Autor: Manfred Folkers
Am 22.1.2022 ist der am 11.10.1926 geborene Dharma-Lehrer und Friedensarbeiter Thich Nhat Hanh in seiner vietnamesischen Heimat gestorben. Er war 80 Jahre lang Mönch und lebte 50 Jahre im Exil in Frankreich. Er war engagierter Buddhist und Schriftsteller. Seine rund 100 Bücher wurden in viele Sprachen übersetzt. Er gründete mehrere Klöster (plumvillage.org) und das europäische Institut für angewandten Buddhismus in Waldbröl (eiab.eu).
Im Rahmen der vom Kulturamt der Stadt Oldenburg organisierten Vortragsreihe ‘Orientierung in bedrohlicher Zeit‘ sprach Thich Nhat Hanh am 21. Mai 1993 im völlig überfüllten Großen Saal des PFL zum Thema ‘Innerer Friede Äußerer Friede - Buddhistische Anregungen für westliche Lebensgestaltung‘. Später leitete er eine Geh-Meditation vom PFL zum Mahnmal für die Opfer des Nationalsozialismus. Diese Veranstaltungen bewirkten ein großes Interesse am Thema ‘Achtsamkeit‘, das zur Gründung des gemeinnützigen Vereins ‘Achtsamkeit in Oldenburg‘ führte und letztlich auch dem Magazin ‘Achtsames Leben‘ seinen Namen gab.
Drei Jahre später organisierte das Kulturamt unter dem Titel ‘Mit dem Herzen verstehen‘ einen weiteren Vortrag mit Thich Nhat Hanh, dem über 1.000 Interessierte in der Aula der Cäcilienschule beiwohnten. Wie 1993 leitete er anschließend ein 6-tägiges Retreat im Seminarhaus Hof Oberlethe bei Wardenburg; weitere Retreats folgten 2001 und 2005.
Bevor er Vietnam verlassen musste, hatte er eine ‘Schule für soziale Dienste‘ gegründet, deren zahlreiche Mitglieder sich intensiv dem Beheben von Kriegsfolgen widmete. Außerdem war er damals schon als Dichter beliebt. Seine Fähigkeit, tiefe spirituelle Erfahrungen in einer einfachen Sprache zu beschreiben, machte ihn auch später weit über buddhistische Kreise hinaus bekannt.
Als Buddhist war Thich Nhat Hanh traditionsübergreifend unterwegs, wobei es ihm gelang, wichtige Aspekte der Buddha-Lehre (Dharma) zeitgenössisch zu interpretieren. So bearbeitete er die Auffassung, Leiden sei ein Merkmal des Daseins, indem er betonte, dass die Überwindung von Leid zwar das zentrale Ziel des Dharma, aber Leiden kein Grundelement von Existenz ist. Er befreite das Wiedergeburtskonzept von esoterischen Annahmen, indem er von Fortdauer sprach und das Leben des einzelnen Menschen mit einer Welle verglich, die immerzu auch Wasser ist. Außerdem erläuterte er eine Kernaussage des Dharma (‘Alles ist ohne eigenständiges Selbst‘), indem er sie aus dem Herz-Sutra ableitete und mit dem Satz veranschaulichte: ‘Leer von einem eigenständigen Selbst zu sein bedeutet, erfüllt zu sein von allem‘. Das Ziel aller meditativen Methoden (die eigene Anwesenheit achtsam wahr- und annehmen) erreichte er mit den Worten: ‘Einatmend verweile ich ganz im gegenwärtigen Augenblick - ausatmend weiß ich, dass es ein wundervoller Augenblick ist‘.
Thich Nhat Hanh gehört neben dem Dalai Lama zu den bekanntesten Dharma-Lehrenden der Gegenwart. Mit seinem Tod haben wir zwar einen achtsamen Menschen verloren, aber uns bleibt die Praxis einer ökologisch orientierten Seinslehre, die uns hilft, unsere Verabredung mit dem Leben einzuhalten und unsere Integration in das Universum als waches Wesen zu erfahren.
Autor: David Steindl-Rast
Freunde erzählten mir von ihrem Zweijährigen: „Wenn er morgens aufwacht, muss er sich zuerst zurechtfinden, er sucht seine Orientierung. Wir hören ihn in seinem Kinderbett nebenan mit sich selber reden. Er orientiert sich, indem er die Dinge in seinem Zimmer eins nach dem andren beim Namen nennt und eine ganze Litanei neu erlernter Wörter laut wiederholt: ,Decke, Lampe, Teddybär‘.“ Nicht nur als Kinder, sondern unser Leben lang verwenden wir Wörter, um unsren Weg durch das Labyrinth dieser verwirrenden Welt zu finden, um uns zu orientieren.
Das Wort Orientierung kommt wie „Orient“ aus dem Lateinischen, wo „oriens“ auf den „Sonnenaufgang“, den „Osten“ hinweist. Wenn wir wissen, wo die Sonne aufgeht, können wir alle andren Himmelsrichtungen bestimmen und uns auf unser Ziel ausrichten. Manche Wörter können uns auf ähnliche Weise den Weg weisen. Sie strahlen auf wie Leuchtturmlichter und leiten uns verlässlich durch stürmische See. Solche leuchtenden Wörter können zu Schlüsselwörtern werden, die uns neue Erkenntnisse eröffnen. Wir müssen nur „der Sprache nachdenken“; lernen, wie man einem Pfad durch Wiesen nachgeht und sich dabei Blume um Blume an neuen Entdeckungen freut. „Der Sprache nachdenken“ ist ein Ausdruck, den der Philosoph Martin Heidegger (1889–1976) geprägt hat. Ich habe schon vor langer Zeit die Freude entdeckt, die diesem Nachdenken entspringt. Es lehrt uns, den Einsichten große Aufmerksamkeit zu schenken, die unsre Vorfahren als Spuren ihres Denkens in der Sprache zurückgelassen und uns so vererbt haben. So wie wir versuchten ja auch sie, sich in der Welt und im Leben zurechtzufinden. Auch sie suchten nach verlässlichen Koordinaten für innere Ausrichtung und spirituelle Orientierung. Deshalb steckt in der Sprache, die sie uns hinterlassen haben, ein Schatz an wegweisender Weisheit. Und weil Dichtung die Sprache um ein Vielfaches verdichtet, enthüllen oft Gedichte diesen Schatz in seiner reinsten und strahlendsten Erscheinungsform.
Bei der Suche nach Orientierung muss zweierlei zusammentreffen: unsre eigene Erfahrung und die Erfahrungen andrer, die in Karten und andren Orientierungshilfen niedergelegt sind. Sowohl ein Globus als auch eine Wanderkarte können uns bei der Orientierung helfen, solange wir lernen, klar zwischen ihnen zu unterscheiden und den Maßstab auszuwählen, der sich für unsre Zwecke eignet. Wir wollen uns ja nicht in Einzelheiten verlieren. Uns geht es hier um Orientierung am Gesamtbild. Dabei wollen wir nicht vergessen, dass wir Landkarten nur dann richtig lesen können, wenn wir unsren eigenen Standort kennen.
Das Ich – mein Dasein als Geschenk
Meine Orientierung in der Welt beginnt notwendigerweise dort, wo ich bin. Ein Stern mit der Aufschrift „Sie sind hier!“ bezeichnet oft unsren Platz auf dem großen Orientierungsschild mit Landkarte beim Eingang zu einer Wanderregion. Ebenso ist der Umstand, dass ich „hier bin“ in dieser Welt, die grundlegende Tatsache, mit der meine Orientierung beginnen muss. Ich kann keinen andren Ausgangspunkt finden als diesen sehr persönlichen, weil es keinen andren gibt. Aber es hat weitreichende Folgen, dass ich diese grundlegende Einsicht auf zwei verschiedene Weisen ausdrücken kann: „Ich bin da“ oder „Es gibt mich“. Die Unterscheidung zwischen „Ich bin da“ und „Es gibt mich“ kann viel dazu beitragen, unsren Platz im Gesamtbild zu finden.
Mit dem Satz „Ich bin da“ bestätige ich natürlich, dass meine Existenz eine gegebene Tatsache ist, aber ich drücke dies in der 1. Person Einzahl als meine unbestreitbare Erfahrung aus. Diese Erfahrung abzustreiten, hieße sie zu bestätigen, denn wenn ich nicht existierte, könnte ich meine Existenz nicht leugnen. So wird meine Existenz also notwendigerweise zum zentralen Ausgangspunkt, um mich in der Welt* zu orientieren. Ich bin freilich nur für mich selber Mittelpunkt der Welt.
Aber dies kann leicht dazu verleiten, den Mittelpunkt meiner Welt für den absoluten Mittelpunkt der Welt schlechthin zu halten. Wenn das passiert, fange ich an, mir alles andre so vorzustellen, als würde es sich um mein kleines Ich drehen. Meine ganze Mitwelt, der ich angehöre, wird dann zu meiner bloßen Umgebung: Wenn aber ein „Ich“ alles auf sich selbst bezieht, bleibt es in sich selbst stecken.
Die zweite Ausdrucksweise für die Einsicht, dass ich existiere – „Es gibt mich“ – wird in der 3. Person Einzahl formuliert. Dieser grammatische Unterschied ist tiefgreifend: Die Betonung dieser neuen Formulierung liegt nicht mehr auf meinem Ich, sondern auf dem Es, das mich mir selber und der Welt gibt – schenkt. Mit dem Satz „Es gibt mich“ stelle ich diesen Sachverhalt fest, als ob ich ein außenstehender Betrachter wäre. Das vermindert die Gefahr, mich zum Mittelpunkt zu machen und in mir selber steckenzubleiben. Außer mir gibt es noch unzählig viel andres. Und am Gegebensein erkenne ich mein Dasein als Geschenk, als Geschenk des Universums. Ich sehe mich eingebettet in ein Geben und Nehmen, und meine Umwelt wird dadurch zur Mitwelt – zu einem Netzwerk von Beziehungen, das alles mit allem verbindet. Diese Art, mich selbst zu verstehen, ermöglicht die gesunde Entwicklung des „Ich-Selbst“.
Das Selbst – mein ureigenstes Wesen
Wenn ich von meinem Selbst spreche, meine ich mein ureigenstes Wesen. Ich bin mir bewusst, dass ich „in mich gehen“ kann, in einen inneren Bereich, der nur mir selbst zugänglich ist. Nur ich kann mein Bewusstsein erfahren, die andren erfahren nur meine von außen sichtbare Gegenwart als Körper unter andren Körpern. Aber normalerweise sagen wir nicht „Ich bin ein Körper“, sondern „Ich habe einen Körper“. Das ist jedoch seltsam, wenn wir es bedenken. Da sitzt ein Körper und sagt: „Ich habe einen Körper.“ Wer spricht denn da? Es ist mein verkörpertes Selbst, das spricht – als eins mit meinem Körper. Und zugleich spricht es über meinen Körper als seine sichtbare Erscheinung. Innen und außen können nicht getrennt, sondern nur unterschieden werden. Wenn ich also „Ich selbst“ sage, dann meine ich eine Einheit, mein verkörpertes Selbst.
Wie aber kann ich mein Ich klar von meinem Selbst unterscheiden? Kann ich den Unterschied zwischen Selbst und Ich bewusst erleben? Das lässt sich an einem Experiment erproben. Unser refektierendes Bewusstsein ermöglicht es uns, uns selbst zu beobachten. Beobachte dich also, wie du dasitzt und diese Zeilen liest. Damit uns das gelingt, müssen wir uns innerlich von dem, was wir beobachten, „distanzieren“. Schau noch einmal genau hin mit deinem inneren Auge: Siehst du irgendwie gleichzeitig dich selbst als beobachtet und als Beobachter? Dann musst du dich noch ausschließlicher auf das Beobachten konzentrieren. Früher oder später wird es dir gelingen, nur mehr das Beobachtete zu beachten, weil du dich vollständig mit dem Beobachter identifizierst. Wenn dir das gelingt, hast du das Ziel erreicht. Der Beobachter, den niemand mehr beobachtet, ist das Selbst.
Wo ist dieses Selbst? Nirgends und überall. Du kannst es nicht verorten. Daher ist es auch nicht in Teile zerlegbar. Daraus entspringt die überraschende Einsicht, dass es nur ein einziges Selbst gibt: eins für uns alle – ein grenzenloses, unteilbares Ganzes! Trotzdem ist unser Ich einzigartig und verschieden von jedem andren Ich. Das eine unerschöpfliche Selbst drückt sich immer wieder in einem neuen Ich aus. Wir sind so verschieden voneinander, dass nicht einmal unsere Fingerabdrücke sich zweimal unter Milliarden andrer finden. Und doch meinen wir alle ein und dasselbe Selbst, wenn wir „Ich selbst“ sagen. In jedem, dem ich gegenüberstehe, begegnet mir das eine Selbst, das uns allen gemeinsam ist. Dies ist von schwerwiegender Bedeutung für meine Beziehung zu andren.
Das Selbst ist nicht nur über den Raum erhaben, sondern auch über die Zeit und ist in diesem Sinne überzeitlich. Wenn ich mich an meine Kindheit erinnere, finde ich ein andres, ein kindliches Ich, nicht mein jetziges. Trotzdem aber ist mein Selbst damals wie heute das gleiche; es bleibt auch in meiner Erinnerung unverändert. Schulfreunde erkennen einander nach dreißig Jahren wieder, obwohl nicht ein einziges Molekül in ihren Körpern mehr das gleiche ist. Sie erkennen einander, weil das bleibende Selbst sich im stets veränderlichen Ich des andren ausdrückt. Trotz all unsrer Einschränkungen ist jeder Mensch eine neue Verwirklichung der unbegrenzten Möglichkeiten des Selbst.
Erinnerst du dich an den Beginn deiner allerersten Freundschaft – vielleicht schon im Kindergarten? War das nicht ein Augenblick überwältigten Staunens: Wie kann ein andres Kind so völlig anders sein und gleichzeitig so ich? Nicht wie ich – die große Verschiedenheit zwischen uns macht das Ganze erst so spannend – und doch im wahrsten Sinn des Wortes ich! Der griechische Philosoph Aristoteles (385-332 v. Chr.) verstand Freundschaft als „eine einzige Seele, die in zwei Körpern wohnt“ – ein einziges Selbst in unsrer Terminologie. Natürlich wohnt in allen Körpern „ein einziges Selbst“, wenn wir es so ausdrücken wollen. Aber die Augen von Freunden sind offen für diese ausschlaggebende Tatsache und sie sind sich ihrer Bedeutung füreinander bewusst. Wenn wir uns dessen in Bezug auf alle andren wenigstens manchmal bewusst sein könnten, dann wäre unsere Welt ein freundlicherer Ort.
Im Laufe meines Lebens wurde mir mehrmals die Freude zuteil, Menschen kennenzulernen, deren Ich das Selbst mit großer Klarheit durchscheinen ließ. In ihrer Gegenwart fiel es mir leichter, „ich selbst“ zu sein. Sie machten mir bewusst, dass auch ich ein einzigartiger Ausdruck des einen großen Selbst bin. Verschiedene Traditionen geben dem Selbst unter diesem Aspekt unterschiedliche Namen. Für die Pima in Arizona heißt es z. B. „I’itoi“, für Hindus „Atman“, für Buddhisten „Buddha-Natur“. Christen nennen es „Christus in uns“. In diesem Sinne schreibt der heilige Paulus: „Ich lebe, aber nicht ich, Christus lebt in mir“ (Gal 2,20). Dieses Selbst immer klarer durchscheinen zu lassen durch unser Ich, stellt die große Aufgabe dar, „zu werden, wer wir wirklich sind“. Das ist die Aufgabe, „unsre Rolle im Leben gut zu spielen“, wie man sagt.
Was heißt das aber? Unsre Rolle im Leben ist kein festes Drehbuch, und sie zu spielen, bedeutet zu improvisieren – wie Schauspieler bei Improvisationsaufführungen oder wie Jazzmusiker.
Textauszug aus „Orientierung finden“ von David Steindl-Rast mit freundlicher Genehmigung des Tyrolia-Verlages.
Siehe auch unter „Wortwelten“.
Autorin: Doris Iding
Vielleicht werden Sie sich wundern, dass Sie sich um Ihr Energiefeld kümmern sollen. Sollten Sie nicht alles loslassen? Hatte ich Ihnen nicht erst vor ein paar Seiten erklärt, dass es darum geht, sich nicht mehr länger mit Gefühlen zu identifizieren? Und jetzt sollen Sie auch noch neue Samen säen. Damit sind wir wieder beim Paradox! Auf der Ebene des reinen Gewahrseins sind wir heil, auf der Ebene des Alltagsbewusstseins werden wir tagtäglich mit unseren Eigenarten, Launen und Schattenseiten konfrontiert. Der Zen-Lehrer Suzuki Roshi drückt es so aus: »Wir sind vollkommen und es gibt immer noch genug zu tun.«
Wir sind vollkommen, so wie wir sind. Auf der anderen Seite sind wir auch das Alltagsbewusstsein, haben ein ICH mit Verletzungen und wir tun gut daran, eine Verbindung zwischen diesen beiden Ebenen zu bauen und das reine Gewahrsein immer im Auge zu behalten. Wenn wir versuchen, die Verbindung zum reinen Gewahrsein aufzubauen und möglicherweise zu vertiefen, können wir einen Perspektivenwechsel vornehmen. Unser Blick wird sich nicht mehr nur ausschließlich auf das richten, was uns verletzt hat, sondern auf das, was uns heil sein lässt.
Das, was heil ist
Vor einigen Jahren kam eine Frau zu mir, deren Mann sie betrogen und der sich wegen einer jüngeren Frau von ihr getrennt hatte. Ich war ihr als Meditationslehrerin empfohlen worden und sie wollte einen MBSR-Kurs machen. Ich konnte beim Vorgespräch trotz ihres tiefen Schmerzes deutlich ihr reines Gewahrsein spüren. Ich sagte ihr, dass sie nicht nur die verletzte Frau ist, sondern dass es etwas in ihr gibt, das sehr schön und heil ist – wie ein Kunstwerk. Um besser zu verstehen, was ich meinte, las ich ihr eine Geschichte über Michelangelo vor, die ich in jedem Kurs vorlese: Michelangelo ging in Florenz spazieren und kam an einem Geschäft für Steinblöcke vorbei. Er schaute sich die Steinblöcke auf dem Hof an und entschied sich für einen bestimmten: »Diesen Block will ich kaufen.« Der Marmorhändler erwiderte: »Dieser Block ist nicht gut, er hat zu viel Maserung. Den kann ich nicht empfehlen.« Michelangelo bestand aber darauf: »Nein, genau den will ich haben! Ich komme hinterher vorbei und zeige dir, was daraus geworden ist.«
Aus diesem Marmorblock schuf Michelangelo die Pietà, jene wunderschöne Skulptur, die heute im Petersdom in Rom steht. Sie zeigt Mutter Maria mit dem toten Jesus in den Armen und ist ein unglaubliches Kunstwerk, das einen nicht unberührt lässt. Michelangelo zeigte die Pietà dem Steinhändler, der überrascht fragte: »Aus diesem Block hast du sie gemacht?« Michelangelo erwiderte dem Steinmetz: »Nein, ich habe sie nicht gemacht. Sie war die ganze Zeit schon darin. Ich habe nur alles entfernt, was nicht dazugehörte.«
Die Frau war sehr berührt und irritiert gleichzeitig. Als sie von mir wegging, suchte sie nach der Pietà in sich. Zuerst fand sie das Kunstwerk nicht, aber dann erkannte sie, dass es unter all den Schichten der Verletzungen etwas gibt, was sie ausmacht. Etwas ganz Besonderes, schwer in Worte zu fassen, aber es war etwas, das sich deutlich von ihr als verletzter Person unterschied und heil und wunderschön war. Gleichzeitig wusste sie, dass sie viel innere Arbeit zu tun hatte, um sich von den tiefen Verletzungen, die ihr Mann ihr angetan hatte, zu erholen. Aber der Unterschied war jetzt, dass sie sich mit diesem heilen Teil in Momenten verbinden konnte, in denen der Schmerz der Trauer sie zu überwältigen schien. Sie erinnerte sich daran, dass sie viel mehr war als dieser Schmerz, und dieses Gefühl machte es ihr erträglicher, durch diese Krise zu gehen.
Auf dem Weg des Erwachens ist es immer wieder wichtig, sich liebevoll den eigenen Verletzungen zuzuwenden. Denn leider werden wir alte Erfahrungen und traumatische Erlebnisse nicht einfach löschen können, selbst wenn wir uns noch so bemühen. Diese »Entfernen«-Taste im Bewusstsein gibt es nicht. Wir können die schädlichen Samen auf unserem Energiefeld nicht in nützliche Samen und auch das Salz unseres Lebens nicht in Zucker verwandeln. Wir können auch die Verletzungen, die wir im Verlaufe unseres Lebens erfahren, nicht auslöschen. Aber wir können daran arbeiten, alte schmerzhafte »Wege« im Gehirn durch neue, freudvolle Pfade zu ersetzen, und uns immer wieder daran erinnern, dass wir mehr sind als unsere Biografie. Wir können innehalten und unser Augenmerk auf das richten, was schön ist und uns nährt. Tun wir dies nicht, rasen wir automatisch die eingefahrenen neuronalen Bahnen im Gehirn entlang und verpassen die Abfahrt Richtung Entspannung und inneren Frieden.
Jeder bewusste Atemzug und auch drei bewusste Atemzüge, die auf nährende Qualitäten wie Achtsamkeit, Mitgefühl oder Dankbarkeit oder auf das reine Gewahrsein ausgerichtet sind, führen uns aus der Unbewusstheit zum Erwachen. Manche Menschen brauchen sehr viele bewusste Atemzüge, um sich aus schmerzvollen Erfahrungen zu befreien und inneren Frieden zu finden, andere weniger. Dass wir uns nicht einfach nur in das reine Gewahrsein hinein entspannen können und einfach nur SEIN können, hat seine Gründe. Der Neurowissenschaftler Rick Hanson sagt, dass sich unser Gehirn zwischen uns und das reine Gewahrsein stellt.
Unser Gehirn beeinflusst uns maßgeblich und es tut sich schwer mit der Vergänglichkeit, dass es das Leben nicht kontrollieren und nicht auf die komplexen Gesetze des Kosmos einwirken kann. Da wir Schwierigkeiten haben, diese Gesetzmäßigkeit als Teil des Daseins zu akzeptieren, agieren wir aus den evolutionsgeschichtlich alten Hirnstrukturen des Reptiliengehirns und des limbischen Systems, was zu andauerndem Stress führt. Wir können uns jedoch diese Gesetzmäßigkeiten mithilfe des jüngsten Teils unseres Gehirns, dem reflektierenden Präfrontalkortex, bewusst machen und uns vertrauensvoll in das Leben hinein entspannen. Drei Atemzüge sind auch hier eine gute Möglichkeit, in den gegenwärtigen Moment zurückzufinden und zu erwachen.
Textauszug aus „Erleuchtet in drei Atemzügen“ von Doris Iding, mit freundlicher Genehmigung des Irisiana-Verlags. Siehe auch unter „Wortwelten“.
Schon früh in meiner Kindheit begann mir zu dämmern, dass ich ein Anliegen hatte, das andere nicht zu teilen schienen– ich wollte wissen, wer ich war. Ich wusste, dass ich etwas suchte, aber ich hatte keine Ahnung, was es war oder wie ich es finden sollte. Nahe bei dem Haus, in dem ich aufwuchs, gab es ein großes, offenes Feld, zu dem ich im Sommer oft hin spazierte. Dort lag ich auf dem Rücken und sah zu, wie prächtige Wolken über den blauen Himmel zogen. Dabei hatte ich das Gefühl, in eine andere Dimension einzutauchen, so endlos und so fern von meiner Familie und meinen Freunden, dass sie sich fremd und verboten anfühlte – als sei es nicht richtig, diese Dimension des Lebens wahrzunehmen, diese unglaublich machtvolle Gegenwart.
Es war, als würde ich im Fluss meines eigenen Atems verschwinden, mich auflösen in die wechselnden Formen der Wolken, als zöge ich mit ihnen dort oben am Himmel entlang. Ich war völlig vertieft ins Erleben des Augenblicks, und wenn ich schließlich in meinen Alltag zurückkehrte, konnte ich spüren, wie klein und eng er war. Wer bin ich? Und um was geht es in diesem Leben eigentlich? Das alles war ein großes Mysterium, und diese Fragen begleiteten mich ständig und folgten mir in mein Erwachsenenleben.
Viele Jahre später schaute ich eines Tages in einer völlig anderen Umgebung den Wolken zu. Ich befand mich auf einem Hügel in der Nähe eines tibetischen Klosters außerhalb von Kathmandu. Auch hier die endlose Weite des blauen Himmels, aber die Erfahrung war so intensiv, dass ich meine ganze Kraft brauchte, um sie einfach nur aufzunehmen und bei jedem ekstatischen Atemzug präsent zu bleiben. Die Falken, die über den Bäumen kreisten, schienen sich so langsam zu bewegen wie in einem Traum, als stünde die Zeit still und mit ihr meine eigenen Gedanken, die sich so träge bewegten wie die Wolken, die am Himmel ihre Gestalt veränderten. Ich konnte meinen Gedanken aus großer Entfernung zuschauen und beobachten, wie sie allmählich in mein Bewusstsein traten und wieder verschwanden.
Ich fühlte mich, als sei ich der Raubvogel, getragen von der warmen Mittagsbrise, als sei ich die weißen Wolken, die über den blauen Himmel zogen – ich empfand mich als ekstatische Präsenz, die keiner Zeit, keinem Ort, keiner Form angehörte. Zu der Zeit meines Lebens glaubte ich, all jene Fragen beantwortet oder zumindest zugelassen zu haben, dass sie sich auflösten in einer Wirklichkeit, die jenseits von Fragen lag. Ich wusste, wer ich war. Oder wusste vielmehr, wer ich nicht war– nicht mein Körper, nicht mein Geist, nicht meine Konditionierung, nicht meine Überzeugungen, nicht meine Persönlichkeit.(…)
Zu der Zeit meditierte ich viele Stunden täglich unter der Anleitung tibetischer Lamas. Es war eine Zeit voller Ekstase, Glückseligkeit und Staunen. Das Leben schien ein einziges Wunder zu sein und alle Dinge hatten eine Bedeutung, die weit über sie hinaus verwies. Alles war so lebendig, selbst die sogenannten „toten“ Gegenstände. Mein Geist und mein Körper fühlten sich durchscheinend an, durchlässig, als wäre mein Körper aus Licht. Ich spürte, wie ich auf alles, was mich umgab, empfindsamer reagierte, selbst auf die seltsamen Insekten, die mich in meiner Hütte besuchten.
Ich hatte das Gefühl, mich in einer anderen Dimension zu bewegen, genauso wie in meiner Kindheit, nur betrat ich sie diesmal bewusst. Es war, als würde ich die Wirklichkeit hinter jeder Form entdecken und das Paradies betreten.
In der Hölle landen
Dieses Paradies erwies sich allerdings als ziemlich wackelige Angelegenheit. Ein paar Jahre später befand ich mich mitten in einem hässlichen Scheidungsprozess von meiner Frau. Ich war allein, hatte meine Richtung im Leben verloren und fühlte mich, als hätte man mich im Niemandsland ausgesetzt. Jeder Tag war ein Alptraum, voll von Selbstvorwürfen, Verzweiflung und Angst. Ich war in der Hölle gelandet und es gab keinen Ausgang, außer der Möglichkeit des Selbstmords. Und ich konnte meine Erfahrungen von Glückseligkeit, Ekstase und Licht mit der Dunkelheit und Depression, Hilflosigkeit und Scham, die ich jetzt erlebte, nicht in Einklang bringen. Warum im Licht leben, wenn es zugleich die dunkle Nacht der Seele gab? Wie sollte ich jemals diese beiden Erfahrungen, die so unterschiedlich waren wie Tag und Nacht, zusammenbringen oder verstehen? Jahrelang brannten diese Fragen in mir. Die Antworten kamen schließlich in Form des Enneagramms zu mir, diesem uralten System zum Verständnis der Persönlichkeit.
Erste Begegnungen mit dem Enneagramm
Zum ersten Mal war mir das Enneagramm im Iran begegnet, wo sich damals viele meiner Freunde mit der Lehre von George Gurdjieff beschäftigten, dem russischen Mystiker, der das Enneagramm als Erster in den Westen brachte. (…) Aber ich fand Gurdjieffs Ausführungen zum Enneagramm mysteriös und unverständlich. Ich wusste, das Enneagramm war ein System von neun Persönlichkeitstypen und hatte etwas mit spirituellem Wachstum zu tun, aber darüber hinaus begriff ich nicht, um was es da eigentlich ging.
Als ich viele Jahre später erneut auf das Enneagramm stieß, dieses Mal in Indien, präsentierte es sich mir ganz anders. Denn jetzt hatte jeder Persönlichkeitstyp ein spezifisches psychologisches Profil, wie zum Beispiel abhängig, vermeidend, narzisstisch und so weiter. Ich sah darin eine beeindruckende Verbesserung der christlichen Darstellung, die das frühere Enneagramm prägte, wo die Persönlichkeitstypen beherrscht waren von Sünde oder Charakterfehlern wie Lust, Neid, Stolz, Gier und Habsucht – negativen Eigenschaften, die ich eher Dantes Inferno oder Chaucers Canterbury Erzählungen zuschrieb als der heutigen Welt. Außerdem wiesen die dargestellten Persönlichkeiten jetzt sowohl gesunde als auch ungesunde Aspekte auf, und das half mir, manches negative Urteil, das ich über einzelne Persönlichkeitstypen hegte, zumindest im Ansatz zu mildern. Und ich konnte meinen eigenen Typ jetzt klar erkennen, die romantische Nummer Vier.
Die Beschreibung meiner eigenen Persönlichkeit traf so genau zu, dass ich anfangs völlig verblüfft war. Wie konnte ein System so gründlich über mich Bescheid wissen? Wie konnte es mein Innenleben, meine Gefühlszustände, meine Überzeugungen und Motive so genau kennen? Und obwohl mich die neuere Version des Enneagramms beeindruckte, konnte ich immer noch nicht die praktischen Anwendungsmöglichkeiten dieses Systems der Persönlichkeitstypen erkennen.
Essenz und Enneagramm
Erst als ich begriff, welche Rolle die Essenz im Enneagramm spielt, begann ich seine wirkliche Bedeutung zu verstehen. Im Kern jedes einzelnen Persönlichkeitstyps des Enneagramms befindet sich eine essenzielle Qualität, ein wichtiger Aspekt unseres Seins, die uns im Lauf unseres Heranwachsens genommen, geschwächt oder verzerrt wurde.
Das Enneagramm ist eine Art kosmischer Spiegel, der uns nicht nur unsere Persönlichkeit widerspiegelt, sondern sämtliche verschiedenen Dimensionen unseres Wesens, unserer wahren Natur. Für mich war das Enneagramm die Tür zum Verständnis von Dunkelheit und Licht in mir, sowohl der Qual als auch der Ekstase.
Durch meine Arbeit mit der Essenz und dem Enneagramm erlebte ich ganz real, dass im Kern jedes Themas oder jeder Schwierigkeit, mit der wir konfrontiert sind, Essenz ist. Diese Arbeit wurde zum Weg, auf dem ich die essenziellen Qualitäten, mit denen ich nicht mehr in Kontakt war, zurückgewann. Die Essenz und das Enneagramm waren der Schlüssel, um sowohl die Grenzen meiner Persönlichkeit als auch die transpersonalen Erfahrungen, die über die Persönlichkeit hinausweisen, zu verstehen. Durch dieses Verstehen erfüllte sich die tiefste Sehnsucht meines Herzens.
Textauszug aus „Essenz und Enneagramm“ von David Hey mit freundlicher Genehmigung des Innenwelt Verlages. Siehe auch unter „Wortwelten“.
Autor: Markus Stockhausen
Markus Stockhausen, auf Trompete, Flügelhorn und Klavier – im Jazz und in der klassischen Musik gleichermaßen zu Hause, hat die Oldenburger Zukunftstage 2018 musikalisch begleitet. Auch bei den nächsten Zukunftstagen wird er wieder dabei sein. Achtsames Leben freut sich, hier einen Artikel von Markus Stockhausen vorstellen zu können.
Mein Motto: Durch die Gnade, Freude und Liebe des Höchsten ist alles Leben entstanden.
Liebe ist die verborgene und doch sich in allem offenbarende Urkraft des Absoluten, des Göttlichen, die mit einer unendlichen Weisheit und Kunst alles Leben hervorbringt, und immer neue Formen entstehen lässt. Es ist das göttliche Spiel (in sanskrit: Lila), sich immer wieder zu verbergen und neu in Erscheinung zu treten.
Hinter der Welt der Erscheinungen liegt die Welt der Möglichkeiten und Energien, der Wirkkräfte. Und je tiefer wir vordringen zur Quelle des Seins, auch in uns selbst, desto mehr nähern wir uns dem Urimpuls der Schöpfung, der Liebe ist und Freude, auch Seligkeit (Ananda) genannt.
Liebe manifestiert sich auf allen Ebenen. Auf der ganz physischen Ebene als Magnetismus, der die Teilchen miteinander in Beziehung treten lässt; als kosmische Harmonie, die die Planeten und alle Gestirne in vollkommener Ordnung hält, und als Anziehung auf menschlicher Ebene. Alle Beziehungen, auch die der Töne in der Musik, könnte man als verschiedene Grade von Liebe bezeichnen.
Der indische Musiker und Sufimeister Hazrat Inayat Khan sagte: „Alles Leben ist Musik“, und: „Musik ist die Sprache der Seele“. Musik hat die Möglichkeit, die mannigfaltigen Formen von Beziehungen und die damit verbundenen Gefühle in sehr schöner und reiner Form auszudrücken. Sie übersteigt das Mental-Konzeptionelle, sie kann tief verborgene Empfindungen hervorrufen, bringt die Seele zum Schwingen, lässt uns zuweilen die Göttliche Liebe und Schönheit fühlen, die Einheit der Schöpfung, und uns teilhaben an ihren Wundern.
Wenn wir an Liebe denken, dann haben wir alle sofort eine Vorstellung von etwas Schönem, Erfüllendem, Gutem. Unmittelbar verbinden wir uns mit der göttlichen Urenergie. Einige werden vielleicht auch an Enttäuschungen denken, an Leid, das durch missverstandene oder nicht gewährte Liebe entstand. Doch im Grunde sehnen wir uns nach ihr, wir suchen und brauchen Liebe, immer wieder, und sind glücklich wenn wir sie empfinden können.
Liebe ist immer da. Sie ist ein universeller Raum, den wir jederzeit betreten können - wenn wir bereit sind uns ihr zu öffnen. Wenn wir Liebe im Herzen tragen, sind wir ein Segen für alle Wesen, nah und fern. Wir können zu einem bewussten Generator der Liebe werden, wie eine strahlende Sonne: Liebe, die von unseren Herzen ausströmt. Wir erkennen den Kreislauf der Liebe im Universum: je mehr wir von Herzen geben, desto mehr fließt die Liebe zu uns zurück, oft ganz unerwartet von irgendwoher.
Beginnen wir mit der Liebe zu uns selbst. Erlösen wir alle Spannungen in uns: mit anderen Menschen in der Gegenwart und in der Vergangenheit, mit bestimmten Erlebnissen, mit unserer eigenen Situation und Vergangenheit, denn am meisten sind wir mit uns selbst im inneren Konflikt. Wenn all diese Spannungen gelöst sind — wenn auch nur für eine gewisse Zeit —, dann stellt sich ein natürlicher Frieden ein, eine Lebensfreude, und ja, dann erscheint eine ganz grundlegende Liebe zum Leben, eine Lust zu leben.
Ein zur Liebe passendes Wort ist die „Resonanz“, auch ein musikalischer Begriff. Da entsteht ein Gleichklang, eine Harmonie zwischen zwei Elementen, und in diesem Gleichklang findet eine Übertragung von Energie statt, die wir als beglückend empfinden. Resonanz - „sonare“ heißt klingen, Re steht für das Höchste. Wir finden es in vielen Wörtern. Die Urenergie des Universums klingt in uns, re-soniert in uns.
Ich schaue am Morgen in einen Tautropfen am Grashalm, das Sonnenlicht spiegelt sich in ihm, ein Glücksgefühl steigt in mir auf. Ich spüre Klarheit, Reinheit, funkelnde Lebensenergie. Ein Lächeln, oder die Berührung eines lieben Menschen - wir sind bewegt, schwingen miteinander. Immer dann empfinden wir Liebe, wenn ein Resonanzfeld entsteht, der besagte Gleichklang. Liebe zwischen Menschen ist das, Sympathie ist ein Gleichklang. Zwei Menschen finden zueinander, beginnen gleich zu schwingen, weil sie „auf der gleichen Wellenlänge“ sind.
Dieses Resonanzfeld entsteht ganz oft durch Musik. Wenn uns eine Musik besonders gut gefällt, dann schwingt etwas in uns im gleichen Rhythmus, wir werden berührt und mitgenommen auf eine Reise, die uns verwandelt. Wir sind dann nicht mehr dieselben wie zuvor, sondern der Klang moduliert all unsere Zellen, dringt ein in unser Gemüt, etwas verändert sich in uns. Eine seelisch-geistige Befruchtung findet statt.
Klang ist eine Manifestation des Unhörbaren, jenseits alles Begrifflichen. Die Musik, der Klang eröffnet uns einen weiten, freien Raum des Verbundenseins. Wir erleben eine Resonanz, eine harmonische Übereinstimmung, die wir alle spüren können. Unser innerstes Wesen IST Liebe, und immer, wenn wir daran erinnert werden, sind wir glücklich.
Markus Stockhausen, geb. 1957, Trompeter und Komponist, bekannt als vielseitiger Grenzgänger. Er gibt Seminare zum Thema „Intuitive Music and More“, “Kreatives Trompetenspiel” und seit vielen Jahren „Singen und Stille – Wenn die Seele singt“. Sein Interesse gilt der “Transformation durch Klang”. Über 90 CD-Veröffentlichungen, zur neuen CD: www.markusstockhausen.de .
Das Datum für die nächsten Oldenburger Zukunftstage stand bei Drucklegung noch nicht fest.
Infos dazu finden Sie hier: https://werkstatt-zukunft.org/
Autor: Dr. Claus Eurich
Wo Denken und Grübeln an ihre Grenzen stoßen, wartet die Intuition, um einem verstockten und sich selbst im Wege stehenden Geist unter die Arme zu greifen. Sie ist die wohl unmittelbarste und stärkste Erkenntniskraft.
Jeder Mensch kennt Intuition und die intuitive Regung als gefühltes Wissen, als den Geistesblitz, das Aha-Erlebnis, den aufsteigenden musikalischen Klang, das diffuse und doch unmissverständliche Bauchgefühl. Was dadurch geboren oder angestoßen wird, bedarf keiner Begründung durch die sogenannte Ratio. Es basiert auf Vertrauen. Zugleich scheitern wir daran, hinreichend zu erklären, was das denn sei, diese Regung, und woher sie komme.
Neben unbewussten Spuren integriert die Intuition zielgerichtet geistige und sinnliche Prozesse. Sie verdichtet diese sprunghaft zu einer Eingebung, die Klarheit und eine Orientierung schenkt und zur Handlung drängt. Intuition wächst in der Befreiung von einem Geschehen, das in Routinen erstickt und mechanisiert abläuft. Sie steht in der zeitlichen Spannung zwischen Schon Jetzt und Noch Nicht. Dabei setzt sie spezifische Energien und emotionale Zustände frei. Der Stress fällt ab, in einer ausweglosen oder verstrickten Situation zu sein.
In der Intuition wird ein neues Bild der Wirklichkeit geboren. Es zeigt sich vor unserem inneren Auge, als wäre eine Tür aufgestoßen, die den Blick freigibt in einen zwar schon immer vorhandenen, aber erst jetzt entdeckten Raum. Alte Erfahrungen sowie Denk- und Verhaltensmuster fügen sich mit bislang unbekannten Impressionen zu einem neuen Ganzen zusammen.
In der Intuition begegnen wir keinem analytischen oder diskursiven Denken, es wird auch nicht bloß ein Gefühl emporgespült. Vielmehr entsteht in einem komplexen Akt der Koordination aus einzelnen bewussten und unbewussten Erkenntniselementen ein neues Ganzes, eine neue Wissensgestalt. Diese fällt uns zu, oder besser, wird uns geschenkt, ohne dass wir den Weg nachzeichnen können, den sie ging. Wer sich durch Intuition bereichern lassen möchte, sollte eine gewisse Unbefangenheit und das unschuldige Staunen nicht verlernt haben. Denn es geht darum, eine Gewissheit zu akzeptieren, die sich der Frage nach ihrem Woher entzieht.
Aus welchen Quellen nun schöpft die Intuition? Sie greift auf alles zurück, was geistig und energetisch im Menschen und in seinem lebendigen Umfeld ruht, die Übertragung von Gedanken und Gefühlen selbstredend nicht ausgeschlossen. Ihr dienen das biografische und das Leibgedächtnis genauso wie das universale Menschheitsgedächtnis. Sie stellt die Verbindung her zwischen Bewusstsein und Unterbewusstem – die Botschaft der Träume und den Schatz der Archetypen inbegriffen.
Vor allem das Leibgedächtnis des Menschen verdient hier besondere Beachtung. Im Alltagsverständnis reduzieren wir Gedächtnis und Gehirn ja gerne auf unser Kopfgehirn. Doch von nicht minderer Bedeutung ist dessen Abbild, das im Bauch des Menschen lebt und wirkt. Es besteht aus nahezu 100 Millionen Nervenzellen, steuert psychische Prozesse wie Freude und Leid. Es fühlt und hält eine kontinuierliche Kommunikation mit dem Kopfhirn von unten nach oben aufrecht. Seine Emotions-Gedächtnisbank beinhaltet Erinnerungen aus dem gesamten Leben, die pränatale Phase inbegriffen. Das so genannte „Bauchgefühl“ und die „Weisheit des Bauches“ erhalten damit einen neuen Sinn.
Das intuitive Geschehen durchbricht die bisherigen Muster des Denkens und der Wahrnehmung. Dazu benötigt es Spielraum und innere Freiheit. Denn es sind die ausgetretenen inneren Wege und gedanklichen Verhaftungen genau wie die unhinterfragten und festgefahrenen äußeren Gewohnheiten, die Überraschungen und neuen Orientierungen entgegenstehen. Vergleichbar blockierend wirken Tabus und Verbote. Sie führen genau wie Angst und Stress zu einschneidenden Begrenzungen nicht nur der Wahrnehmung, sondern auch der sichtbaren Deutungs- und Handlungsoptionen.
Bestimmt Achtsamkeit unsere innere Präsenz, hält sie auch die Intuition mit im Spiel. Dann führt der Blick unter die Oberflächenschicht und abseits von dem raumzeitlichen Komplex, in dem sich unsere Wahrnehmung normalerweise aufhält. So widersetzt Intuition sich den Gesetzen der vorübereilenden messbaren Zeit und befreit aus ihrer Umklammerung. Zeit macht sie nicht als Sequenz und als Abfolge erfahrbar, sondern als erlebte und metaphysisch gegebene Unmittelbarkeit. In ihr verschmelzen alle Zeitlinien, das Zukünftige eingeschlossen. Es ist das, was wir Kairos-Erfahrung nennen. Bereit zu sein für den intuitiven Vorgang, heißt, bereit dafür zu sein, so lange mit Fragen zu leben, bis wir, ohne es planen zu können, in die Antwort hineingeführt werden.
Das intuitive Erfassen führt zu Ergebnissen, die wir manchmal erst nachher verstehen,
dass es genauso und nicht anders hätte sein dürfen, wie es gekommen ist. Und dazu muss man stille werden…
Das Universum meint es gut mit uns. Wenn man die Zeichen erkennt, dann bekommt man immer rechtzeitig eine Warnung.
(Markus Stockhausen)
Prof. Dr. Claus Eurich, Philosoph, Publizist, Kontemplationslehrer, Professor für Kommunikation und Ethik (i.R.),
Autorin: Rani Kaluza
“. . . Die einzige Verabredung, die ihr noch wichtig erschien, war die mit der Zeit. Diese Verabredung war es auch, wo sie sich wieder ansammelte, anfing Atem zu haben, anfing Beine zu haben, Arme, anfing eine neue Art von Körper zu haben, der am Ende, das wusste sie, ein Lächeln tragen würde wie eine Krone . . .“
Eine Weile völlig absichtslos da sein, Sinn und Zweck nicht kennen müssen. Einfach wahrnehmen, im Innen und im Außen, die momentane Befindlichkeit des Körpers, des Gemüts, des Verstandes, und die Atmosphäre des Raumes, in dem man ist und wo gerade nichts passiert.
Nicht Tun.
Mühelos, ohne etwas zu beabsichtigen, sitzen, auf einem Stuhl, einer Bank, einem Meditationskissen, gehen, an den Ufern eines Sees, liegen, auf einem Baumstamm im Wald, auf einer Couch, mit Blick in den Garten oder in den Himmel.
Man kann dem reinen Nicht Tun täglich ein paar Minuten weihen oder sich für längere Zeit darauf einlassen, für eine Stunde, einen Tag, für fünf Tage. Wie lange auch immer, jede Minute ist kostbar. Niemals verschwendet man seine Zeit, im Gegenteil, man segnet sie.
Sehen, hören, riechen, schmecken, tasten, es geschieht von allein: Das Ticken einer Uhr, das Rauschen des Windes draußen in dem Bäumen, die zarte Staubschicht auf einer Vase, Licht, das auf den Blättern der Pflanze glänzt, ein Gefühl von Traurigkeit im Bereich des Bauches.
Manchmal ist es gut den Rücken aufzurichten. Den Rücken aufrichten gleicht eine Pflanze, die sich zur Sonne hin ausrichtet. Es hat eine ordnende und klärende Wirkung.
Wahrnehmen und nichts verbessern müssen. So wie es in diesem Moment ist, ist es gut. Man könnte sich müde fühlen, rastlos, unsicher, verliebt oder genervt – alle Zustände und Gefühle sind willkommen und haben die Erlaubnis da zu sein, ohne Angst haben zu müssen, verurteilt zu werden. Man kann sich selbst fragen: Wie geht es mir? Wie fühle ich mich? Wen oder was finde ich, wenn ich die Augen schließe und in mich hineinspüre? Und man kann diese Fragen restlos ehrlich beantworten. Denn alles darf hier sein, genauso wie es ist, in der Zeit des Nicht Tuns (und natürlich auch sonst).
Wenn ein Mensch auf diese Weise mit sich selbst umgeht, gleicht er einer Sonne, die mit ihren warmen Strahlen alles berührt, was ihr hingehalten wird. Die Sonne macht keinen Unterschied, ob sie auf einen Holzstapel oder auf eine Mülltonne scheint. Sie bewertet nichts, sie bevorzugt nichts, sie verbreitet ihr Licht.
Bemerken wie Gedanken kommen und gehen. Spüren, wie die Hände den Stoff der Kleidung berühren oder die Armlehne des Stuhles, die kühl und glatt ist. Hören, wie irgendwo in der Nachbarschaft Telefon klingelt, sehen, wie die Gardine sich ganz leicht bewegt, als würde sie atmen. Bemerken, wie nach und nach immer mehr Stille einkehrt, während gleichzeitig absolut nichts passiert. Ein wahrhaftiger Mensch, der einfach nur da ist.
Am Anfang nimmt man die Stille vor allem in der Abwesenheit von Lärm wahr. In einer leeren Kirche, auf einem einsamen Berg, mitten auf einem See. Lässt man sich jedoch für eine längere Zeit auf das einfache Da-Sein ein, wird man früher oder später noch eine andere Stille kennenlernen. Eine raumhafte, kristallklare, tiefe Stille – eher wie Präsenz spürbar. Diese Stille ist überall, in jeder Rockfalte, in jedem Blatt, unter jedem Stein, in den Wolken und in den Bäumen, in den Pfützen und in den Muscheln, in den Haaren und in den Gedanken, ja selbst zwischen den Gedanken. Sie durchdringt alles, und ist selbst in dröhnendem Lärm anwesend.
Vor allem, wenn man sich dem Nicht Tun mit ganzem Herzen überlässt, lädt man diese Stille unweigerlich zu sich ein.
Indem Du nichts tust, um das Leben zu finden, findet das Leben Dich. Indem Du nichts tust, um Deinen momentanen Zustand zu verändern, findet Begegnung statt. Der Wunsch oder das Bestreben etwas anderes erreichen zu wollen, wird dabei Schritt für Schritt aufgegeben. Man gibt das Suchen und das Verändern-Wollen immer wieder auf und ist einfach. Das ist die Weisheit einfachen Da-Seins.
Autorin: Ursula Richard
Die Liebe zeigt sich oft da, wo wir sie am allerwenigsten erwarten. Doch wenn sie uns findet und ergreift, eröffnet sie uns Möglichkeiten, uns selbst und das Leben neu zu verstehen. Ursula Richard beschreibt Begegnungen mit der Liebe und was diese sie gelehrt haben.
In der Schlussszene des Films „Alice still alive“ sitzen die schon in relativ jungen Jahren an Alzheimer erkrankte Alice, eine vormalige Universitätsprofessorin, und ihre Tochter, eine ziemlich erfolglose Schauspielerin, beisammen, und die Tochter, die inzwischen wieder im Elternhaus lebt und ihre Mutter pflegt, memoriert einen recht komplexen Text – vielleicht für eine Rolle – und fragt am Ende ihre Mutter, um was es denn darin gegangen sei. Alice, die große Mühe hat, überhaupt noch Worte hervorzubringen, sagt recht undeutlich, doch verständlich: „Liebe.“ Und die Tochter bekräftigt: „Ja, es geht um Liebe.“
Meine Mutter ist seit einigen Jahren dement. Seither lebt sie in einem Heim. Sie erkennt mich und meine Schwestern noch und weiß auch meist unsere Namen. Auch sich selbst erkennt sie auf Fotos, vor allem wenn sie aus ihrer Zeit als frisch verheiratete Frau oder junge Mutter stammen. Ihre Enkeltöchter erkennt sie auf Fotos meist nicht mehr. Wenn ich sie bei meinen Besuchen fotografiere und ihr die Bilder dann zeige, sagt sie manchmal ganz erstaunt: „Das ist ja mein Vater.“ Meine Mutter lächelt mich häufig an, ich streichle ihr Gesicht. Wir sind uns nah, so wie wir es jahrzehntelang nicht waren. Unser „Krieg“ war erst zu Ende, als sie dement wurde, da haben wir beide die Waffen der gegenseitigen Verachtung endgültig niedergelegt. Heute, wenn ich meine Mutter besuche, habe ich den Eindruck, dass sie immer mehr abwirft oder immer mehr von ihr abfällt und der Raum, der da in ihr entsteht, von Liebe und Zufriedenheit erfüllt ist.
Das Loslassen von Selbstbildern
Weder Alice, die Filmfigur, noch meine Mutter haben sich in ihrem Leben besonderen spirituellen Übungen unterzogen, um dahin zu gelangen – zu dem Wissen, dass es letztlich, selbst wenn man sonst nichts mehr weiß, um Liebe geht, oder dahin, dass die Liebe immer mehr hervortritt. Die Liebe, immer wieder von Dichtern, aber auch von Mystikerinnen und religiösen Weisen wort- und bildreich beschrieben und besungen, scheint das zu sein, was bleibt, wenn, wie im Fall von Alice, alle anderen Gewissheiten verschwunden sind, es nichts mehr gibt, an dem man sich festhalten könnte, weder an einem Ich noch an einem Du.
Der tibetisch-buddhistische Lehrer Chögyam Trungpa sprach in diesem Zusammenhang von einer uns angeborenen, grundlegenden Gutheit. Das heißt aber auch, wir müssen auf dem Weg der Liebe nichts entwickeln oder kultivieren, nichts schaffen, was wir nicht schon hätten, was nicht schon da wäre. Wir müssen „nur“ zulassen, dass es sich entfalten oder hervortreten kann. In den spirituellen Traditionen gibt es zahlreiche Methoden, Liebe und Wohlwollen in sich zu erwecken und zu kultivieren (im Buddhismus zum Beispiel die Metta-Meditation oder Tonglen), Übungen der liebenden Güte und des befreienden Mitgefühls. Sie mögen hilfreich sein, weil sie uns an das erinnern und mit dem verbinden können, was ohnehin da ist. Aber wir sollten nicht glauben, mit diesen Methoden etwas Neues zu schaffen, und uns daher von anderen meinen abheben und als etwas Besonderes fühlen zu können, weil wir ja „praktizieren“.
Auf unserem Weg geht es nicht darum, immer mehr Gepäckstücke mit uns herumzutragen, sondern immer weniger. Letztlich geht es darum, dass wir uns selbst nicht mehr mit uns herumschleppen. Der tibetisch-buddhistische Lehrer Dzongsar Khyentse spricht vom Abschälen von Schichten oder Schalen, „um schließlich herauszufinden, dass es innen gar keine Frucht gibt“. Ihm zufolge geht es darum, dass wir uns von diesen Schichten befreien. Aber das fällt uns sehr schwer, weil wir uns an sie gewöhnen, sie unsere Identität ausmachen und wir an ihnen hängen: „In der Kindheit sind uns Sandburgen sehr wichtig. Wenn wir dann 16 Jahre alt sind, ist es das Skateboard und zu dem Zeitpunkt ist die Sandburg zu einer verrotteten Schale geworden. Im Alter von 30 oder 45 Jahren treten Geld, Autos und Beziehungen an die Stelle des Skateboards. All das sind weitere Schalen. Und mehr als das: Selbst die Pfade, die wir praktizieren, machen weitere Schichten aus, mit deren Hilfe wir zu weiteren Schichten vordringen, um sie abzutragen. Die innere Schale hilft uns, über die äußere nachzudenken, und motiviert uns, sie abzuschälen. Aber letztlich sollten wir frei sein von allen Systemen, von allen Schalen.“
Liebende statt Einsiedlerin
Manchmal erleben wir, wenn sich Selbstbilder, durch die wir uns vielleicht lange definiert und an die wir geglaubt haben, auflösen und nicht sofort ein neues an ihre Stelle tritt, Momente von Freiheit und Weite. Aber schnell stellen sich dann Gefühle von Ungeschütztheit und Unsicherheit ein – und schon greifen wir zu neuen Selbstbildern, die unsere Freiheit zwar wieder einengen, aber eine gewisse Sicherheit versprechen: Wir wissen wieder, wer wir sind, wo es für uns langgeht, denn dies nicht zu wissen, ist doch schwer auszuhalten.
Nachdem ich gemerkt hatte, dass Selbstidentitäten wie „Buddhistin“ oder „Zen-Frau“ für mich immer brüchiger wurden und immer weniger stimmig waren, bildete sich in mir die Überzeugung, mein Weg führe fortan jenseits von klar definierten Traditionen mehr ins Alleinsein und in die Stille. Auch wenn ich davon in meinem Alltag recht wenig realisierte, stand mir als eine Art Ideal-Identität „die Einsiedlerin“ vor Augen, und ich war sicher, dass das letztlich die mir gemäße Lebensform war – und dann verliebte ich mich während eines Zen-Retreats Hals über Kopf in eine Teilnehmerin, und dieses einsiedlerische Selbstideal löste sich schneller auf als eine Wolkenformation am Himmel. Ich hatte die Liebe in Form einer „Liebesbeziehung“ nicht gesucht, vor allem nicht an einem solchen Ort; sie hat mich einfach gefunden. Bin ich nun dabei, eine „Liebende“ zu werden, neue Ideal-Identitäten zu entwerfen, die abgefallenen Schalen durch neue zu ersetzen? Die Versuchung ist groß. Ich beobachte es, während sich unsere Beziehung auf das Schönste zu entfalten beginnt.
„Ich bin durch dich so ich“
Was werden wir finden, wenn alle Schalen abgefallen sind und wir sehen, dass da keine innere Frucht, kein Kern ist? Ich weiß es nicht, da zu viele Schalen mir noch den Blick versperren, aber in manchen Momenten bin ich sicher, dass dort die Liebe ihren Ursprung hat, in diesem weiten Raum, den wir nicht mehr durch unsere Selbstbilder begrenzen. Es ist aber weder meine Liebe noch mein Wesenskern, den ich dort finde, sondern es ist diese wunderbare, magische Energie der Liebe als dieses offene, weite Feld.
Jenseits der Reichweite
von Richtig und Falsch,
liegt ein Feld – ein singendes Feld.
Dort werde ich dich treffen ...
(Mevlana Rumi)
„Ich bin durch Dich so ich“ lautet der Titel der Biografie des Benediktinermönchs David Steindl-Rast. Das ist für mich der Name dieses Feldes, denn wir sind nicht diese abgetrennten Ichs, für die wir uns meist halten, sondern auf das Innigste miteinander verwoben und verbunden. In jeder Sekunde bringen wir einander in einem Prozess fortwährenden Entstehens und Vergehens wechselseitig hervor. Eigenschaften, Selbstbilder, die wir uns schnell als Wesensmerkmale zuschreiben, zeigen sich als viel flüssiger, flüchtiger als gedacht. Auch sie sind letztlich Beziehung. Alles ist Beziehung, alles ein Tanz, ein Halten und Gehaltenwerden, damit wir uns mit größtmöglicher Freiheit, Anmut und Würde bewegen können.
„Ich bin durch dich so ich“ beschreibt das Wesen der Liebe und damit das Wesen unserer Existenz. Wenn wir einander lieben, können wir diese Wahrheit auf eine nährende, heilsame Weise erfahren. Wenn wir lieben, lieben wir aber immer mehr als den konkreten geliebten Menschen, in ihm lieben wir unser Menschsein, lieben wir das Leben, lieben wir die Welt. Dies gegenwärtig zu halten und immer wieder lebendig werden zu lassen, macht den Weg der Liebe ähnlich wie den Weg der Dankbarkeit zu einem so erfüllenden, transformativen Weg. Oft heißt es: Man muss erst einmal sich selbst lieben, erst dann kann man andere lieben. Ich denke, man kann es auch genau umgekehrt formulieren: Man muss erst einmal andere lieben, dann kann man sich selbst lieben. Letztlich sagt man damit aber auch das Gleiche, denn wir sind nicht getrennt, wir sind eins, nicht als du oder ich, sondern als dieses lebendige Feld der Liebe.
Ja, es geht um Liebe …
Ursula Richard ist Autorin und war viele Jahre Chefredakteurin der Zeitschrift „Buddhismus aktuell“.
Zuerst veröffentlicht in moment by moment, Ausgabe 4‘2017. Abgedruckt mit freundlicher Genehmigung der Redaktion moment by moment: www.moment-by-moment.de.
Autorin: Marie Mannschatz
Unsere Zeit auf diesem Planeten ist begrenzt. Wie möchten wir sie verbringen? Überlassen wir den Lauf unseres Lebens dem Schicksal, dem Zufall, oder möchten wir Einfluss nehmen und unser Leben klug gestalten? Seit mehr als zwei Jahrtausenden wenden sich Menschen an den Buddha und seine Lehre, um Antworten auf die großen Daseinsfragen zu erhalten: Wie kann man glücklich und bewusst leben? Welche Entwicklungsmöglichkeiten habe ich? Wie kann ich innere Freiheit finden? Auch in der heutigen Zeit möchten wir erfahren, wie wir ein Leben im Einklang mit uns selbst und der Welt führen können.
Der Buddha ging von der Vollkommenheit eines jeden Menschen aus. Er war davon überzeugt, dass wir alle ursprüngliches Gutsein in uns tragen. Im Kern sind wir erleuchtete Essenz, reines Licht, absoluter Frieden. Unzerstörbar. Diesen menschlichen Kern verglich der Buddha mit einem Goldklumpen, der seit unzähligen Daseinszyklen bis zur Unkenntlichkeit verkrustet und verborgen in uns schlummert. Den Goldklumpen in uns und anderen zu erkennen, ihn freizulegen und zu polieren, darum geht es in der buddhistischen Lehre.
Der Weg der Meditation gibt uns Mittel und Werkzeuge an die Hand, die Juwelen in uns auszugraben und zum Funkeln zu bringen. Wenn wir bewusst unsere Erkenntnisfähigkeit entwickeln und uns auf das achtsame Erleben des gegenwärtigen Moments einlassen, werden wir täglich neu belohnt. Durch regelmäßige Meditationsübungen entfaltet sich eine umfassende, leuchtende Klarheit in Herz und Geist. Und nicht nur das: Wer sich auf den Weg macht, die kostbarsten Eigenschaften in sich zu entdecken, wird überrascht feststellen, dass sich nach Jahrzehnten des Übens fast nebenher Geisteshaltungen entwickeln, die im Buddhismus als die sogenannten Vollkommenheiten bekannt sind. Sie werden die Paramita genannt. Ihre Zahl variiert – es sind entweder sechs oder zehn. Im vorliegenden Buch wollen wir uns mit den zehn Vollkommenheiten befassen. Das Wort Paramita bedeutet »zum jenseitigen Ufer gelangen«. Mit dem jenseitigen Ufer ist das Land des freien Geistes gemeint, der nicht mehr von Hindernissen, inneren Kämpfen und Verwicklungen belastet ist. Die zehn Vollkommenheiten heißen:
1. Großzügigkeit, 2. Energie, 3. Entschiedenheit, 4. Wohlwollen, 5. Nichtverletzendes Handeln, 6. Wahrhaftigkeit, 7. Geduld, 8. Weisheit, 9. Gelassenheit, 10. Einfachheit, Loslassen
Wir können die Paramita wie einen Kompass verwenden. Sie geben uns eine Ausrichtung in alltäglichen Konflikten und bereiten den Geist für befreiende Einsicht vor. Sie stimmen uns ein auf ein Leben in Gesundheit, Frieden und Furchtlosigkeit. Die zehn Vollkommenheiten sind innere Eigenschaften, die wir durch bewusstes Üben zum Leuchten bringen können. Jedes Kapitel in diesem Buch ist einer Vollkommenheit gewidmet. Sie überschneiden und durchdringen sich jedoch gegenseitig, sind genau genommen nicht voneinander zu trennen und auch nicht auf eine bestimmte Reihenfolge festgelegt. Es ist wie bei einem dicken Seil, das aus zehn Strängen geknüpft ist – jeder einzelne Strang ist wichtig, um vereinte Tragkraft zu schaffen. Jede einzelne Vollkommenheit möchte erkannt und verstanden werden. In der Verknüpfung aber werden sie mehr, als Worte fassen können. Der Buddha hat einmal gesagt: »Um die Unwissenheit und das Leiden in dieser Welt zu besiegen, habe ich mich über unzählige Zeitalter hinweg in den zehn Vollkommenheiten geübt. Hört mir aufmerksam zu, ich werde euch davon berichten.«
Materielles kann wieder zu nichts zerfallen, aber geistige, charakterliche Vollkommenheiten schenken uns einen inneren Reichtum und grundlegenden Frieden, den uns niemand nehmen kann. Deshalb ist es wirklich lohnend, sich auf die zehn Vollkommenheiten auszurichten. Wenn wir sie auf unserem inneren Weg bewusst erkennen und benennen, werden sie in ihrer Ausprägung und Wirkung vertieft. Sie bringen unsere besten Eigenschaften zum Vorschein und lassen den Goldklumpen in uns glänzen.
Ganz gleich, ob wir uns im ersten Drittel oder in der Reifephase unseres Lebens befinden, die zehn Vollkommenheiten geben uns einen Maßstab, um unser Verhalten und unsere Erkenntnisfähigkeit einzuschätzen. Unser Bemühen um radikale Akzeptanz und charakterliche Vervollkommnung kann so kontinuierlich ausgelotet werden.
Da ich seit Jahrzehnten Vipassana- und Metta-Meditation praktiziere, möchte ich in diesem Buch auch schauen, ob und wie die zehn Vollkommenheiten meinen Geist und mein Leben geprägt haben, um zu verdeutlichen, wie viel diese Geisteshaltungen bei uns allen bewirken können. Was hat sich durch all die Jahre intensiver Meditationspraxis verändert? Habe ich gelernt, meine eigene Unvollkommenheit zu akzeptieren und meinen Frieden damit zu finden?
Dieses Buch gewährt einen Einblick in den Garten meines Geistes. Wie bei uns allen gibt es darin Beete, die viel Sonnenlicht und gute Bewässerung empfangen haben, und Hügel, die weit hinten am Rand liegen, im Schatten alter Bäume, unter denen Efeu und Unkraut wuchern. Der ganze Garten gehört zu mir. Auch das trockene Gestrüpp, das schon seit Jahren darauf wartet, weggeräumt zu werden, und die unordentlichen Ecken, über die ich – getreu meinen Gewohnheiten – so gerne hinwegschaue. Der Garten ist vollkommen unvollkommen. Weiträumig. An vielen Stellen einladend und von Licht durchflutet, aber auch feucht und muffig.
Gibt es zwei völlig identische Gärten auf der Welt? Ich glaube nicht. Wenn ich jedoch einen Garten anlegen will, schenkt mir der Blick in die Gärten anderer Ideen und Motivation für meine eigene Gartengestaltung. In diesem Sinne möchte ich anhand meiner eigenen Erfahrungen – und auch der Erfahrungen anderer – vermitteln, was es bedeutet, den Garten unseres Geistes zu kultivieren, einen geistigen Weg zu wählen und sich auf kontinuierliches Üben einzulassen.
Mein Weg ist nicht nur buddhistisch geprägt. Ich habe von wunderbaren Meistern verschiedenster Schulen, von Indianer-Schamanen und Therapeuten gelernt. Über ganze Lebensphasen hinweg wurde ich stark von Fritz Perls, Wilhelm Reich und Frieda Goralewski beeinflusst. Sie alle haben mir dazu verholfen, das Verständnis der zehn Vollkommenheiten zu entwickeln, das ich in diesem Buch zum Ausdruck bringe. Ich hoffe, dass meine Leserinnen und Leser im inneren Dialog mit diesem Buch dazu inspiriert werden, ihr eigenes Bewusstsein mithilfe der Vollkommenheiten zu schärfen und ihre eigene Unvollkommenheit liebevoll zu umarmen.
Textauszug mit freundlicher Genehmigung des O.W. Barth Verlages aus „Vollkommen unvollkommen“, Marie Mannschatz, 2019, 288 S., 19,99 €
Herausgeber Achtsames Leben:
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Tel. 0441-17543
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