Bewusstes Leben April - August 2020


Nachwendekinder – Die DDR, unsere Eltern und das große Schweigen

Warum uns dieses Buch wichtig ist? Weil es so wichtig ist, miteinander ins Gespräch zu kommen zwischen den Generationen über schmerzhafte Dinge, die lange im Verborgenen wirkten. Weil es uns alle als Gesellschaft angeht, wenn wir „im Westen“ noch immer auf die „im Osten“ herabschauen, als seien sie Migranten, die zufällig schon deutsch sprechen. Und weil es ein gemeinsames Schicksal ist, das uns eint – die Sprachlosigkeit, die es zu überwinden gilt…. (Anm. d. Red.)

©bounty - www.Pixabay.com
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Autor: Johannes Nichelmann

 

Berlin-Pankow, 1996. Ich bin sieben Jahre alt, als mein Bruder und ich die Uniform finden, in einer Mülltüte im Keller. Sie ist grüngrau, mit Schulterabzeichen in Silber und Gold. Wir setzen die Schirmmütze nacheinander auf unsere kleinen Köpfe, schlüpfen in die viel zu große Jacke. »Zieht das sofort wieder aus!« Mein Vater steht in der Tür, Zorn in den Augen. »Wehe, ihr fasst das noch einmal an!« Wir verlieren nie wieder ein Wort darüber. Zumindest bis ich Abitur mache, genau zwanzig Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer. Ich habe vor, mich in Geschichte prüfen zu lassen, interessiere mich für das Thema Grenzsoldaten und erzähle meinem Vater davon. »Wenn du das machst, enterbe ich dich!«, sagt er. Nun ist es nicht so, dass ich auf ein großes Erbe hoffen könnte. Außerdem ist mein Vater zu diesem Zeitpunkt gerade einmal Mitte vierzig. Was er mir damit eigentlich sagen will: dass über diesen Teil seiner Geschichte, unserer Familiengeschichte, nicht gesprochen wird. Unter gar keinen Umständen.

 

Ich weiß nur: Mein Vater hat seinen Wehrdienst bei der Nationalen Volksarmee geleistet, an der Berliner Mauer. Bis heute ist mein Wissen über das Leben meiner Familie in der Deutschen Demokratischen Republik bruchstückhaft und verschwommen. Die DDR meiner Eltern besteht für mich nur aus Anekdoten, in denen meistens Sommer ist und gute Laune herrscht, aus Geschichten vom Zelten an einem Brandenburger See zum Beispiel, vom Familienhund meiner Mutter. Er hieß Berrie, und nach all den Erzählungen über ihn habe ich das Gefühl, selbst häufiger mit ihm Gassi gegangen zu sein. Es ist auch die Rede von einem strengen Lehrer, einem Herrn Hering, der am Ende aber auch irgendwie ganz okay war. In all den Erzählungen herrscht ein besonderer Sinn für Gemeinschaft. Kritisches kommt kaum vor, ihre Stasi-Akten wollten meine Eltern nie sehen. Sie hatten nie Kontakt zum  Geheimdienst und wollen bis heute auch nicht wissen, wer aus ihrer Umgebung sie eventuell bespitzelt haben könnte. Über ihre Mitgliedschaft in der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands sprechen sie nur ungern.   

 

Insgesamt habe ich das Gefühl, dass die DDR entweder ein vierzig Jahre lang andauernder Sommerausflug an den See oder ein niemals enden wollender Aufenthalt im Stasi- Knast war. Es kommt immer darauf an, wen man fragt. In jedem Fall war die DDR schwarz-weiß und klang nach Trabant. Gerochen hat sie wie meine Grundschule, chemischmuffig. Ich bin in einem Land geboren, das ich nie bewusst gesehen habe. Mein Impfausweis und meine Geburtsurkunde sind für mich die einzigen greifbaren Belege dafür, dass ich nicht in dem Staat geboren wurde, in dem ich aufgewachsen bin. Die DDR und ich – wir sind irgendwie miteinander verbunden, wobei ich nicht genau verstehe, wie und warum.

 

Natürlich kenne ich die wichtigen Ereignisse aus der Geschichte des Arbeiter- und Bauernstaates. Seinen politischen Aufbau, wie er 1949 gegründet worden und 1990 untergegangen ist, bis hin zu SED und Stasi. Viele Namen und Gesichter von DDR-Akteuren sind mir bekannt: die Genossen Generalsekretäre Erich Honecker und Egon Krenz, Stasi-Chef und »Ich liebe doch alle Menschen«- Mielke und natürlich »Niemand hat die Absicht eine Mauer zu errichten«-Ulbricht. Auch was am 17. Juni 1953, beim Arbeiteraufstand in der DDR, geschah, habe ich verstanden. Ebenso, wie und warum im August 1961 die Berliner Mauer hochgezogen wurde und welches Leid sie über die Menschen gebracht hat. In mein Gedächtnis eingebrannt ist die Aufnahme des Grenzers Conrad Schumann und seines Sprungs in den Westen an der Bernauer Straße in Berlin. 

 

Wenn ich an die DDR denke, fallen mir Begriffe wie »Plaste«, »Konsum« (Betonung auf der ersten Silbe: »KONsum «) oder »Kaufhalle« ein, die ich manchmal auch heute noch verwende. Ich denke an Aufnahmen von aufmarschierenden Jungpionieren. Ich kenne die Unterhaltungsprogramme des DDR-Fernsehens, wie »Ein Kessel Buntes«, und die Figuren aus dem Kinderfernsehen: Pittiplatsch, Schnatterinchen, das Sandmännchen. Ich habe die Melodien der Nachrichtensendung »Aktuelle Kamera« und der Nationalhymne  »Auferstanden aus Ruinen« im Ohr. Einigermaßen informiert bin ich über die Sache mit den »Volkseigenen Betrieben« (VEB), den »Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften« (LPG) und dem maroden Wirtschaftssystem.

 

Allgemein bekannt ist auch der grobe Ablauf der Wende: von den Montagsdemonstrationen über den nervösen Machtapparat bis hin zum West-Außenminister Hans-Dietrich Genscher auf dem Balkon der Prager Botschaft. Da ist die historische Pressekonferenz mit dem »Nach meiner Erkenntnis ist das sofort, unverzüglich« Günter Schabowskis vom 9. November 1989, kurz vor 19 Uhr. Die Bilder von der Öffnung des Schlagbaums am Grenzübergang Bornholmer Straße und den fröhlichen und feiernden Menschen am Brandenburger Tor treiben mir manchmal Tränen in die Augen. Ich identifiziere mich mit diesen Leuten, die sich im Freudentaumel in die Arme fallen. Ich spüre: Das ist auch meine Geschichte. Nur dass ich nicht genau weiß, warum. Mich berühren die Videoaufnahmen von der Stürmung des Stasi-Hauptquartiers in der Normannenstraße in Berlin-Lichtenberg.

 

In diesem Buch möchte ich keinen Abriss zur Geschichte der Deutschen Demokratischen Republik als Staat abgeben. Es existieren ausreichend Bücher, Filme und Geschichten zu den historischen Fakten. Es geht darum, warum wir Nachwendekinder zu wenig bis gar nicht mit unseren Eltern über ihr Leben in der DDR sprechen und nicht über vereinzelte Erinnerungsfragmente hinauskommen. 

 

Bei meiner Recherche musste ich lernen, wie schwierig es ist, sich den Biographien unserer direkten Vorfahren zu nähern, sie zu hinterfragen, ohne sich wie ein Verräter oder ein Eindringling vorzukommen. Es fühlt sich seltsam und falsch an, bei den eigenen Eltern nachzubohren. Meine Bereitschaft, mich mit ihnen zu identifizieren, ist nicht gerade gering. Deutlich spürbar ist ihre Angst, offen über das Leben und die eigene Rolle in der DDR zu sprechen. Über den Beitritt zur SED, über den Glauben an den Sozialismus, über den schmalen Grat des richtigen Lebens im falschen. Befürchten sie, wir, ihre Kinder, würden sie moralisch verurteilen?

Ein Nachwendekind gab mir mit auf den Weg: »Natürlich können wir Nachwendekinder gnadenlos sein, weil wir ja nichts verteidigen müssen. Unsere Zehen stecken vielleicht noch im alten Osten, aber wir sind völlig anders aufgewachsen.« Wir sind zwar nicht frei vom Einfluss der Propaganda, aus Ost und West, können aber mit Abstand auf die DDR blicken. Wir haben sie nicht miterlebt. Am 3. Oktober 1990 hörte sie auf zu existieren. Dennoch sind wir Nachwendekinder kulturell mit ihr aufgewachsen. Der untergegangene Staat wirkt nach – nicht zuletzt durch die Erziehung in der Familie und der Schule.

Da ist zum Beispiel Maximilian, geboren 1987, aus Berlin. Er fährt einen originalen Trabant. Das klassischste aller DDR-Fahrzeuge ist seine Zeitmaschine. Zu gern würde er das Land kennenlernen, in dem sein Vater und seine Mutter aufgewachsen sind. Er ist kein ewig gestriger Nostalgiker, er ist ein Suchender. Da ist Beatrice, die für ihre Arbeit von Eisenach nach Frankfurt am Main zieht. Dort wird sie zum ersten Mal zum »Ossi«, weil ihre Arbeitskolleginnen und -kollegen sie auf sämtliche Klischees reduzieren, sodass sie anfängt, sich mit ihrem Ostdeutschsein zu beschäftigen. 

Da ist die Geschichte von jemandem, der stets verärgert war, wenn irgendwo negativ über die DDR gesprochen wurde. Von jemandem, der sich von niemandem diese DDR, die er ja nie gesehen hatte, kaputtreden lassen wollte. Jemand, der das Leben seiner Vorfahren  lange verteidigt hat, ohne eigentlich zu wissen, was er da verteidigte – auch ohne sich in dieses Land irgendwie zurückzuwünschen. Dieser Jemand bin ich. Wir haben zwar eine andere Perspektive auf die DDR, doch wenn wir den Dialog mit unseren Eltern und Großeltern nicht suchen, werden wir nicht in der Lage sein, gemeinsam etwas aus diesem Teil der deutschen Geschichte zu lernen. Wir werden außerdem nicht in der Lage sein, einige der politischen Schieflagen im Osten zu beheben. Noch ist es nicht zu spät, damit anzufangen.

 

Es geht mir natürlich nicht nur um meine eigene Familie. Für dieses Buch bin ich durch Europa gereist und habe junge Ostdeutsche und ihre Eltern getroffen. Ich kenne einige von ihnen aus meinem erweiterten persönlichen Umfeld, habe andere zufällig auf  Veranstaltungen oder über diverse journalistische Recherchen kennengelernt. Sie alle haben eines gemeinsam: Sie hatten sofort eine Menge über das Thema zu berichten. Im ersten Teil des Buches spreche ich mit ihnen über ihren aktuellen Blick auf die DDR und den Osten, über ihr Aufwachsen in einem Land, dessen östlicher Teil vor nicht allzu langer Zeit ein eigener Staat gewesen ist. Es geht dabei auch um die Entdeckung einer möglichen ostdeutschen Identität. Ich begegne außerdem Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die zur Nachwendegeneration forschen.

 

Im zweiten Teil des Buches kommt es zu direkten Auseinandersetzungen mit der Elterngeneration. Geschwiegen wird – wenig erstaunlich – vor allem in den Familien, die dem SED-Regime in irgendeiner Weise nahestanden. Da sind ein – sonst  nonkonformistischer – Polizeispitzel, ein Großvater bei der Stasi und ein Grenzsoldat. Einige der Familien haben zum ersten Mal offen miteinander über das eigene Leben in der DDR und die Ursachen für das Schweigen gesprochen. Das heißt, zum ersten Mal, ohne nur die eingeübten Anekdoten hervorzukramen. Das ist schmerzhaft und kräftezehrend – für beide Seiten.

Dieses Buch will einen dokumentarischen Blick einnehmen. Es geht mir darum, die Menschen zu Wort kommen zu lassen, ihnen zuzuhören. Sie erzählen ihre Geschichten, ohne dabei den Anspruch zu haben, für eine ganze Generation zu sprechen.

 

Wer sind diese Nachwendekinder? Vor knapp zehn Jahren fand sich eine Gruppe unter dem Label »Dritte Generation Ost« zusammen. Das waren laut eigener Definition DDR Kinder, die zwischen 1975 und 1985 geboren wurden. Viele haben nach der Wende ihre Eltern straucheln sehen. Einige trugen schon das Pioniertuch um den Hals, andere waren bereits in den höheren Schulklassen und Mitglieder der FDJ. Viele tragen eine bewusste Erinnerung an den Arbeiter-und Bauernstaat in sich. Als Nachwendekinder wird die nächste Generation bezeichnet. Frauen, Männer, Diverse, die die DDR nie gesehen haben, beziehungsweise aufgrund ihrer späten Geburt absolut keine Erinnerung an diese Zeit haben. Um die Generation der Nachwendekinder einzugrenzen, beziehe ich mich auf Menschen, die zwischen 1985 und 1992 geboren sind. Innerhalb dieser Alterskohorte bewegen sich auch die Nachwendekinder, die in diesem Buch zu Wort kommen. Wer ein bisschen früher oder später als Kind ehemaliger DDR-Bürgerinnen und -Bürger geboren ist und sich als Nachwendekind begreift, soll sich auf keinen Fall ausgeschlossen fühlen.

 

Wieso wird gerade jetzt diese Leerstelle sichtbar, dreißig Jahre nach dem Zusammenbruch der DDR? Die meisten Nachwendekinder haben ihre Ausbildung beendet und viele Nächte durchgefeiert, andere auch schon Familien gegründet. Sie sind Mitte, Ende zwanzig oder Anfang dreißig und haben nun mehr Zeit, die eigene Rolle im Leben zu hinterfragen. Einige Protagonistinnen und Protagonisten waren nur bereit, mir ihre Geschichte zu erzählen, wenn sie anonymisiert werden. Dieser Bitte bin ich nachgekommen.

 

Textauszug aus „Nachwendekinder – Die DDR, unsere Eltern und das große Schweigen“ von Johannes Nichelmann mit freundlicher Genehmigung des Ullstein Fünf Verlages. Siehe auch unter Wortwelten.

 


Bewusstes Leben Winter 2020


Jede Generation macht ihre Erfahrungen und hat ihre Aufgaben

Foto: NiklasPntk auf pixabay.com
Foto: NiklasPntk auf pixabay.com

 

Autorin: Ulrike Plaggenborg

 

Die Fridays for Future-Bewegung hat einiges in Bewegung gebracht, auch wenn noch nicht im erhofften Umfang darauf reagiert wurde (die Politik stellt sich nach wie vor mehr oder weniger stur). Die jungen Menschen mit ihrem wunderbaren Engagement scheinen jedoch bei vielen aus meiner Generation, der (nach) 68er-Generation, sowas wie Schuldgefühle und Selbstverurteilung hervorzurufen. So wird zuweilen behauptet, wir hätten „der Jugend einen Scherbenhaufen hinterlassen“. Und natürlich sind wir an dieser Entwicklung beteiligt, d. h. wir haben sie mit verursacht und es braucht unsere Unterstützung für die anstehenden Veränderungen. Und gleichzeitig bin ich der Ansicht, dass jede Generation ihre ganz eigenen Aufgaben in ihrer jeweiligen Zeit hat und ihre eigenen Erfahrungen macht.

 

Unsere Großeltern haben sich im wahrsten Sinne durch den ersten Weltkrieg hindurch gekämpft und das Chaos der Weimarer Republik erlebt, das geprägt war von der Industriellen Revolution und ihren Folgen. Unsere Eltern haben am Nationalsozialismus auf die eine oder andere Weise teilgehabt und einen fürchterlichen Weltkrieg überlebt. Anschließend fiel ihnen die Aufgabe zu, das Land wiederaufzubauen. Es gab keine begleitende Trauma-Bewältigungsarbeit, was bei sehr vielen zu emotionaler Lähmung und Trauma-Abspaltung führte.

 

Unsere, die 68er-Generation, hatte die Aufgabe, die Altlasten aus der Nazizeit ans Licht zu zerren. Ohne unsere Anstrengungen hätten wir heute noch weitaus mehr Probleme mit rechtem Gedankengut. Atomkraft, Atomraketen, Umweltverschmutzung, das kapitalistische System – gegen all das sind wir aufgestanden und haben lauthals unseren Unmut kundgetan. Meine erste Demo habe ich mit 13 Jahren besucht – daran musste ich denken, als ich neulichs bei der Freitagsdemo einmal mitgegangen bin. Eine Partei wie die Grünen (von denen man heute halten kann was man möchte) oder die Rechte von Frauen, die Etablierung der Bio-Szene, Bildungschancen für alle, der europäische Gedanke, gleichgeschlechtliche Liebe und überhaupt eine bis dato ungekannte Freiheit – all das gab es offiziell ja gar nicht bis Ende der 60er Jahre. Und dass wir nun seit fast 75 Jahren in Frieden leben, das ist neu für Deutschland und daran hat nicht zuletzt die damals entstandene Friedensbewegung ihren Anteil.

 

Dass der Widerstand alleine jedoch nichts wirklich bewegt, auch das mussten wir schmerzhaft erfahren. Und so haben sich sehr viele auf den inneren Weg begeben und dort nach Frieden gesucht. Dass das keine Angelegenheit von einem 3-Monats-Kurs in Erleuchtung ist, sondern eine lebenslange Aufgabe, das wurde auch schnell klar. Und so vergingen Jahrzehnte der Klärung.

 

Ein weiterer Beitrag unserer Generation ist dann auch, dass es heute Trauma-Arbeit gibt, mit deren Hilfe auch die generationell vererbten Traumata aufgearbeitet werden können. Systemisch gesehen ist da ganz viel passiert an Auflösung von altem Stress, sowohl auf persönlicher wie gesellschaftlicher Ebene.

 

Innere Arbeit ist mühsam und braucht Zeit. In der Zeit konnten wir uns nicht auch noch gleichzeitig um alle anderen Themen kümmern. Deshalb gibt es ein gewisses Vakuum ab Ende der 80er Jahre, in dem der Kapitalismus richtig Fahrt aufgenommen hat, besonders das Geld(Un-)wesen. Eine Zeit, in der der Konsum völlig aus dem Ruder lief, viele nur nach ihrem eigenen Vorteil schauten, nach SpaßSpaßSpaß. Die Kinder der 68er hatten keine Lust mehr auf Politisches. Dass das nicht lange gut gehen würde, war aber auch lange schon klar. 

 

Und so ist es die Aufgabe der nächsten Generation, der jetzt jungen Menschen, das Ruder wieder in die Hand zu nehmen, aktiv zu werden und zu schauen, wie wir alle in Frieden auf diesem wunderschönen Erdball leben können. Ganz sicher wird es kein „Weiter so“ geben können und das ist auch gut so. Es gibt ganze Kataloge von Maßnahmen (Bio-Landwirtschaft, Fleischverzicht, erneuerbare Energien im großen Maßstab, öffentlicher (Nah-) Verkehr usw.) die wir uns denken können (und zu einem großen Teil auch schon umsetzen), mit denen auch relativ kurzfristig schon große Veränderungen bewirkt werden können. Es gibt ja diese Theorie der kritischen Masse, bei deren Überschreitung eine Art Quantensprung möglich wird, also eine große Veränderung in kurzer Zeit. 

 

Ich finde schon, dass wir als Generation das uns Mögliche getan haben. In meinem Leben jedenfalls gab es keine Phase des Stillstands, es gab immer Ent-Wicklung und wird es auch weiter geben. Und wenn jetzt die Jungen mit frischem Mut und Schwung der ganzen Sache einen Anstoß geben – wunderbar! Zutrauen sollten wir es ihnen auf jeden Fall (auch diese Meinung hörte ich kürzlich, dass die Aufgaben zu groß werden würden für die Enkel), denn ihnen gehört die Zukunft und wieso sollten sie ihre Aufgaben nicht genauso meistern wie wir die unsrigen? Und selbst wenn es tatsächlich zu spät sein sollte, um die Klimakrise zu wenden, dann sind wir alle aufgefordert, gemeinsam das dann Beste daraus zu machen, so wie alle Generationen vor uns es getan haben. 

 

Innere und äußere Arbeit gehen Hand in Hand, das wusste der Buddha schon vor langer Zeit. Weder das eine noch das andere kann für sich allein existieren. Letztlich ist alles mit allem verbunden. Und so kann es heute auch nicht mehr nur darum gehen, sich wohlzufühlen oder nur das eigene Leben zu optimieren. Intensive innere Arbeit führt automatisch zu Wohlbefinden und Mitgefühl und daraus kann sich dann eine Zuwendung nach außen entwickeln. Und so kann jeder Mensch das tun, was auf seinem Platz möglich ist. 


Auch du müllst dein Gehirn zu

Foto: Gerd Altmann auf pixabay.com
Foto: Gerd Altmann auf pixabay.com

Autorin: Prof. Dr. Maren Urner

 

Bevor wir loslegen, mach zunächst eine kurze – aber ehrliche – Bestandsaufnahme deines Informationskonsums. Beantworte dafür spontan ein paar ganz banale Fragen: 

  • Wie viel Zeit verbringst du täglich online?
  • Wie viel vor dem Fernseher oder mit anderen Medien?
  • Was schätzt du, wie oft du dich täglich durch E-Mails, Push-Nachrichten, Social-Media-Benachrichtigungen und andere »Ich checke das mal eben«-Botschaften ablenken lässt?
  • Wie oft ärgerst du dich darüber und wünschst dir, dich anders zu verhalten?

Wenn unser Informationsdrang süchtig macht

Im 21. Jahrhundert besteht die Herausforderung nicht mehr darin, stunden- oder gar tagelang in Bibliotheken nach einer bestimmten Jahreszahl oder Aussage zu suchen. Ausgerüstet mit einem internetfähigen Mobilgerät kannst du von fast überall in Sekundenschnelle an eine unbegrenzte, ja unüberschaubare Menge an Informationen kommen. Kein vergebliches Suchen mehr, kein Streit mehr darüber, wann Napoleon lebte, und keine Sorge mehr darüber, ob wir auf dem Weg zur Arbeit vom Regen kalt erwischt werden.

Doch was, wenn unser Gehirn da nicht hinterherkommt – weil es einfach nicht dafür gemacht ist, unsere regelrechte Informationswut zu verarbeiten, und stattdessen überfordert ist? Wenn es vielleicht sogar abhängig wird von bestimmten Informationsquellen? Etwa dem Pop-up-Fenster deines E-Mail-Kontos, das mit einem unüberhörbaren »Pling!« signalisiert, dass du eine neue Nachricht erhalten hast. Oder dem Social-Media-Feed: Eben schnell noch mal checken, ob deine Freunde schon Fotos vom letzten Abend gepostet haben, ob du noch Karten fürs Konzert nächste Woche bekommen kannst oder irgendwo in der schönen, neuen Welt ein Shopping-Schnäppchen auf dich wartet.

Ja, unsere aktuelle Informationswut kann zur Sucht werden. Ein Weg weg von der Nadel kann uns nur gelingen, wenn wir unsere Gewohnheiten ändern – und eine Medienhygiene entwickeln. Denn genau wie wir uns nach dem Toilettengang und vor dem Essen die Hände waschen, mehrmals täglich die Zähne putzen und regelmäßig duschen, um unseren Körper zu säubern, können wir uns Verhaltensweisen für ein sauberes Gehirn angewöhnen. 

 

Abgelenkt aus Gewohnheit

Statt dein Gehirn kontinuierlich zuzumüllen, kannst du jetzt beginnen, es dosierter mit Informationen zu versorgen – mit solchen Nachrichten und Quellen, von denen du vermutest, dass sie dich wirklich weiterbringen und nicht bloß ablenken. Vielleicht ist es jetzt an der Zeit, Nägel mit Köpfen zu machen – und zwar nicht mit der Halbwertszeit von guten Vorsätzen zum neuen Jahr, sondern ein für alle Mal. Schließlich klappt das mit der Mundhygiene bei den meisten Menschen ja auch ganz gut – warum also nicht auch bei der Medienhygiene.

Um die zu etablieren, musst du zunächst verstehen, was eine Gewohnheit – oder im Extremfall eine Abhängigkeit – ausmacht. 4 Elemente bilden gemeinsam den sogenannten Habit Loop, die Gewohnheitsschleife: 

  1. Der Reiz: Am Anfang steht immer ein Auslöser oder Reiz, der ein bestimmtes Verhalten auslöst – das Pop-up-Fenster, das laute »Pling!«, die Vibration oder das Blinken des Smartphones.
  2. Die Routine: Wir lernen, den Reiz mit einer bestimmten Routine zu verknüpfen: Das Smartphone hat vibriert oder blinkt, also schauen wir nach. Das Pop-up-Fenster hat unsere Aufmerksamkeit erhalten, also klicken wir in den E-Mail-Eingang.
  3. Die Belohnung: Wenn wir die Routine ausführen, erhalten wir die Belohnung: Der Kick der neuen Information, die Befriedigung, auf dem neuesten Stand zu sein, das gute Gefühl, dass jemand an uns denkt – immer sind es bestimmte Signale von Botenstoffen im Gehirn, die uns ein kleines »legales High« verschaffen.
  4. Das Verlangen: Das Verlangen schließt die Gewohnheitsschleife. Es entsteht, weil unser Gehirn gelernt hat, wie sich die Belohnung – der Kick beim Klick – anfühlt. Das kann so stark sein, dass wir die Welt um uns herum vergessen, Gefahren ausblenden und Verluste in Kauf nehmen. Im Extremfall wird das Verlangen zur Sucht, und wir geraten in eine Abhängigkeit, in der wir nicht mehr anders können, als zu klicken, zu swipen und am besten 5 Informationsquellen gleichzeitig zu konsumieren. Das geht allerdings nicht, weil unser Gehirn zwar schnell zwischen verschiedenen Aufgaben hin und her springen, diese aber nicht parallel ausführen kann – statt Multitasking betreiben wir also Taskswitching, wenn wir mal wieder versuchen, 3 Dinge gleichzeitig zu tun.

Gewusst wie: Es kommt nicht auf die Willensstärke an

Bevor du dich nun darauf stürzt, den ungeliebten Gewohnheiten mit Blick auf deinen eigenen Informationskonsum den Garaus zu machen, muss ich dir vorab noch eine schlechte und eine gute Nachricht mit auf den Weg geben: Selbsthilfe-Bücher erklären gern lang und breit die 4 vermeintlichen Zutaten erfolgreicher Verhaltensänderungen. 

Dazu gehören laut diesen Büchern in der Regel ein klares Ziel, ein guter Plan, um das Ziel zu erreichen, realistische Zwischenziele und eine ordentliche Portion Willensstärke. Wenn es dann mit dem ambitionierten Sportprogramm oder dem geplanten Alkoholverzicht doch nicht so klappt wie geplant, liegt die Schuld ergo entweder an einem schlechten Plan, an mangelnder Motivation oder an zu geringer Willensstärke. 

Mit ein wenig Zeit und Ausdauer können wir (fast) jede Gewohnheit ändern.

Das ist allerdings grober Unfug, weil dieser Ansatz auf mindestens 2 Fehlannahmen beruht: Erstens können wir unser unerwünschtes Verhalten nicht direkt in das gewünschte Verhalten verändern, dazu gleich mehr. Zweitens können wir dafür nicht durchweg unsere Willensstärke und Selbstkontrolle nutzen. Denn mal ganz abgesehen davon, dass das Konzept der Willensstärke selbst wissenschaftlich umstritten ist, variieren unsere Motivation und Kraft, unser Verhalten zu beeinflussen, aufgrund verschiedener, teils unbekannter Faktoren.

Nun aber zur guten Nachricht: Tatsächlich können wir mit ein wenig Zeit und Ausdauer (fast) jede Gewohnheit ändern, indem wir die zugrunde liegende Gewohnheitsschleife analysieren und sie dann Stück für Stück auseinandernehmen. Das funktioniert in 4 Schritten: 

 

Schritt 1: Routine identifizieren

Die Routine ist der Teil der Gewohnheitsschleife, die wir ändern wollen – und können. Mithilfe deines kleinen Medien-Tagebuchs solltest du eine oder sogar mehrere Routinen leicht identifizieren können. In meinem Fall ist es zum Beispiel der Blick in den E-Mail-Posteingang. Dann gilt es, die Routine zu ändern, und dabei ist klar: Egal um was es konkret geht, gute Vorsätze und Klebezettel mit der Aufschrift »Jetzt nicht!« reichen nicht aus.

 

Schritt 2: Mit alternativen Belohnungen experimentieren

Belohnungen sind so mächtig, weil sie unser Verlangen befriedigen. Das Problem dabei ist, dass wir uns oft des zugrunde liegenden Verlangens nicht bewusst sind. Die Frage ist also: Was treibt unser Verhalten wirklich an? Geht es bei meinem Drang, den Posteingang zu kontrollieren, nur um das Lesen von E-Mails? Oder um eine andere Art der Belohnung? 

Vielleicht sehne ich mich im stressigen Alltag voll großer und wichtiger Aufgaben nach einem Zeitvertreib, der schnelle Ergebnisse liefert. Die meisten E-Mails sind schnell gelesen und beantwortet, und danach habe ich das trügerische Gefühl, »etwas geschafft zu haben«. Oder geht es mir um das Gefühl, gebraucht zu werden, also letztendlich um einen sozialen Reiz?

Um das herauszufinden, probiere ich verschiedene Alternativen aus: vom Gespräch mit Kollegen oder Freunden (je nach Umgebung) bis zum Spaziergang zwischendurch. Nach jeder Alternative notiere ich ein paar Worte, die mir spontan in den Kopf kommen und später dabei helfen, mich an meine Wahrnehmung zu erinnern. Außerdem stelle ich mir im Anschluss einen Wecker auf 15 Minuten, um zu überprüfen, ob das Verlangen trotz der Alternativhandlung eine Viertelstunde später noch da ist. 

Wer denkt, Gewohnheiten ließen sich über Nacht ändern, sei an dieser Stelle gewarnt: Es kann Wochen oder auch Monate dauern, das entsprechende Verlangen ausfindig zu machen – je nachdem, wie viele alternative Belohnungen auf der Liste stehen und wie strukturiert du vorgehst.

 

Schritt 3: Den Reiz ausfindig machen

Kommen wir zum Auslöser oder Reiz, der das Verhalten auslöst und sich gern zwischen all den Eindrücken versteckt, die täglich auf uns einprasseln. Mit anderen Worten: Häufig wissen wir nicht, warum wir bestimmte Dinge tun. Nehmen wir das Beispiel des routinierten Weges zur Arbeit, bei dem wir automatisch richtig abbiegen: Ist es das Straßenschild, das uns daran erinnert, rechts zu fahren, ein Baum am Wegesrand, der uns den Weg weist, die Uhrzeit, die uns daran erinnert, dass gleich die Arbeit und nicht das Vergnügen beginnt, der Kollege neben uns, der uns unbewusst daran erinnert, dass es ins Büro und nicht in die Stadt oder ins Kino geht? Und warum haben wir heute wie von selbst den Weg zum Bahnhof gewählt, obwohl wir eigentlich zum Sportplatz wollten?

Um den Auslöser einer Gewohnheit ausfindig zu machen, können wir uns zunutze machen, dass fast alle Reize, die Gewohnheiten auslösen, in eine von 5 Kategorien fallen: Ort, Zeit, emotionaler Zustand, andere Menschen und direkt vorausgehende Handlung. Um den Auslöser meiner notorischen E-Mail-Überprüfung ausfindig zu machen, notiere ich also für eine Weile für alle 5 Kategorien den entsprechenden Wert – das sieht dann für einen Tag zum Beispiel so aus: 

  • Ort: im Büro, im Konferenzraum, auf dem Rad …
  • Zeit: 7.30 Uhr, 11.15 Uhr, 13.00 Uhr …
  • Emotionaler Zustand: abgelenkt, gestresst, gehetzt …
  • Andere Menschen: allein, 2 Kollegen, allein …
  • Vorausgehende Handlung: Ankunft im Büro, Telefonat, Absprache mit Kollegen …

Bei welcher Kategorie wiederholen sich bestimmte Reize? Der emotionale Zustand scheint der Auslöser für mein Verlangen, meine Mails zu kontrollieren, zu sein. Nachdem ich also Routine, Belohnung und Reiz auf die Schliche gekommen bin und so alle 3 Eckpunkte der Gewohnheitsschleife kenne, muss ich diese nun umprogrammieren: Jetzt heißt es, die alte Gewohnheit zu ändern – also durch eine neue zu ersetzen.

 

Schritt 4: Einen Plan haben

Bevor es an den konkreten Plan geht, erinnern wir uns noch mal schnell, was Gewohnheiten sind: Verhaltensweisen, für die wir uns irgendwann mal aktiv entschieden haben und die wir dann automatisiert haben. Um solche Automatismen abzuschalten, müssen wir uns wieder aktiv entscheiden.

Angenommen, der Reiz ist eine bestimmte Zeit, dann hilft es beispielsweise, sich einen Wecker zu stellen. Der Alarm erinnert daran, die neue Routine zu starten – bis sie selbst zur Gewohnheit wird. Ist es wie in meinem Fall eine negativ besetzte Stimmung, etwa aufgrund von Zeitmangel, hilft vielleicht eine Notiz am Bildschirm, auf der steht: Aufstehen! 

Jedes Mal, wenn ich merke, dass ich mich überfordert fühle, meine Konzentration schwindet und ich auf die vermeintlich leichte und schnell zu bewältigende Aufgabe »E-Mail-checken« zurückgreifen will, stehe ich also schnell auf, laufe ein paar Schritte durchs Büro und kehre mit einem Glas Wasser, gestreckt und vielleicht mit einem Lächeln im Gesicht zurück an den Schreibtisch. Für den Posteingang lege ich feste Zeiten oder Das-muss-vorher-fertig-sein-Regeln fest, ansonsten bleibt mein E-Mail-Programm komplett geschlossen, sodass erst gar keine Pop-ups am Bildschirmrand auftauchen.

Ich gebe zu, es funktioniert (noch) nicht immer. Es gibt Tage, an denen ich das Programm im Hintergrund anhabe und öfter das Fenster wechsele. Dann aber hoffentlich nicht, weil es eine Gewohnheit ist, sondern weil ich mich bewusst dafür entscheide.

 

Medienhygiene ist eine bewusste Entscheidung

Die eigene Medienhygiene zu überdenken hat also viel damit zu tun, sich alte Gewohnheiten erst bewusst zu machen und dann zu hinterfragen. Genau das kann sich richtig gut anfühlen, und dafür musst du kein Achtsamkeitsguru werden oder täglich ins Yogastudio gehen. Es reicht aus, den mentalen Butler, der uns häufig steuert, aufzuspüren, ihn zur Rede zu stellen und ihn zu fragen: Will ich wirklich schon wieder durch die neuen E-Mails scrollen oder dient der Klick in den Posteingang lediglich als willkommene Ablenkung? 

Dieses Sich-Bewusst-Machen beeinflusst auch direkt unser Selbstbewusstsein. Denn wer das Gefühl hat, Herrin oder Herr der Lage zu sein, kann aktiver entscheiden und handeln. Wer Gewohnheitsschleifen öfter seziert, kann die eigentliche Handlung, egal ob es die Schokokekse, die Facebook-Timeline oder die Netflix-Serie ist, zu einem selbst gewählten Zeitpunkt viel intensiver genießen als im Autopiloten. 

Eine generelle Regel, um mit der Informationsflut umzugehen, ist sicher die alte Binsenweisheit: Weniger ist mehr. Das bringt uns am Ende zurück zum Anfang und den 4 Fragen.

Nutze sie und deine Spontaneinschätzung als Basis für ein kleines Medienhygiene-Tagebuch, das du ein paar Tage oder Wochen führst. So kannst du nach einiger Zeit erkennen, wann, wo und in welchen Situationen du dich am häufigsten ablenken lässt – und wo du den größten Änderungsbedarf siehst!

 

Zur Autorin:

Maren Urner studierte Kognitions- und Neurowissenschaften in Deutschland, Kanada und den Niederlanden und promovierte am University College London. 2016 gründete sie Perspective Daily mit, das erste werbefreie Online-Magazin für Konstruktiven Journalismus, https://perspective-daily.de . Seit April 2019 ist sie Dozentin für Medienpsychologie an der Hochschule für Medien, Kommunikation und Wirtschaft (HMKW) in Köln.

 

Textauszug mit freundlicher Genehmigung des Droemer Knaur Verlages aus

„Schluss mit dem täglichen Weltuntergang“,

ISBN 9783426277768, 16,99 €.

 

Siehe dazu auch unter „Wortwelten“.


Wie uns die Liebe durch das Leben trägt

Bild: yc0407206360 www.pixabay.com
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Autorin: Theresia de Jong

 

 

Frühe Bindungserfahrungen

Eine kleine Geschichte zeigt, dass die Nähe zwischen Mutter und Kind schon zu einem sehr frühen Zeitpunkt gestaltet wird. Die Mutter-Kind-Bindung umfasst durchaus auch die Kommunikation mit unserem eigenen innersten Sein. Dabei glaube ich, dass die Beziehung, die wir zu unserem Kind knüpfen, wenn wir es auf dem Arm tragen, immer auch etwas mit der Beziehung zu unserem eigenen inneren Kind zu tun hat, das heißt: Verletzungen, die unsere Seele in frühester Zeit erlitten hat und noch nicht geheilt wurden, können sich dann auch auf die Beziehung zu unserem Kind auswirken und dadurch an die nächste Generation weitergegeben werden.

Nun aber zunächst zu dieser Geschichte, die ich angekündigt habe: Sie gefällt mir auch deshalb so gut, weil sie uns vieles über die Kontinuität des Daseins sagen kann, im ewigen Kreis von Tod und Leben und auch über die innige Verknüpfung zwischen Mutter und Kind. Es ist eine Geschichte von einem ostafrikanischen Stamm, die zeigt, wie Liebesfähigkeit auch über Rituale angelegt werden kann.

Wenn sich bei diesem Stamm eine Frau, ein Paar, ein Kind wünscht, zieht sich die Frau in die Einsamkeit zurück. Sie setzt sich unter einen Baum und wartet, bis sie das Lied ihres (zukünftigen) Kindes empfängt. Hat sie das Lied vernommen, geht sie singend in ihr Dorf zurück. Sie bringt das Lied allen Dorfmitgliedern bei. Wenn sie mit ihrem Mann in Liebe verbunden ist, singen sie beide das Lied, um die Seele des Kindes zu sich einzuladen. Ist sie dann schwanger, singt sie das Lied für ihr Kind im Bauch. Bei der Geburt singen die Frauen des Dorfes das Lied. Es ist das erste, was das Kind hört, wenn es geboren wird. Dieses Lied wird es sein gesamtes Leben begleiten. Es wird bei allen wichtigen Übergängen im Leben gesungen, bei der Hochzeit und auch auf dem Sterbebett.

 

Wenn ich diese Geschichte bei meinen Vorträgen erzähle, bekommen jedes Mal zahlreiche Zuhörer(innen) Tränen in die Augen. Offenbar wird dadurch ganz direkt eine tiefe Schicht in uns angesprochen. Es ist die Sehnsucht, verbunden zu sein mit einem größeren Feld, das uns trägt und behütet, ein Leben lang. Dieses Urvertrauen bildet sich in unserer frühesten Lebenszeit und ist die Grundlage für eine ungestörte Liebesfähigkeit.

Unser seelisches Wohlbefinden wird entscheidend mit über die Sinneszellen der Haut bestimmt. Das lässt sich sehr leicht beobachten: Wenn wir einen Säugling streicheln, entspannt sich sein gesamter Körper, und vielleicht streckt er sich wohlig wie ein kleines Kätzchen. Weinende Babys sind am besten zu beruhigen, wenn sie aufgenommen werden und einen direkten, liebevollen Körperkontakt spüren. Das Wort „spüren“ bezieht sich - ebenso wie „fühlen“ - auf beide Ebenen; körperlich, aber auch psychisch spüren und fühlen wir etwas. Was wir mit unseren Sinnen spüren, beeinflusst wiederum, was und wie wir uns fühlen. Sonja Stacherl schreibt in ihrem Buch Nähe und Geborgenheit: „Die Berührung bestätigt uns das Vorhandensein eines anderen außerhalb von uns und versichert uns gleichzeitig unsere subjektive Existenz. Durch die Berührung fühlt man also gleichzeitig das andere und das eigene Selbst. Keine Worte und keine Gesten können den Gefühlen von Liebe, Sexualität, Zuneigung, Trost und praktischer Unterstützung so eindeutig Ausdruck verleihen wie die Berührung.“

 

Ein Kind, das geboren wird (wobei natürlich die Umstände der Geburt großen Einfluss haben), erfährt einen totalen Seinswechsel – beim Kaiserschnitt sogar in wenigen Minuten. Von der behüteten Geborgenheit im Mutterleib, der gerade in den letzten Monaten, ein Raum mit eng gesteckten Grenzen war, wird das Kind in die Grenzenlosigkeit entlassen. Die vorher warme Umgebung ist um ein vielfaches kälter. Die Geräusche der Mutter fehlen, ja die Mutter fehlt unter Umständen ganz. Sie war für das Neugeborene der einzige Referenzrahmen, das Universum, alles, was es kannte. Ihr Körper war die Welt. Und das fällt dann plötzlich für das Neugeborene weg. Ihr Universum, mit dem sie eins waren, ist dann plötzlich nicht mehr da. Die Sicherheit des Seins ist bedroht. Neugeborene wissen ganz genau, was sie direkt nach der Geburt – aber auch noch lange danach – am dringendsten brauchen: Ihre Mutter, ihren Geruch, ihre Stimme, ihren Körper, ihre Berührungen, am besten Haut an Haut und so dicht beisammen wie möglich. Die Mutter wieder zu spüren, in ihren Armen geborgen zu liegen ermöglicht einen Seinswechsel in Frieden und in Sicherheit, ein Frieden und eine Sicherheit, die sich tief in dem kleinen Menschlein verankern werden. 

 

Ein Fehlen dieser Sicherheit wird sich aber auch auswirken und deshalb ist es so wichtig, diese fehlende Erfahrung so bald wie möglich nachzuholen, um die Erfahrung der Liebe zu einer prägenden Erfahrung zu machen. In den achtziger Jahren kursierten übrigens Bindungstheorien, die besagten, dass – analog zu Tierstudien besonders an Graugänsen - auch beim Menschen die erste Stunde nach der Geburt prägend ist. Waren Mutter und Kind in dieser Zeit getrennt, wurde ein tiefer und kaum zu kittender Bindungsriss angenommen. Inzwischen gilt diese Theorie als überholt. Es gibt sicherlich so etwas wie eine sensible Phase auch beim Menschen, aber das Zeitfenster ist weitaus größer als eine Stunde. Das ist für viele Mütter, die direkt nach der Geburt von ihrem Kind getrennt wurden und sich deshalb große Gewissensbisse machten und Angst hatten, etwas Wichtiges unwiederbringlich verloren zu haben, ein großer Trost. 

 

Davon ganz unabhängig ist es trotzdem sicherlich förderlich, Mutter und Kind nach der Geburt nicht zu trennen. Michel Odent macht darauf aufmerksam, dass kriegerische Kulturen offenbar strenge Rituale entwickelt hatten, um Mutter und Kind nach der Geburt zu trennen. Das Liebesband zwischen Mutter und Kind wurde so früh wie möglich gestört und das Baby teils recht unsanft begrüßt. Bei den Spartanern (für die Krieg eine große Rolle spielte, und die gute Krieger ausbilden wollten) wurden männliche Säuglinge direkt nach der Geburt auf den Boden geworfen. Nur Säuglinge, die das überlebten, wurden als stark genug erachtet, um später gut im Krieg klarzukommen. Andere Kulturen dagegen, deren Überlebensstrategien nicht darauf abzielten, andere Völker oder auch die Natur zu „beherrschen“, griffen in die physiologischen Abläufe der Geburt so wenig ein wie möglich und ermöglichten der Mutter und dem Kind sich in Liebe kennenzulernen und zu binden. James W. Prescott, ehemals Direktor der Abteilung für Gesundheit und Entwicklung der amerikanischen Bundesgesundheitsbehörde, konnte in einer Studie nachweisen, dass eine Kultur umso friedlicher ist, desto mehr sie ihre Kinder liebt, ihnen viel Körperkontakt gewährt und die Sexualität nicht unterdrückt. 

In friedlichen Kulturen werden die kleinen Kinder am Körper getragen. Gesellschaften, die ihren Kindern diesen Kontakt verweigern, sind aggressiver und es gibt dort mehr Gewalt und eine größere Zahl von psychischen Erkrankungen. 

 

Aus der Ethnologie wissen wir, dass der Mensch ein Tragling ist. Das bedeutet, dass Körperkontakt eine notwendige Voraussetzung für die menschliche Spezies ist, um gesund (körperlich und psychisch) zu überleben und um später selbst Liebe geben zu können. Wenn das Kind weint, hat jede Mutter instinktiv das Bedürfnis, ihr Kind aufzunehmen und es an sich zu drücken, es zu streicheln. Das Weinen eines Kindes ist als Notsignal zu verstehen – und es wird auch so verstanden. Babys haben eine angeborene Erwartungshaltung, dass auf ihre Notsituation eingegangen wird. Die Bezugsperson – also meist die Mutter – ist Zuflucht in jedweder Bedrängnis. So entsteht das viel zitierte Urvertrauen, nämlich durch das innere Wissen: Wenn es mir schlecht geht, ist meine Mutter (mein Vater) für mich da. Ein Baby kann nicht fühlen, dass die Mutter gleich zurückkehrt, wenn sie es verlässt. Es weiß nur eins: Die Welt ist plötzlich falsch geworden, es fühlt sich unwohl, es beginnt vielleicht zu weinen. Wenn auf das Weinen keine Reaktion folgt, kann sich das Baby sehr bedroht fühlen bis hin zur Todesangst; darauf weist der Psychotherapeut Franz Renggli hin. Wird das frühe Sicherheitsbedürfnis nicht befriedigt, mangelt es dem Erwachsenen später im Leben oft an Vertrauen, an Selbst(wert)gefühl, an Spontaneität und Würde. Das heißt es wird ihm schwer fallen, sich vertrauensvoll auf eine Beziehung einzulassen und sein Herz zu öffnen. Unsicher gebundene Kinder haben ständig Angst, die Mutter zu verlieren. Sie bleiben an ihrer Mutter kleben, und können sich nur schwer ablösen. Der Bindungsforscher Karl Heinz Brisch hat festgestellt, dass gut gebundene Kleinkinder unruhig werden, wenn die Mutter den Raum verlässt; unsicher gebundene hingegen lässt das äußerlich ‚kalt’. Wenn die Mütter sicher gebundener Kinder wieder in den Raum kommen, werden sie von ihren Kindern mit Freude begrüßt, bei den unsicher gebundenen ist auch dann kaum eine Reaktion zu beobachten.

 

Grundsätzlich gilt: Eine gute Entbindung begünstigt eine gesunde Bindung. Eine sichere Bindung erleichtert eine gute Ent-Bindung später im Kindesalter, denn erst, wenn das Bedürfnis nach Nähe und Liebe gesättigt ist, kann das Kind losziehen, um seine Umwelt zu erkunden. „Je mehr an Körperkontakt das Kind erhält, desto weniger wird es später fordern, denn eine geglückte Loslösung setzt immer voraus, dass die Bindung befriedigend war. Der Mangel an Befriedigung ist es, der später zum konfliktträchtigen Sich-nicht-lösen-Können führt“, meint Sonja Stacherl. Wenn einem Baby am Lebensanfang genügend Nähe und Liebe gegeben wird, gehört das zu den besten Investitionen für die Zukunft, die man einem Kind mit auf den Weg geben kann. Deshalb kann man ein Baby im ersten Jahr überhaupt nicht verwöhnen. Im Gegenteil, je weniger man auf die Bedürfnisse des Babys eingeht, desto fordernder und quengeliger wird es werden. Aber auch dem späteren ungesunden Verwöhnen kann dies Tür und Tor öffnen, denn aus schlechtem Gewissen, dem Kind nicht gegeben zu haben, was es wirklich gebraucht hätte, versucht man später dann diesen Mangel durch materielle Zuwendungen wie Spielzeug und anderes wieder auszugleichen.

 

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Textauszug aus „Wie uns die Liebe durch das Leben trägt“ aus dem Dörfler Verlag.