Bewusstes Leben Dezember 2021 - April 2022


Sag mir, was du wirklich meinst

Photo by Priscilla Du Preez on Unsplash.com
Photo by Priscilla Du Preez on Unsplash.com

Autor: Oren Jay Sofer

 

Was wir sagen, ist bedeutsam. Wir alle haben schon einmal die Kraft der Worte gespürt, die uns heilen, beruhigen oder fröhlich stimmen kann. Selbst eine einzige warmherzige Bemerkung kann entscheiden, ob wir aufgeben oder ob wir die Kraft finden, uns den Herausforderungen des Lebens zu stellen. 

Wir alle haben auch schon erlebt, welch großer Schaden durch Sprache angerichtet werden kann. Bissige Worte, mit Zorn oder Grausamkeit gespickt, können eine Beziehung zerbrechen lassen und jahrelang unheilvoll nachwirken. Sprache kann missbraucht werden, um Massen zu manipulieren und sie unter Druck zu setzen, um Ängste zu schüren, Unterdrückung auszuüben und zu Krieg, Terror und Völkermord aufzuhetzen. Wenige Dinge, die so mächtig sind, sind gleichzeitig so alltäglich. 

Sprache ist in den Stoff unseres Lebens eingewoben. Die erste Liebe. Der erste Job. Die Abschiedsworte an einen geliebten Menschen. Unsere Anfänge und Enden und auch die unzähligen Momente dazwischen sind durchzogen vom Spiel der Worte, in dem wir unsere Gedanken, Gefühle und Wünsche miteinander teilen.

Meine Eltern erzählen, dass ich ein durchaus mitteilungsbedürftiges Kind gewesen sei. »Iss, Oren!«, ermahnten sie mich immer wieder eindringlich bei den Mahlzeiten in dem Versuch, den Strom von Fragen, der aus meinem kleinen Mund nur so hervorquoll, ins Leere umzulenken und mich daran zu erinnern, dass ich essen sollte. Meine Faszination für Worte begann schon früh. Ich kann mich noch gut an die Begeisterung erinnern, die ich verspürte, wenn ich die Bedeutung eines einfachen Kompositums wie etwa »Seegras« oder »Sonnenuntergang« entdeckte – diesen Aha-Moment, wenn abstrakte Bestandteile sich mit einem Mal in vertrautere Klänge verwandelten.

Worte sind gewissermaßen Magie. Zu leben und sich seiner selbst bewusst zu sein auf diesem bemerkenswerten Planeten mit seinen Wäldern und Seen, seinen Meeren und Bergen, in diesem weiten Universum mit Milliarden von Galaxien ist an sich schon mysteriös genug. Was für ein Wunder, sich einen Moment lang in die Augen blicken und Worte formen zu können, mit denen wir etwas von unserem Leben erzählen.

Die Schöpfungsmythen vieler Kulturen und Religionen aller Epochen, seien sie östlichen, westlichen oder indigenen Ursprungs, wissen seit jeher um die generative Kraft von Sprache und sprechen der Macht der Worte eine Schlüsselrolle in den Anfängen des Kosmos zu. In der Tat haben Worte die Kraft, unsere Realität zu formen. So wie wir denken, so nehmen wir wahr; so wie wir wahrnehmen, so handeln wir. Darüber hinaus spiegelt sich in den Lehren aller Weltreligionen ein universelles Verständnis der ethischen Implikationen von Sprache wider – ihr Potenzial, Gutes oder Schädliches zu bewirken –, weswegen sie moralische Vor-gaben zur richtigen Wahl unserer Worte machen.

Meine kindliche Faszination für Sprache kristallisierte sich später zu dem festen Vorsatz, verstehen zu wollen, wie man Worte weise gebraucht, während ich an einem Meditations-Retreat mit dem vietnamesischen Zen-Meister, Dichter und Friedensaktivist Thich Nhat Hanh teilnahm. Seine moderne Interpretation von Buddhas Leitlinien zum »rechten Sprechen« brachten eine Seite tief in meinem Inneren zum Schwingen und motivierten mich, so viel ich nur konnte, über Kommunikation zu lernen. Ich finde sie nach wie vor sehr inspirierend.

 

„Im Bewusstsein des Leides, das durch unachtsame Rede und aus der Unfähigkeit, anderen zuzuhören, entsteht, bin ich entschlossen, liebevolles Sprechen und tief mitfühlendes Zuhören zu entwickeln, um meinen Mitmenschen Freude und Glück zu bereiten und ihr Leiden lindern zu helfen. Da Worte sowohl Glück als auch Leiden hervorrufen können, bin ich entschlossen, nichts Unwahres zu sagen und Worte zu gebrauchen, die Selbstvertrauen, Freude und Hoffnung wecken. Ich werde keine Nachrichten verbreiten, für deren Wahrheitsgehalt ich mich nicht verbürgen kann, und ich werde nichts kritisieren oder verurteilen, worüber ich selbst nichts Genaues weiß. Ich will Äußerungen unterlassen, die zu Zwietracht oder Uneinigkeit führen oder zum Zerbrechen von Familien oder Gemeinschaften beitragen können. Ich will mich stets um Versöhnung und Lösung aller Konflikte bemühen, seien sie auch noch so klein.“ 

Thich Nhat Hanh

 

Was wir sagen, zählt – vielleicht heute mehr als je zuvor. 

Photo by Shane Rounce on Unsplash.com
Photo by Shane Rounce on Unsplash.com

Wir leben in Zeiten großer Umbrüche, in denen uns viel abverlangt wird. Es ist eine Zeit, in der wir in unserer Gesellschaft immer weniger in der Lage sind, zuzuhören und einander wirklich zu hören, eine Zeit, in der diejenigen mit anderen Meinungen, Überzeugungen oder Hintergründen (wieder einmal) einfach als »die anderen« abgetan werden. In dieser Zeit, in der die enormen Kräfte politischer, sozialer, ökonomischer und ökologischer Umschwünge über den Globus fegen und unsere gefühlte Trennung von uns selbst, den anderen und dem Leben noch verstärken, müssen wir lernen, auf eine neue Weise zu sprechen und zuzuhören. Wir müssen lernen, unsere Welt mit frischen Augen neu wahrzunehmen, jenseits von vererbten historischen und ökonomischen Strukturen, die auf Wettbewerb und Trennung ausgelegt sind und so leicht auch unsere Beziehungen beherrschen. Wahrer Dialog ist mehr als ein bloßer Austausch von Gedanken. Es ist ein transformativer Prozess, der auf Vertrauen und gegenseitigem Respekt beruht und in dem wir einander auf neue und genauere Weise kennenlernen. Der Theologe David Lochhead meint: »Es ist ein Weg, eine Wahrheit zu erkennen, die keine der beiden Parteien vor dem Dialog kannte.«

 

Es kann einem schier das Herz brechen zu wissen, zu wie viel Gutem wir imstande sind, und dennoch so viel Zerstörung und Gewalt zu sehen. In Japan gibt es ein Sprichwort: Kirschblüten sind so schön, weil sie vergänglich sind. Wir alle haben die Möglichkeit, die uns gegebene Zeit und Energie mit Integrität zu nutzen. Meine Hoffnung ist, dass dieses Buch auf seine eigene bescheidene Weise dazu beiträgt, unser menschliches Potenzial zum Guten zu verwirklichen, indem wir lernen, mehr Mitgefühl, Weisheit und Güte in jene Beziehungen zu bringen, die unser tagtägliches Leben ausmachen. Ich hoffe, dass es uns dabei hilft, die Mechanismen in unseren Gedanken und unserer Wahrnehmung, die Gewalt als plausible Strategie erscheinen lassen, zu transformieren. Möge es ein Schritt dazu 

sein, eine Welt zu erschaffen, in der alle gut leben können.

 

Ein Zusammenfluss verschiedener Strömungen

Gegen Ende eines zehntägigen Retreats saß ich, damals Mitte zwanzig, mit Dr. Marshall B. Rosenberg und seiner Frau beim Frühstück zusammen. Ich war Rosenberg, dem Begründer der Gewaltfreien Kommunikation (GFK), einige Jahre zuvor begegnet und wollte ihm gegenüber meine Dankbarkeit über die tiefgreifenden Veränderungen zum Ausdruck bringen, die ich durch seinen Kommunikationsansatz in meinem Leben erfuhr. Als jemand, der seit langer Zeit meditierte, wollte ich zudem gern meine Gedanken darüber teilen, wie Meditation dem Prozess der GFK zugutekommen könnte.

Das war zu Beginn der 2000er-Jahre, noch bevor die Achtsamkeit ihren großen Boom erlebte. Ich erklärte, wie man durch Achtsamkeitspraxis inneres Gewahrsein entwickelte, eine Voraussetzung dafür, Gefühle und Bedürfnisse zu erkennen und sich ihrer bewusst zu bleiben – das Herzstück der GFK –, und dass es sich daher um ein entscheidendes Puzzlestück handle, das im GFK-Modell bislang fehle. Ich war hocherfreut und ein wenig erstaunt, als er mir rundheraus zustimmte! Er erzählte etwas entmutigt, dass er seit einiger Zeit herauszufinden versuche, wie er den Leuten beibringen könne zu meditieren, unter anderem verwendete er dabei eine Kappe mit einem Giraffenbaby, eine Abwandlung der für seine Arbeit charakteristischen Handpuppen. Dann sah er mich über den Tisch hinweg mit einem verschmitzten Lächeln an und sagte: »Aber vielleicht ist das ja deine Aufgabe.«

 

Und so begann eine Reise von inzwischen fast zwei Jahrzehnten, während der ich daran arbeitete, mein Verständnis von buddhistischer Meditation und Gewaltfreier Kommunikation zu integrieren. Die Inhalte, die ich auf diesen Seiten mit Ihnen teile, sind eine Synthese aus drei verschiedenen Praxisströmen. Der erste grundlegende Strom ist die Achtsamkeitspraxis, so wie sie aus der buddhistischen Theravāda-Tradition hervorgegangen ist (insbesondere aus den Schriften und Praktiken des burmesischen Satipatthāna und der thailändischen Waldtradition). Der zweite besteht in dem Ansatz der Gewaltfreien Kommunikation, entwickelt von Dr. Rosenberg, dessen bahnbrechendes Buch Gewaltfreie Kommunikation: Eine Sprache des Lebens ein weltweiter Bestseller ist. Die GFK wird international zur Konfliktlösung und für gewaltfreie gesellschaftliche Veränderungsprozesse eingesetzt, sie wird für zwischenmenschliche Kommunikation und Mediation sowie auch für persönliches Wachstum und therapeutische Prozesse genutzt. Die dritte Methodologie, die dieses Buch prägt, beruht auf meiner Ausbildung in Somatic Experiencing, einer von Dr. Peter A. Levine entwickelten therapeutischen Technik, in der die Rolle der Regulation des Nervensystems bei der Verarbeitung von Traumata besonders betont wird.

Ich konnte feststellen, dass diese drei Ströme zusammen ein starkes Potenzial besitzen, unser Selbstverständnis zu vertiefen und unsere Kommunikationsgewohnheiten zu verändern. In den Anfangsjahren meiner Praxis entdeckte ich viele Synchronizitäten zwischen diesen Methoden und den ihnen zugrunde liegenden Theorien. (…) 

Wenn mehrere Ströme zusammenfließen und einen Fluss bilden, lässt sich nicht mehr unterscheiden, woher das Wasser kommt. Und so können diese drei Ansätze und ihre jeweiligen Praktiken gewissermaßen als ein Fluss betrachtet werden, ein nahtloses Ganzes, in dem jeder Strom verschiedene Facetten der ganzheitlichen Erfahrung des Lebendigseins beschreibt und vertieft. (…) 

Statt zu versuchen, das Wasser des Flusses diesem oder jenem Strom zuzuordnen, konzentrierte ich mich darauf, ein möglichst verständliches Handbuch zu den Grundlagen der zwischenmenschlichen Kommunikation zu verfassen, das seinen Leser:innen dabei helfen soll, das eigene Leben ganz konkret in die Hand zu nehmen und positiv zu verändern.

 

Textauszug aus „Sag mir was du wirklich meinst“ von Oren Jay Sofer, mit freundlicher Genehmigung des Arbor-Verlages.

Siehe auch unter „Wortwelten“.


Die Alemannenschule Wutöschingen – eine Schule der Zukunft

AutorInnen: Alemannenschule Wutöschingen

In einer kleinen Ortschaft im südlichen Baden-Württemberg, wenige Kilometer von der Schweizer Grenze, befindet sich die Alemannenschule Wutöschingen (ASW). Die ehemalige Grund- und Werkrealschule, die vor einigen Jahren noch um ihre Sekundarstufe bangte, zählt heute zu einer von acht Gemeinschaftsschulen mit gymnasialer Oberstufe in Baden-Württemberg. Schulleiter ist Stefan Ruppaner, der das Ganze ins Rollen brachte.

© Alemannenschule Wutöschingen
© Alemannenschule Wutöschingen

An der ASW gibt es keine festen Klassen, keine Klassenzimmer, keine Schulbücher, keinen herkömmlichen Unterricht. Der Lernwunsch der Kinder und die Freude am Lernen steht im Mittelpunkt des Schullebens. Lehrerinnen und Lehrer sind hier Lernbegleiterinnen und Lernbegleiter, Schülerinnen und Schüler nennen sich Lernpartnerinnen und Lernpartner. Die LernpartnerInnen nehmen dabei den aktiven Part beim Lernen ein, die LernbegleiterInnen gestalten das Lernumfeld für die Kinder und unterstützen sie auf dem persönlichen Lernweg. 

Das Ziel der ASW ist, jedem/jeder LernpartnerIn einen individuellen Lernweg zu ermöglichen und ersetzt das "7-G-Modell" (Alle gleichaltrigen Kinder sollen beim gleichen Lehrer mit dem gleichen Lehrmittel im gleichen Tempo das gleiche Ziel zur gleichen Zeit gleich gut erreichen) durch eine "V-8-Begleitung" (Auf vielfältigen Wegen mit vielfältigen Menschen an vielfältigen Orten zu vielfältigsten Zeiten mit vielfältigen Materialen in vielfältigen Schritten mit vielfältigen Ideen in vielfältigen Rhythmen zu gemeinsamen Zielen). 

 

So lernen die Kinder in jahrgangs- und leistungsgemischten Lerngruppen in den Stufen 5 bis 7 und 8 bis 10 in Lernateliers, auf Marktplätzen oder im Lerndorf Wutöschingen. Dem Grundsatz „Eine veränderte Pädagogik bedarf veränderter Räume“ folgend unterscheidet die ASW verschiedene Lernräume. In den Lernateliers hat jede/r LernpartnerIn und jede/r LernbegleiterIn einen eigenen Arbeitsplatz. Sowohl die Architektur, die Farbgebung als auch das Reglement sorgen für eine konzentrierte Arbeitsatmosphäre. Auf dem Marktplatz findet das kooperative Lernen statt. Hier finden die LernpartnerInnen unterschiedlichste Micro-Räume zum Stehen, Sitzen und Liegen, sodass jede/r den optimalen Lernraum für sich findet. Angrenzend an den Marktplatz befinden sich Inputräume, die für fachliche Inputs gedacht und mit Präsentationsmedien wie Smartboards ausgestattet sind. Auch können LernpartnerInnen diese Räume nutzen, um in Gruppen konzentriert arbeiten zu können. Zusätzlich gibt es natürlich auch Fachräume, beispielsweise für Kunst oder Technik. 

 

Über die Schulgebäude hinaus versteht sich die Gemeinde Wutöschingen als Lerndorf. Dies äußert sich insbesondere darin, dass das Lernen nach Möglichkeit dort stattfindet, wo es einen Realitätsbezug gibt. So wird unter anderem im Sitzungssaal des Rathauses, aber auch auf dem Bauernhof im Dorf gelernt. Ein weiterer wichtiger Lernraum stellt die an der ASW entwickelte Digitale Lernumgebung DiLer dar. In DiLer werden Lernprozesse dokumentiert, Transparenz über den Leistungsstand gegeben, Lerninhalte angeboten und der Kontakt zwischen Eltern, LernpartnerInnen und LernbegleiterInnen ermöglicht. Die Digitale Lernumgebung bietet eine Kompetenzraster-Software, Kommunikationskanäle, Talkie - der Digitale Klassenraum, Kalender mit Stundenplan, Funktionen zur Schulorganisation u.v.m. Die Lernplattform ist eine moderne Open Source Software und erfüllt alle datenschutzrelevanten Vorgaben. Mittlerweile gibt es DiLer in 8 verschiedenen Sprachen und ist weltweit im Einsatz. Auch wurde die Videoplattform DiLerTube für Erklärfilme ohne Tracking entwickelt, wo Schulen Lernvideos unter einer Creative Common Lizenz bereitstellen können, die für alle frei zur Verfügung stehen.

 

Die Digitalisierung spielt an der Alemannenschule eine zentrale Rolle und ist das entscheidende Werkzeug der Schmetterlingspädagogik. Die Schmetterlingspädagogik besteht aus den beiden Flügelseiten „Selbstorganisiertes Lernen“ und „Lernen durch Erleben“. Damit die LernpartnerInnen ihr Lernen selbstständig organisieren können, entwickelte die Alemannenschule vor Jahren eigene Kompetenzraster, die auf Grundlage der aktuell geltenden Bildungspläne basieren und schülerorientiert umformuliert wurden. Den Kompetenzrastern ist die Theorie von Gerhard Ziener zugrunde gelegt, der die Unterrichtsziele auf einem Mindest-, Regel- und Expertenstandard konkretisiert. Wenn LernpartnerInnen eine Kompetenz erarbeitet haben, schreiben sie keine Tests oder Klassenarbeiten, sondern einen Gelingensnachweis zu einem selbst gewählten Zeitpunkt. Die Lernfortschritte besprechen sie in den dafür vorgesehenen Coaching-Terminen mit ihrer Lernbegleiterin oder ihrem Lernbegleiter. 

© Alemannenschule Wutöschingen
© Alemannenschule Wutöschingen

Um diese Kompetenzen zu erreichen, bietet die ASW Lernmaterialien, mit denen es den LernpartnerInnen gelingt, eigenverantwortlich zu lernen. In ihrer eigenen Geschwindigkeit, ganz unabhängig von Raum und Zeit. Die Materialpakete sind vielfältig aufgebaut und beinhalten u.a. Infotexte, Erklärvideos, Lern-Apps und verschiedene Übungen. Die Materialien sind in der digitalen Lernplattform DiLer hinterlegt und können von den Lernenden am Tablet bearbeitet werden. Jede/r LernpartnerIn hat an der ASW ein eigenes iPad. 

Die Lernmaterialien zum selbstorganisierten Lernen wurden von 2013 bis 2018 in einem losen Zusammenschluss von bis zu 43 Schulen gemeinsam erarbeitet und untereinander ausgetauscht. Seit 2019 agiert dieses Materialnetzwerk als gemeinnützige Genossenschaft Materialnetzwerk eG (MNWeG). Die Genossenschaft setzt sich zum Ziel, allen Lehrenden und Lernenden hochwertige Bildungsmaterialien kostenlos zur Verfügung zu stellen. Die Materialpakete sind Open Educational Resources und können somit von allen Schulen frei verwendet, verändert und weiterverbreitet werden. Bearbeitet werden können die Materialien direkt in dem von der MNWeG entwickelten Editor, der die Erstellung, Bearbeitung und den Austausch von Lernmaterial vereinfacht. Hier können Schulen auch einen eigenen, internen Schulkatalog anlegen, in dem Material gesammelt und innerhalb des Kollegiums geteilt werden kann.

 

Die zweite Seite des Schmetterlings, das „Lernen durch Erleben“, bedeutet, dass die Kinder und Jugendlichen durch Entdecken und Forschen Lernerfahrungen machen. Das können sie zum Beispiel bei Exkursionen in die Natur oder auch in Zusammenarbeit mit den verschiedenen Kooperationspartnern der Schule. 

 

Mit ihrem Konzept der Schmetterlingspädagogik zählte die Alemannenschule Wutöschingen 2021 zu den Finalisten des Deutschen Schulpreis Spezial, welcher innovative Konzepte auszeichnete, die Schulen im Umgang mit der Corona-Krise entwickelt oder weiterentwickelt haben. Bereits 2019 wurde die Gemeinschaftsschule mit dem Deutschen Schulpreis zu einer der besten Schulen Deutschlands gekürt.

 

Durch die entwickelten Strukturen stellte die Corona-Pandemie keine Herausforderung für die ASW dar. Die LernpartnerInnen waren es schon vor den Schulschließungen gewohnt, eigenständig zu lernen und somit bestens für das Home-Learning aufgestellt. Auf der bereits vorhandenen Lernplattform DiLer fanden sie die nötigen Materialien und konnten hierüber auch mit den LernbegleiterInnen in Kontakt treten. „Es scheint, als hätte sich die Alemannenschule schon seit acht Jahren auf Corona vorbereitet“, so Stefan Ruppaner.

 

Mehr Infos zur Schule mit Videos usw.: https://www.alemannenschule-wutoeschingen.de/ 


Bewusstes Leben August - Dezember 2021


Buddhistische Perspektiven zur ökologischen Krise

Autor: David R. Loy

 

Es ist keine Übertreibung zu sagen, dass die Menschheit heute vor ihrer größten Herausforderung überhaupt steht: Neben aufkeimenden sozialen Krisen bedroht eine selbstverschuldete ökologische Katastrophe die Menschheit, wie wir sie kennen, und (nach Ansicht einiger Wissenschaftler*innen) vielleicht sogar das Überleben unserer Gattung. Ich zögere, dies als Apokalypse zu bezeichnen, weil dieser Begriff heute mit dem christlichen Millenarismus assoziiert wird, also der Hoffnung, dass nach dem Untergang eine lange währende paradiesische Zeit bevorstehe. Aber die ursprüngliche Bedeutung des Begriffs ist sicherlich zutreffend: eine Apokalypse ist buchstäblich »eine Enthüllung«, die Offenbarung von etwas Verborgenem – in diesem Fall das Aufdecken der ominösen Folgen dessen, was wir der Erde und uns selbst angetan haben.

 

Traditionelle buddhistische Lehren helfen uns, als Einzelpersonen zu erwachen und unsere gegenseitige Abhängigkeit zu erkennen. Jetzt müssen wir auch prüfen, wie der Buddhismus uns dabei helfen kann, als Menschheit zu erwachen und auf diese Zwangslage einzugehen. Und welche Implikationen hat diese ökologische Krise für das heutige Verstehen und Praktizieren des Buddhismus? (…) Die derzeitigen ökologischen und sozialen Herausforderungen übersteigen das persönliche Leiden, mit dem sich der Buddhismus herkömmlicherweise befasst hat, bei weitem. Daher ist es nicht überraschend, dass sich buddhistische Praktizierende und Institutionen dieser Themen nur langsam annehmen. Positiv ist aber anzumerken, dass der Buddhismus eindeutig das Potenzial hat, sich in diesem Bereich zu engagieren. Von Anfang an haben seine grundlegenden Lehren die Vergänglichkeit und Substanzlosigkeit aller Daseinsformen – einschließlich seiner selbst – betont. Der Buddhismus besteht allerdings nicht nur aus dem, was der Buddha lehrte, sondern auch daraus, was mit seinen Lehren begonnen und sich in der Folge weit über seine Geburtsstätte hinaus verbreitet hat und wie er mit anderen Kulturen interagiert hat.

In China entwickelte sich beispielsweise der Chan-/Zen- Buddhismus 33 durch die gegenseitige Befruchtung von Mahayana-Buddhismus und dem einheimischen Daoismus. Heute aber stehen die buddhistischen Traditionen aus Asien vor der größten Herausforderung aller Zeiten, da sie in eine globalisierte, säkulare, hypertechnologisierte, postmoderne Welt hineinwirken, die sich möglicherweise gerade selbst zerstört. 

 

Kritisch anzumerken ist, dass einige der traditionellen buddhistischen Lehren uns entmutigen, uns sozial und ökologisch zu engagieren. Wenn das spirituelle Ziel eine persönliche Befreiung ist, die darin besteht, nicht in dieser Welt von Leiden, Begehren und Verblendung wiedergeboren zu werden, warum sollten wir dann so besorgt sein über das, was hier geschieht? Im Gegensatz zu einer solchen jenseitigen Ausrichtung bezweifeln viele zeitgenössische Buddhist*innen jedoch die Existenz einer transzendenten Realität und misstrauen Karma in der Form eines moralischen Gesetzes von Ursache und Wirkung als Teil der Funktionsweise des Universums. Sie haben eine eher psychologische Auffassung des buddhistischen Weges, sehen ihn als eine Art Therapie, die neue Perspektiven auf psychischen Stress und neue Praktiken zur Förderung des Wohlbefindens in dieser Welt zu bieten hat. Obwohl der jenseitige Buddhismus (der darauf abzielt, dieser Welt zu entfliehen) und der diesseitige Buddhismus (der uns hilft, uns besser an sie anzupassen) wie gegensätzliche Pole erscheinen, teilen beide für gewöhnlich eine grundlegende Gleichgültigkeit gegenüber den Problemen dieser Welt. Keiner von beiden ist sonderlich darum bemüht, dazu beizutragen, dass sie ein besserer Ort wird.

 

Es gibt auch ein alternatives Verständnis der wesentlichen Lehren des Buddhismus. Anstatt zu versuchen, diese Welt zu transzendieren oder uns besser an sie anzupassen, können wir erwachen und die Welt, einschließlich uns selbst, auf eine andere Art und Weise erfahren. Das beinhaltet die Dekonstruktion und Rekonstruktion unseres Selbstempfindens, unseres Selbstsinns oder (genauer gesagt) der Beziehung zwischen uns selbst und unserer Welt. Meditation dekonstruiert das Selbst, weil wir die gewohnten Gedanken-, Gefühls- und Handlungsmuster, aus denen es sich zusammensetzt, »loslassen«. Gleichzeitig wird unser Selbstsinn im täglichen Leben neu konstruiert, indem sich die wichtigsten Gewohnheitsmuster verwandeln: unsere Absichten, die nicht nur unsere Beziehung zu anderen Menschen beeinflussen, sondern auch die Art und Weise, wie wir sie und die Welt im Allgemeinen wahrnehmen. Dieses Buch erforscht diese alternative Perspektive, indem es einen rätselhaften Ausspruch von Chögyam Trungpa untersucht: »Erleuchtung ist, wie aus einem Flugzeug zu fallen. Die schlechte Nachricht ist, dass es keinen Fallschirm gibt. Die gute Nachricht ist, dass es keinen Boden gibt.«

 

Wenn wir anfangen, aufzuwachen und zu erkennen, dass wir weder voneinander noch von dieser wundersamen Erde getrennt sind, begreifen wir, dass unser Zusammenleben und unsere Beziehung zur Erde ebenfalls rekonstruiert werden müssen. Das bedeutet nicht nur soziales Engagement als Einzelpersonen, die anderen Einzelpersonen helfen, sondern auch Wege zu finden, die problematischen wirtschaftlichen und politischen Strukturen zu thematisieren, welche die ökologische Krise und die Fragen der sozialen Gerechtigkeit hervorgebracht haben, mit denen wir heute konfrontiert sind. Letztlich sind die Wege der persönlichen und der sozialen Transformation nicht wirklich voneinander getrennt. 

Engagement in der Welt ist die Art und Weise, wie unser individuelles Erwachen erblüht und wie kontemplative Praktiken, zum Beispiel Meditation, unseren Aktivismus begründen und in einen spirituellen Weg verwandeln. 

 

Die buddhistische Antwort auf unser ökologisches Dilemma ist ÖkoDharma, ein neuer Begriff für eine Weiterentwicklung der buddhistischen Tradition. Er verbindet ökologische Anliegen (Öko) mit den Lehren des Buddhismus und verwandter spiritueller Traditionen (Dharma). Was das tatsächlich bedeutet und welchen Unterschied das in unserem Leben und unserer Praxis macht, entfaltet sich zurzeit noch. Dieses Buch betont drei für mich herausragende Komponenten oder Aspekte: das Praktizieren in der Natur, das Erkunden der ökologischen Auswirkungen der buddhistischen Lehren und das Verkörpern dieses Verständnisses im heute notwendigen Ökoaktivismus. (…)

 

Textauszug aus „ÖkoDharma“ von David R. Loy mit freundlicher Genehmigung der edition steinrich. Siehe auch bei „Wortwelten“.

 


Begegnung mit dem Tod

© AdelinaZw - pixabay.com
© AdelinaZw - pixabay.com

Autorin: Vivian Dittmar

 

Für einen Dialog zwischen Leben und Tod

Unser höchstes gemeinsames Ziel als Gesellschaft ist es derzeit, Leben zu retten. Das fühlt sich gut und richtig an. Es gibt einen breiten Konsens in der öffentlichen Debatte, dass der Wert eines Menschenlebens nicht in Zahlen abzubilden ist. Doch die Frage, die bislang kaum gestellt wird, ist: Was ist Leben eigentlich? Unser derzeitiges Verständnis von „Leben retten” besagt offenbar, dass es darum geht, den Tod so lange wie möglich hinauszuzögern. Jedes Jahr, das wir ihm abringen können, ist ein gewonnenes Jahr.

Der Tod wird als unser Feind betrachtet, ihn gilt es um jeden Preis zu umgehen. Mit diesem Motiv begeben wir uns in Quarantäne, schicken Erkrankte in Isolation und lassen Sterbende allein. Wenn ich die Bilder der Militärlaster mit Toten sehe und vor meinem inneren Auge eine Eishalle als Leichenhaus, dann graut mir vor dieser Kälte, dieser Isolation, nicht aber vor dem Tod selbst. Was mir in diesen Bildern und in unserer Kultur als Ganzes fehlt, ist das, was ich als Freundschaft mit dem Tod bezeichnen könnte.

 

Der Tod darf seinen Platz haben

Freundschaft mit dem Tod würde für mich bedeuten, dass dieser seinen Platz hat, dass er da sein darf. Und zwar nicht nur, wenn wir alles Menschenmögliche getan haben, um ihn zu vermeiden, sondern wenn es Zeit ist. Hier rebelliert der rationale Verstand natürlich sofort: Was soll das heißen, wenn es Zeit ist? Woher soll man das denn wissen?

Wann es Zeit ist, ergibt sich aus einem Dialog zwischen Leben und Tod. Immer wenn ein Mensch geht, entspinnt sich ein solcher Dialog, auf irgendeiner Ebene. Früher fand dieser Dialog vielleicht bezeugt von einem Schamanen oder Priester statt. Doch dann begannen wir, das Ergebnis des Dialogs in Richtung Leben zu verschieben.

Jetzt sind wir auf einmal als Kollektiv mit dieser Frage konfrontiert: Welchen Platz hat der Tod? So wie es sich derzeit abzeichnet, werden wir nicht umhin kommen zu akzeptieren, dass Menschen an Covid-19 sterben – und zwar manchmal früher, als es ohne diesen Virus der Fall gewesen wäre. Wir werden an einen Punkt kommen, wo wir uns eingestehen müssen, dass Leben retten nicht alles ist.

Es geht um eine neue Demut, die anerkennt, dass es Zeiten gibt, wo mehr Menschen sterben als zu anderen. Und dass für jeden Einzelnen ein Augenblick kommt, wo es Zeit ist, zu gehen.

Um zu verdeutlichen, was ich meine, möchte ich drei sehr persönliche Geschichten erzählen: eine von meiner bereits verstorbenen Großmutter, eine von meiner Mutter und eine von mir.

 

Die erste Geschichte: von meiner Oma

Als meine Großmutter im Altenheim war, hatte sie eigentlich keine Lust mehr zu leben. Sie war alt, sie war dement, ihr Mann war bereits gestorben, es hielt sie nichts mehr. Leider war sie körperlich in ziemlich gutem Zustand – zumindest für einen Menschen über achtzig. Sie tat also das, was Menschen in indigenen Kulturen schon immer getan haben, wenn ihre Zeit gekommen war: Sie hörte auf zu essen. Doch statt anzuerkennen, dass ihre Zeit gekommen war, reagierte das System reflexartig nach der Maxime „Leben retten”. Sie wurde einem Psychiater vorgestellt, der eine Depression diagnostizierte und ihr Psychopharmaka verschrieb. Und sie wurde gezwungen zu essen. Natürlich hatte sie eine Patientenverfügung, doch sie war zu keinem Zeitpunkt nah genug an einem Zustand, wo diese gegriffen hätte.

Ähnlich erscheint es mir heute, wo der Tod ein Tabu ist. Aber vielleicht geht es gar nicht darum, Leben in dieser Form zu retten? Wie wäre es, wenn wir uns als Gesellschaft stattdessen darauf ausrichten würden, wirklich zu leben, was auch beinhaltet, würdevoll zu sterben?

 

Die zweite Geschichte: von mir

Ich selbst habe mich mit Covid-19 angesteckt. Mir ist bewusst, dass sich in meinem Körper ein Virus bewegt, der auch in meinem Alter (42) und ohne Vorerkrankungen tödlich sein kann. Das Bewusstsein, dass diese Tage meine letzten sein könnten, ließ mich sehr wach sein. Ich beobachtete, wie das Virus sich in meinem Körper bewegt, spürte auch den Moment wo das Kratzen in der Lunge so stark wurde, dass es sich kritisch anfühlte. Und wusste, dass wir letztlich nichts tun können. Ich war dabei weder panisch noch wog ich mich in der trügerischen Illusion, dass es mich schon nicht erwischen würde. Ich spürte vielmehr ein tiefes Vertrauen in mir, dass der Verlauf, den diese Erkrankung in meinem System nimmt, genau richtig sein würde. Ich spürte eine stille Hingabe an das Leben und darin ein Einverstanden sein mit jedem möglichen Ergebnis.

 

Die dritte Geschichte: von meiner Mutter

Meine Mutter erkrankte zur gleichen Zeit wie ich an Covid-19. In ihrem Alter (77) ist die Sterblichkeit deutlich höher, und mit diversen Vorerkrankungen ist sie besonders gefährdet.

Wir telefonieren täglich, während sie alleine in ihrer Wohnung sitzt. Mir ist bewusst, dass sie im Falle einer plötzlichen Atemnot vielleicht den Notarzt rufen würde. Sie würde in ein Krankenhaus gebracht, möglicherweise auf der Intensivstation. Diese Entscheidung würde vermutlich bedeuten, dass wir nicht mehr zu ihr könnten, auch nicht, wenn sie wirklich sterben würde.

Die Frage, die mich beschäftigt: Wann ist der Moment, wo es menschlicher wäre, dem Leben und dem Tod ihren Lauf zu lassen? Wir definieren „Leben retten“ um jeden Preis derzeit als Menschlichkeit, aber ist das immer der beste Ausdruck von Menschlichkeit?

Als ich die erste Version dieses Essays fertig gestellt hatte, schickte ich ihn meiner Mutter. Ich wollte, dass sie ihn als erstes liest, damit sie ihr Einverständnis geben kann für die Verwendung ihrer Geschichte. Noch bevor sie ihn gelesen hatte, schickte sie mir folgende Sprachnachricht:

„Meine Einstellung zum Tod hat sich insofern geändert, dass ich nicht sterben will (lacht). Nein, Quatsch, dass ich nicht ins Krankenhaus will. Erstens habe ich jetzt durch viele zusätzliche Informationen gehört, dass Leute, die so lange beatmet werden müssen in meinem Alter, mit meiner Vorerkrankung, später nur noch dahinsiechen, weil so eine lange Beatmung mit der Lunge blöde Sachen macht. Und dann habe ich gedacht: Ich bin 77, wieso soll ich ein Beatmungsbett besetzen, wenn das unter Umständen ganz andere Leute brauchen? Das einzige, was mir dann Gedanken machen würde: Wenn das mit dieser Lungenschädigung kommt, dann erstickt man ja. Und das ist, glaube ich, scheiße. Da ruft man dann aus lauter Panik die 112 an.”  

 

Palliative Begleitung und Beistand

Wir haben in unserer hoch entwickelten Gesellschaft nicht nur Experten für Intensivmedizin und Lebensverlängerung, sondern auch für Sterbebegleitung und palliative Behandlungen. Wir könnten Menschen also palliativmedizinisch betreuen, wenn ihre Zeit gekommen ist. Dadurch würde ihr Leiden gelindert und ihr Abschied so gut wie möglich gestaltet.

Mein Vorschlag wäre, eine zweite Form von intensive care zu installieren – und zwar eine seelische intensive care. Es bräuchte Seelsorgerinnen, die sich vor allem mit Menschen in Risikogruppen offen über ihre Situation unterhalten, vielleicht auch gemeinsam mit den Angehörigen, um zu hören, wo dieser Mensch sich gerade auf seiner Lebensreise befindet. Hier dürfte alles zur Sprache kommen: der Wunsch weiterzuleben und alle Möglichkeiten der modernen Medizin auszuschöpfen, genauso wie der Wunsch, in Frieden gehen zu dürfen, wenn die Zeit gekommen ist. Und zwar unabhängig vom Alter der Person.

 

Allein sterben?

Doch was mich weiter beschäftigte, war die Tatsache, dass meine Mutter derzeit nur die Option hatte, im Falle einer plötzlichen Atemnot ihren mutigen Weg alleine zu gehen, wenn sie sich nicht ins Krankenhaus einliefern ließe.

Dass meine Mutter sich Zuwendung und Begleitung für ihren Übergang wünschen würde, geht sehr klar aus einer E-Mail als Antwort auf meinen Artikel hervor: „Besonders gefallen hat mir die Verlagerung von der Maxime „Leben-retten-um-jeden-Preis” auf die intensive Fürsorge. Denn diese kann keine Maschine geben, sondern nur liebe Menschen in der Begleitung über eine Schwelle, die natürlich zumindest Beklommenheit auslöst – Angst auch wie alle existenziellen Grenzüberschreitungen. Mütter kennen das von dem überwältigenden Ereignis der Geburt – und welch überwältigendes Glücksgefühl kurz danach!“ Was braucht es, damit wir als Gesellschaft hier einen neuen Umgang mit dem Tod finden?

 

Neue Demut

Corona zeigt uns, dass wir es nicht in der Hand haben. Ein Mensch kann sich um jeden Preis wünschen, noch hier zu bleiben, die Medizin kann alles geben und trotzdem kann es sein, dass er stirbt. Auch ein junger Mensch, auch ohne Vorerkrankungen. Das ist für uns neu und ungewohnt. Es ist nicht unsere Aufgabe, über Leben und Tod zu bestimmen. Und wir sind nicht schuld, wenn ein Mensch stirbt. Doch der öffentliche Diskurs ist immer noch einer, der Tod dramatisiert und tabuisiert, ihn als etwas Schreckliches, um jeden Preis zu vermeidendes darstellt. Wir können beginnen, neu darüber nachzudenken, was Würde ist, was Menschlichkeit bedeutet und wie wir diese in unseren Gemeinschaften, Familien, Institutionen und Gesetzen leben wollen.

 

Vivian Dittmar ist Gründerin der Be the Change Stiftung für kulturellen Wandel, Initiatorin des Projekts Bäume für den Wandel, Beraterin beim Terra Institute und Autorin mehrerer Bücher zu den Themen Gefühle, Beziehungen und Bewusstsein. www.viviandittmar.net, www.be-the-change.de, www.terra-institute.eu . Zum Buch siehe auch unter „Wortwelten“.

 

Diesen Beitrag haben wir gefunden auf https://ethik-heute.org/begegnung-mit-dem-tod/ , dort gibt es auch eine Langfassung als PDF zum Herunterladen.