und im Leben zurechtzufinden. Auch sie suchten nach verlässlichen Koordinaten für innere Ausrichtung und spirituelle Orientierung. Deshalb steckt in der Sprache, die sie uns hinterlassen haben, ein Schatz an wegweisender Weisheit. Und weil Dichtung die Sprache um ein Vielfaches verdichtet, enthüllen oft Gedichte diesen Schatz in seiner reinsten und strahlendsten Erscheinungsform.

 

Bei der Suche nach Orientierung muss zweierlei zusammentreffen: unsre eigene Erfahrung und die Erfahrungen andrer, die in Karten und andren Orientierungshilfen niedergelegt sind. Sowohl ein Globus als auch eine Wanderkarte können uns bei der Orientierung helfen, solange wir lernen, klar zwischen ihnen zu unterscheiden und den Maßstab auszuwählen, der sich für unsre Zwecke eignet. Wir wollen uns ja nicht in Einzelheiten verlieren. Uns geht es hier um  Orientierung am Gesamtbild. Dabei wollen wir nicht vergessen, dass wir Landkarten nur dann richtig lesen können, wenn wir unsren eigenen Standort kennen. 

 

Das Ich – mein Dasein als Geschenk

Meine Orientierung in der Welt beginnt notwendigerweise dort, wo ich bin. Ein Stern mit  der Aufschrift „Sie sind hier!“ bezeichnet oft unsren Platz auf dem großen Orientierungsschild mit  Landkarte beim Eingang zu einer Wanderregion. Ebenso ist der Umstand, dass ich „hier bin“ in dieser Welt, die grundlegende Tatsache, mit der meine Orientierung beginnen muss. Ich kann keinen andren Ausgangspunkt finden als diesen sehr persönlichen, weil es keinen andren gibt. Aber es hat weitreichende Folgen, dass ich diese grundlegende Einsicht auf zwei verschiedene Weisen ausdrücken kann: „Ich bin da“ oder „Es gibt mich“. Die Unterscheidung zwischen „Ich bin da“ und „Es gibt mich“ kann viel dazu beitragen, unsren Platz im Gesamtbild zu finden.

 

Mit dem Satz „Ich bin da“ bestätige ich natürlich, dass meine Existenz eine gegebene Tatsache ist, aber ich drücke dies in der 1. Person Einzahl als meine unbestreitbare Erfahrung aus. Diese Erfahrung abzustreiten, hieße sie zu bestätigen, denn wenn ich nicht existierte, könnte ich meine Existenz nicht leugnen. So wird meine Existenz also notwendigerweise zum zentralen Ausgangspunkt, um mich in der Welt* zu orientieren. Ich bin freilich nur für mich selber Mittelpunkt der Welt.

 

Aber dies kann leicht dazu verleiten, den Mittelpunkt meiner Welt für den absoluten Mittelpunkt der Welt schlechthin zu halten. Wenn das passiert, fange ich an, mir alles andre so vorzustellen, als würde es sich um mein kleines Ich drehen. Meine ganze Mitwelt, der ich angehöre, wird dann zu meiner bloßen Umgebung: Wenn aber ein „Ich“ alles auf sich selbst bezieht, bleibt es in sich selbst stecken. 

 

Die zweite Ausdrucksweise für die Einsicht, dass ich existiere – „Es gibt mich“ – wird in der 3. Person Einzahl formuliert. Dieser grammatische Unterschied ist tiefgreifend: Die Betonung dieser neuen Formulierung liegt nicht mehr auf meinem Ich, sondern auf dem Es, das mich mir selber und der Welt gibt – schenkt. Mit dem Satz „Es gibt mich“ stelle ich diesen Sachverhalt fest, als ob ich ein außenstehender Betrachter wäre. Das vermindert die Gefahr, mich zum Mittelpunkt zu machen und in mir selber steckenzubleiben. Außer mir gibt es noch unzählig viel andres. Und am Gegebensein erkenne ich mein Dasein als Geschenk, als Geschenk des  Universums. Ich sehe mich eingebettet in ein Geben und Nehmen, und meine Umwelt wird dadurch zur Mitwelt – zu einem Netzwerk von Beziehungen, das alles mit allem verbindet. Diese Art, mich selbst zu verstehen, ermöglicht die gesunde Entwicklung des „Ich-Selbst“. 

 

Das Selbst – mein ureigenstes Wesen

Wenn ich von meinem Selbst spreche, meine ich mein ureigenstes Wesen. Ich bin mir bewusst, dass ich „in mich gehen“ kann, in einen inneren Bereich, der nur mir selbst zugänglich ist. Nur ich kann mein Bewusstsein erfahren, die andren erfahren nur meine von außen sichtbare Gegenwart als Körper unter andren Körpern. Aber normalerweise sagen wir nicht „Ich bin ein Körper“, sondern „Ich habe einen Körper“. Das ist jedoch seltsam, wenn wir es bedenken. Da sitzt ein Körper und sagt: „Ich habe einen Körper.“ Wer spricht denn da? Es ist mein verkörpertes Selbst, das spricht – als eins mit meinem Körper. Und zugleich spricht es über meinen Körper als seine sichtbare Erscheinung. Innen und außen können nicht getrennt, sondern nur unterschieden werden. Wenn ich also „Ich selbst“ sage, dann meine ich eine Einheit, mein verkörpertes Selbst.

 

Wie aber kann ich mein Ich klar von meinem Selbst unterscheiden? Kann ich den Unterschied zwischen Selbst und Ich bewusst erleben? Das lässt sich an einem Experiment erproben. Unser refektierendes Bewusstsein ermöglicht es uns, uns selbst zu beobachten. Beobachte dich also, wie du dasitzt und diese Zeilen liest. Damit uns das gelingt, müssen wir uns innerlich von dem, was wir beobachten, „distanzieren“. Schau noch einmal genau hin mit deinem inneren Auge: Siehst du irgendwie gleichzeitig dich selbst als beobachtet und als Beobachter? Dann musst du dich noch ausschließlicher auf das Beobachten konzentrieren. Früher oder später wird es dir gelingen, nur mehr das Beobachtete zu beachten, weil du dich vollständig mit dem Beobachter identifizierst. Wenn dir das gelingt, hast du das Ziel erreicht. Der Beobachter, den niemand mehr beobachtet, ist das Selbst. 

 

Wo ist dieses Selbst? Nirgends und überall. Du kannst es nicht verorten. Daher ist es auch nicht in Teile zerlegbar. Daraus entspringt die überraschende Einsicht, dass es nur ein einziges Selbst gibt: eins für uns alle – ein grenzenloses, unteilbares Ganzes! Trotzdem ist unser Ich einzigartig und verschieden von jedem andren Ich. Das eine unerschöpfliche Selbst drückt sich immer wieder in einem neuen Ich aus. Wir sind so verschieden voneinander, dass nicht einmal unsere Fingerabdrücke sich zweimal unter Milliarden andrer finden. Und doch meinen wir alle ein und dasselbe Selbst, wenn wir „Ich selbst“ sagen. In jedem, dem ich gegenüberstehe, begegnet mir das eine Selbst, das uns allen gemeinsam ist. Dies ist von schwerwiegender Bedeutung für meine Beziehung zu andren.

 

Das Selbst ist nicht nur über den Raum erhaben, sondern auch über die Zeit und ist in diesem Sinne überzeitlich. Wenn ich mich an meine Kindheit erinnere, finde ich ein andres, ein kindliches Ich, nicht mein jetziges. Trotzdem aber ist mein Selbst damals wie heute das gleiche; es bleibt auch in meiner Erinnerung unverändert. Schulfreunde erkennen einander nach dreißig Jahren wieder, obwohl nicht ein einziges Molekül in ihren Körpern mehr das gleiche ist. Sie erkennen einander, weil das bleibende Selbst sich im stets veränderlichen Ich des andren ausdrückt. Trotz all unsrer Einschränkungen ist jeder Mensch eine neue Verwirklichung der unbegrenzten Möglichkeiten des Selbst.

 

Erinnerst du dich an den Beginn deiner allerersten Freundschaft – vielleicht schon im Kindergarten? War das nicht ein Augenblick überwältigten Staunens: Wie kann ein andres Kind so völlig anders sein und gleichzeitig so ich? Nicht wie ich – die große Verschiedenheit zwischen uns macht das Ganze erst so spannend – und doch im wahrsten Sinn des Wortes ich! Der griechische Philosoph Aristoteles (385-332 v. Chr.) verstand Freundschaft als „eine einzige Seele, die in zwei Körpern wohnt“ – ein einziges Selbst in unsrer Terminologie. Natürlich wohnt in allen Körpern „ein einziges Selbst“, wenn wir es so ausdrücken wollen. Aber die Augen von Freunden sind offen für diese ausschlaggebende Tatsache und sie sind sich ihrer Bedeutung füreinander bewusst. Wenn wir uns dessen in Bezug auf alle andren wenigstens manchmal bewusst sein könnten, dann wäre unsere Welt ein freundlicherer Ort.

 

Im Laufe meines Lebens wurde mir mehrmals die Freude zuteil, Menschen kennenzulernen, deren Ich das Selbst mit großer Klarheit durchscheinen ließ. In ihrer Gegenwart fiel es mir leichter, „ich selbst“ zu sein. Sie machten mir bewusst, dass auch ich ein einzigartiger Ausdruck des einen großen Selbst bin.  Verschiedene Traditionen geben dem Selbst unter diesem Aspekt unterschiedliche Namen. Für die Pima in Arizona heißt es z. B. „I’itoi“, für Hindus „Atman“, für Buddhisten „Buddha-Natur“. Christen nennen es „Christus in uns“. In diesem Sinne schreibt der heilige Paulus: „Ich lebe, aber nicht ich, Christus lebt in mir“ (Gal 2,20). Dieses Selbst immer klarer durchscheinen zu lassen durch unser Ich, stellt die große Aufgabe dar, „zu werden, wer wir wirklich sind“. Das ist die Aufgabe, „unsre Rolle im Leben gut zu spielen“, wie man sagt.

 

Was heißt das aber? Unsre Rolle im Leben ist kein festes Drehbuch, und sie zu spielen, bedeutet zu improvisieren – wie Schauspieler bei Improvisationsaufführungen oder wie Jazzmusiker.

 

Textauszug aus „Orientierung finden“ von David Steindl-Rast mit freundlicher Genehmigung des Tyrolia-Verlages.

Siehe auch unter „Wortwelten“.