Bewusstes Leben Dezember 2022 - April 2023


Vertrauen braucht Mut

Foto: © Lothar Dieterich – www.pixabay.com
Foto: © Lothar Dieterich – www.pixabay.com

Autorin: Verena Kast

 

Vertrauen und Misstrauen als Grundhaltungen

Manchen Menschen vertrauen wir einfach, anderen misstrauen wir – oder wir versuchen, das anfängliche Misstrauen zu überwinden. Wir vertrauen auch der Technik, unseren Regierungen, unseren Medikamenten – oder eben: wir misstrauen. Manchmal sind wir zu vertrauensvoll, und dann werden wir mit einer unschönen Realität konfrontiert, manchmal sind wir zu misstrauisch und spüren, wie wir auf uns selbst zurückgeworfen werden, aus unseren normalen vertrauensvollen Verbindungen, die wir sonst mit Menschen haben, herausfallen, uns unsicher fühlen, bedroht – nicht mehr aufgehoben.

Vertrauen und Misstrauen sind Grundhaltungen von uns Menschen – in den vielfältigen Beziehungen und Bezügen, in denen wir leben. Sie regeln unsere Beziehungen untereinander, und letztlich haben sie einen großen Einfluss darauf, ob wir glauben, anstehende Probleme, im Privaten, aber auch im öffentlichen Raum, lösen zu können – miteinander. Sie bestimmen darüber, wie wir die Zukunft antizipieren. 

Das Thema Vertrauen und Misstrauen ist ein Thema, das unsere Existenz grundlegend beeinflusst. (…) Es ist eine existenzielle Fragestellung: Sie betrifft unser Miteinander und unseren Umgang mit der Angst und unserer Verletzlichkeit. Wir sind auch mutig, aber wenn es um Vertrauen und Misstrauen geht, geht es um Verletzlichkeit und um die Hoffnung, mit dieser Verletzlichkeit umgehen zu können, sich das Vertrauen bewahren zu können, geht es darum, dass andere unsere Verletzlichkeit nicht missbrauchen, was sie könnten, wenn wir vertrauen.

 

Vertrauen und Misstrauen vereinfachen das Leben

Vertrauen und Misstrauen reduzieren Komplexität. Auch wenn wir versuchen, einen Überblick über das eigene Leben zu haben – schwieriger noch über unser Leben in der Zivilgesellschaft, in der Politik –: Wir werden immer an unsere Grenzen unseres Wissens und unserer Möglichkeiten kommen – und wir werden vertrauen müssen. Steigen wir in einen Zug ein, so vertrauen wir, dass der Lokführer – oder die Elektronik – den Zug sicher zum nächsten Bahnhof bringen wird. Müssten wir alle dabei bestehenden Komponenten nachprüfen, würden wir den Zug nicht mehr benutzen können. Wir vertrauen und wir haben auch Erfahrungswerte für dieses unser Vertrauen. Implizites Vertrauen kann man nicht wirklich prüfen, es ist einfach vorhanden. Und in dieses Netz des Vertrauens ist man selbst eingebettet – auch als ein vertrauenswürdiges Individuum –, und das reduziert Angst. Unsere Routinen, die von implizitem Vertrauen getragen sind, reduzieren viele unserer unbewussten Ängste.

Aber auch das Misstrauen reduziert Komplexität: Gehe ich davon aus, dass die meisten Menschen mir schaden wollen, dann muss ich nicht mehr lange über die Beweggründe von Handlungen von Menschen, mit denen ich es zu tun habe, nachdenken, denn ich bin davon überzeugt, dass sie mir schaden werden. Es geht dann nur noch um das Wie dieses   Schädigens und um den eigenen Schutz.

 

Misstrauen

Vertrauen und Misstrauen gehen oft ineinander über. Beide minimieren Komplexität, und Vertrauen ist nicht immer besser als Misstrauen. Misstrauen kann in einer Situation angebracht und angemessen sein, und müsste angesprochen werden. Wir zweifeln dann daran, dass wir vertrauen können. Der Zweifel ruft zur Reflexion auf: Wir sind dann wenigstens nicht einfältig, und wir haben gespürt, dass etwas nicht stimmt, und diese Gefühle sind ernst zu nehmen.

Ein Beispiel: Sie arbeiten sehr gut zusammen in einem Team, sie vertrauen einander fast blind und lassen einander große Freiheiten. Aber plötzlich sind Sie etwas irritiert über einige Aussagen, die Sie, etwas misstrauisch geworden, so interpretieren, dass der Teamgeist in eine Richtung geht, die Ihnen nicht gefällt. Da nehmen sich einige zu viele Freiheiten heraus. Solange dieses aufkeimende Misstrauen angesprochen wird, kann dies zu einer guten Klärung einer Situation führen und kann sehr wichtig sein: Man hatte sich einfach angewöhnt, einander zu vertrauen, und das Misstrauen schärft wieder den Blick für die Beziehung, hilft allen, sich wieder neu zu orientieren. Schwelt das Misstrauen aber untergründig, stört das die Arbeitsatmosphäre. Misstrauisch beginnt man sich zu beäugen, vermutet Destruktives hinter allen möglichen Aktionen, ist nicht mehr bereit, zunächst wohlwollend die Aktionen zu prüfen.

Vertrauen kann leicht in Misstrauen umschlagen; es gibt eine Schwelle, an der dies geschieht: Gerade noch haben wir vertraut, dann sind wir irritiert von einem Verhalten, das nicht zum Vertrauen passen will, und es ist – auch wenn die Situation angesprochen wird – schwierig, vom Misstrauen wieder zum Vertrauen zurückzufinden. Im besten Fall lernt man etwas daraus: Hat man zu naiv vertraut, sieht man alles zu positiv, rechnet man nicht mit der Bosheit der Mitmenschen? Man muss nicht grundsätzlich misstrauisch werden. Dennoch: Vertrauen kann missbraucht werden. Sind wir aber misstrauisch, werden wir nie herausfinden, ob wir eigentlich hätten vertrauen können, ob das Leben hätte besser sein können.

Es ist genauso falsch, immer zu vertrauen, wie es falsch ist, immer zu misstrauen. Gerade weil so vieles unsicher ist in unserer Welt, nicht durchschaubar, (…) ist es sinnvoll, scheinbar Gegebenes auch konstruktiv zu hinterfragen. Es gibt durchaus ein gesundes Misstrauen, das man dann vielleicht eher Skepsis nennen sollte. Viel öfter begegnen wir jedoch dem destruktiven Misstrauen, einem Misstrauen, das primär zerstören will. Das destruktive Misstrauen führt zu einer Spaltung zwischen den vermeintlich Wissenden, den Misstrauischen, und „den anderen“, den vermeintlich Unwissenden. Verbundenheit besteht nur unter denen, die die gleiche Geschichte des Misstrauens miteinander teilen. Zwischen diesen beiden Gruppierungen besteht keine Verbundenheit und eben kein Vertrauen, sondern Misstrauen. Verbundenheit beruht auf Vertrauen, und Vertrauen bewirkt Verbundenheit.

Wenn Vertrauen bröckelt, bemühen wir anstelle des Vertrauens Autoritäten, machen Gesetze, Verträge. Kein Handschlag mehr. Viel Geschriebenes. Das ist kostspielig; es kostet viel weniger, wenn man sich einfach vertraut und riskiert, dass das Vertrauen nicht immer angebracht ist. Und die zunehmende Kontrolle wird kompliziert – denken wir daran, wie wir immer mehr Zeit in administrative Belange, in Beschreibungen von Prozessen und anschließend in Evaluationen investieren müssen, um zu belegen, dass wir etwas Vernünftiges gemacht haben. Und weil wir nicht mehr vertrauen, fordern wir Transparenz.

An sich erwarten wir natürlich immer noch Aufrichtigkeit, aber heute auch Transparenz. Das ist ein kritischer Begriff: Transparenz bedeutet, dass wir alles „durchsichtig“ machen müssen, nachvollziehbar, und das ist ja nicht schlecht. Aber: Diese Forderung bewirkt, dass wir im Namen der Transparenz immer mehr Dokumentationspflichten haben, was dazu führen soll, dass wir einander vertrauen, weil wir sehen, was andere gemacht haben. Aber kann man es nicht auch umgekehrt sehen? Weil wir einander nicht mehr vertrauen, müssen wir alles transparent machen. Und manchmal wäre zu vertrauen wirklich einfacher, gäbe es weniger Bürokratie, man hätte wieder mehr Zeit für Wesentliches. Und: Wer betrügen will, wird das auch transparent vertuschen können.

 

Die Bedeutung von Vorstellungen

Vertrauen und Misstrauen sind auf die Zukunft bezogen – die Zukunft nehmen wir in unseren Vorstellungen vorweg. Wir stellen uns vor, dass wir vertrauensvoll mit jemandem ein Problem lösen, oder aber wir stellen uns vor, wie jemand uns schaden wird. Wir freuen uns auf eine Situation und malen sie uns so aus, dass wir so ganz und gar zufrieden sein können. (…) Die Vorstellungskraft, die Fähigkeit zum Imaginieren, ist für C. G. Jung fundamental. Psychische Energie, psychisches Leben äußert sich in Form von Fantasien, von Imaginationen. Unsere Fantasien sind an der Schwelle zwischen Innenwelt und Außenwelt und sie sind uns oft nicht bewusst.

Woran haben Sie jetzt gerade gedacht? Was ist Ihnen durch den Sinn gegangen? Ein Bild? Eine Idee, etwas, das Sie nicht vergessen dürfen? Wenn wir uns die Fantasien  vergegenwärtigen, dann nennen wir sie Imaginationen.

Vorstellungen, Imaginationen sind fundamental für unser Selbstverständnis und unser Leben. Stellen Sie sich vor, was uns alles im Leben fehlen würde, hätten wir keine Vorstellungskraft! Es gäbe keine Geschichten, keine Kunst, keine Musik. Vor allem aber könnten wir uns nicht in andere Menschen einfühlen, nicht ihren Gesichtspunkt übernehmen – wir hätten keine Beziehungen. Und wir könnten uns auch nicht vorstellen, wie es wäre, wenn wir keine Vorstellungen hätten. Wir wären auf jeden Fall nicht die Menschen, die wir jetzt sind. (…)

Unsere Vorstellungen entscheiden aber auch generell darüber, ob wir einer Situation vertrauensvoll oder eher misstrauisch begegnen; unsere Vorstellungen stehen hinter den Haltungen, die wir einnehmen. In unseren Vorstellungen bilden sich unsere Erwartungen ab. Ein Vertrauensbruch, den wir uns in seiner ganzen Lebendigkeit vorstellen, wirkt mindestens so verstörend wie ein tatsächlicher Vertrauensbruch. (…) Grundsätzlich ist unser Verhältnis zur Wirklichkeit von meist unbewussten Vorstellungen von Vertrauen und Misstrauen geprägt – sie bestimmen die Atmosphäre, in der wir leben. Vertrauen – da erwarten wir eine gute Resonanz. Wir sind offen, wir möchten den anderen in irgendeiner Weise berühren und berührt werden. Wir sehen zuversichtlich der Zukunft entgegen. (…)

 

Siehe auch unter „Wortwelten“.

 

Aus: Verena Kast,

Vertrauen braucht Mut. Was Zusammenhalt gibt.

 

© Patmos Verlag. Verlagsgruppe Patmos in der Schwabenverlag AG, Ostfildern 2022,

www.verlagsgruppe-patmos.de 


Wenn dir dein eigenes Kind fremd ist und es deinem Kind mit dir genauso geht

Foto: © Tom – www.pixabay.com
Foto: © Tom – www.pixabay.com

Autor: Oliver Dierssen

Interview: Julia Meyn für den mosaik Verlag

 

Wer ist Oliver Dierssen?

Ich bin niedergelassener Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie mit dem Arbeitsschwerpunkt Eltern-Kind-Interaktionsstörungen. Das Thema beschäftigt mich seit vielen Jahren. Beinahe bei allen seelischen Belastungen von Kindern und Jugendlichen zeigt sich auch eine Belastung der Eltern-Kind-Beziehung.

 

In der Einleitung zu Ihrem Buch schreiben Sie, Sie hätten nie erwartet, ein Buch über Eltern-Kind-Beziehungen zu schreiben, die von Unverständnis, Fremdheit und Abstand geprägt sind. Wie kam es, dass Sie ein solches Buch nun doch geschrieben haben?

In den wegweisenden aktuellen Elternratgebern stehen Bindung und Beziehung ganz im Mittelpunkt. Und das auch zu Recht: Bindungsorientierte Erziehung macht Kinder stark. Zu wenig geschrieben und auch gesprochen wird mir darüber, was passiert, wenn die Beziehung nicht gut gelingt. Über dieses Thema wird zu oft geschwiegen, dabei ist es hochbelastend: Was tue ich, wenn ich mit meinem Kind nicht richtig warm werde, wenn wir uns fremd bleiben und trotz aller Mühen einfach nicht verstehen?

 

Wer sollte Ihr Buch “Wenn dir dein eigenes Kind fremd ist (und es deinem Kind mit dir genauso geht)“ lesen?

Mir ist wichtig, dass das Buch sich nicht allein an Eltern wendet, die mit ihren Kindern bereits in höchster Not sind. Zwar gibt es auch hierfür im Buch konkrete Hilfestellungen und Übungen. Dennoch: Fremdheitsgefühle, Zurückweisung und auch Enttäuschung treten in allen Beziehungen auf und sind für Kinder wie Eltern belastend. Darum soll dieses Buch einen Beitrag dazu leisten, Eltern-Kind-Beziehungen anders zu betrachten und allen Eltern helfen, solche Gefühle besser auszuhalten. 

 

Wie ist Ihr Buch aufgebaut? Befinden sich darin auch Übungen?

Das Buch untersucht in acht Kapiteln häufige Störungen der Eltern-Kind-Beziehung: Enttäuschung und Schuldgefühle, Zurückweisung und seelischen Schmerz, Machtkämpfe und Ohnmachtsgefühle, Respektlosigkeit und gegenseitige Kränkungen und ernstere Krisen bis hin zu Gewalt und Suizidalität. Die Kapitel werden durch Fallbeispiele illustriert und enthalten Übungen, die Eltern helfen sollen, mit diesen belastenden Gefühlen besser umzugehen. 

 

Woran liegt es denn, dass Kinder und Eltern manchmal so verschieden sind?

Weil alle Menschen verschieden sind und Eltern und Kinder da keine Ausnahme darstellen. Dies merkt man an Erwachsenen sehr deutlich, die sich ja meist erheblich von ihren Eltern unterscheiden. Diese Unterschiede sind nicht nur notwendig, sondern auch wertvoll, sie sind Ausdruck unserer höchstindividuellen Persönlichkeit, Veranlagung und Entwicklung. Diese Individualität bei Kindern ernstzunehmen und wertzuschätzen ist ein Erfolgsgeheimnis guter Eltern-Kind-Beziehungen.

 

Sie schreiben, der häufigste Grund, aus dem sich Eltern Hilfe in einer Familienpraxis suchen, sind Machtkämpfe zwischen Eltern und Kindern. Woher kommen diese Kämpfe?

Die meisten Eltern üben nicht etwa “Macht“ über ihre Kinder aus, weil sie die Machtausübung selbst so genießen. (Die Kehrseite elterlicher Machtausübung ist ja die Ohnmacht, und gerade Eltern mit einem hohem Bedürfnis, dass ihr Kind “hört“, berichten häufig über das Gefühl, ohnmächtig zu sein und sich nicht ernstgenommen zu fühlen.) Sie handeln häufig aus der Sorge heraus, die Kinder könnten sich nicht gut entwickeln, wenn sie “machen, was sie wollen“. Kollidiert diese elterliche Sorge mit dem kindlichen Bedürfnis zur freien Entfaltung, kann es zu Machtkämpfen kommen. 

 

Was sind “Ohnmachtszeichen” bei Kindern und warum interpretieren viele Eltern diese Ohnmachtszeichen als Streitlust und Respektlosigkeit?

Jeder von uns sendet Ohnmachtszeichen. Sie treten auf, wenn wir das Gefühl haben, uns entgleitet jede Kontrolle. Erwachsene neigen in solchen Situationen zu impulsivem Verhalten oder gehen aus dem Kontakt. Kindliche Ohnmachtszeichen werden von Eltern manchmal als Respektlosigkeit oder “Nicht-Hören“ fehlinterpretiert: ins Kinderzimmer laufen, sich verstecken, unterbrechen, weinen oder schreien. Diese Verhaltensweisen weisen aber oft auf das kindliche Gefühl von Machtlosigkeit hin. Darum ist es kontraproduktiv, auf solches Verhalten mit noch mehr Druck und Kontrolle zu reagieren, sondern den Konflikt erst einmal abzukühlen. 

 

Können Sie uns etwas über Stolz, Ehrgefühl, Würde und sog. “Scham-Angst“ von Kindern sagen?

Das Gefühl von Würde und Selbstrespekt ist bei fast allen Menschen empfindlich, bei Kindern ebenso wie bei Erwachsenen. Wer beschämt wird, schweigt und zieht sich zurück, oft unter einer erheblichen seelischen Belastung. Darum sind Beschämung und Bloßstellung als Erziehungsmittel nicht richtig. Kinder, die dies häufig erleben, entwickeln eine Angst vor dieser Beschämung und werden zunehmend in ihrem Verhalten gehemmt und verunsichert. Dabei wollen wir doch, dass sie sich selbstbewusst und frei entwickeln!

 

Was fällt Ihnen ein zu Ironie, Sarkasmus, Resignation und Unhöflichkeiten in der Erziehung?

So wie im Kontakt mit allen anderen Menschen auch entwickeln sich Gespräche und auch Auseinandersetzungen mit Kindern nicht günstig, wenn sie von Ironie, Sarkasmus oder groben Unhöflichkeiten begleitet werden. Wenn sich ein solcher “ironischer Ton“ in einer Familie eingeschlichen hat, ist es nicht leicht, ihn wieder loszuwerden. Die Erwachsenen sollten hier mutig vorangehen, denn vom elterlichen Vorbild lernen Kinder wirklich am besten.

 

Sie schreiben, Eltern sollten sich erlauben, ihr Kind mit “fremden Augen“ zu sehen. Was genau meinen Sie damit?

Mit fremden Menschen gehen wir oft höflicher um. Wir sehen leichter über ihre Fehler oder Marotten hinweg und bemühen uns um einen verbindlichen Ton, der Konflikte umschifft. Es kann hilfreich sein, sich gelegentlich zu fragen: “Wie würde ich mich jetzt verhalten, wenn es das Kind meiner Nachbarin wäre?“ Automatisch greifen wir dann auf Gesprächsstrategien zurück, die Konflikte unwahrscheinlicher machen und am Ende allen helfen, ihr Gesicht zu wahren. 

 

Was sind “Begabte Eltern“ und was hat das mit “Regretting Parenthood” zu tun?

Der Begriff “Begabte Eltern“ lehnt sich an das populäre Buch “Das Drama des begabten Kindes“ von Alice Miller an. Darin werden Menschen beschrieben, die als Kind (und später noch als Erwachsene) alles dafür tun, gut für andere zu sein. Sie stellen ihre eigenen Bedürfnisse hinten an, nehmen erhebliche Nachteile in Kauf, vernachlässigen vielleicht sogar ihre eigene Entwicklung – um für andere da zu sein. Wer mit dem Gedanken aufwächst, „gut für andere“ sein zu müssen, führt vielleicht auch die Beziehung zum eigenen Kind so. Hieraus kann sich elterliche Überforderung bis hin zum Burnout ergeben, allerdings auch das unausgesprochene Familiengesetz: “Hier darf niemand für sich selbst sorgen, sondern wir sorgen uns immer um die anderen“. Dies schwächt die Fähigkeit der Kinder zur Selbstfürsorge erheblich.

 

Was ist ein Eltern-Burnout und was lässt sich dagegen tun?

Dass es Burnout-Erkrankungen nicht nur im Berufsleben, sondern auch in der Elternschaft gibt, ist inzwischen wissenschaftlich gut beforscht und belegt. Gerade Eltern, die nach dem Motto leben: „Es ist nicht wichtig, wie es mir geht, sondern wie es meinem Kind geht“, sind hier eine Risikogruppe. Um einen Burnout abzuwenden, der ja mit schwerwiegenden klinischen Symptomen einhergeht, sind Verhaltenstipps allein nicht ausreichend. Wichtig ist, die eigene Haltung zu hinterfragen: Darf ich mich auch mal selbst an erste Stelle setzen? Kann ich mit den Schuldgefühlen umgehen, die mich zu überwältigen drohen, wenn ich mir selbst etwas Gutes tue, ohne mich zuerst um die anderen zu sorgen? Kann ich Mitgefühl mir selbst gegenüber entwickeln?

 

…ein paar praktische Fragen: Sie schreiben, Eltern sollten auch die unangepassten bzw. nicht zu Ihnen passenden Seiten ihres Kindes lieben und wertschätzen. Sollten Eltern z.B. den nächsten Wutanfall ihres Kindes zur Abwechslung mal loben?

Zunächst einmal: Wut gehört zu uns Menschen dazu, sie ist eine wertvolle und manchmal sogar sehr konstruktive Emotion. Keineswegs sollten Kinder lernen, dass Wut zu unterdrücken ist. Wenn man gern lobt, kann man Kinder dafür loben, wie sie aus der Wut wieder herausgefunden haben. Jeder Wutanfall endet einmal – auch ein elterlicher. Es tut gut, wenn uns jemand dafür lobt, wie wir am Ende mit dieser schwierigen Situation umgegangen sind, oder?

 

Wie bekomme ich mein Kleinkind dazu, mit mir zu kommen, wenn ich es von seiner Spiel-Verabredung abholen möchte?

Wenn die Frage meint, wie ich mein Kleinkind dazu bringe, gern abgeholt zu werden und das schöne Spiel freudig abzubrechen, ist die Antwort vermutlich: “Ein Ding der Unmöglichkeit.“ In solchen Situationen entsteht ein Bedürfniskonflikt zwischen Eltern und Kindern. Dieser ist nicht immer zu lösen, sondern es kracht eben auch mal. Wichtig ist dabei sich vor Augen zu führen: Auch wenn wir Bedürfnisse nicht unter einen Hut bekommen, sind sie meist doch legitim – das Bedürfnis des Kindes weiterzuspielen ebenso wie das Bedürfnis der Eltern, nach Hause zu fahren. Sich dies vor Augen zu führen hilft dabei, nicht die Fassung zu verlieren und dem Kind das Gefühl zu geben: “Ich kann gut verstehen, was du möchtest, auch wenn ich es gerade nicht erlauben kann.“

 

Sollte man seine Kinder auch gegen die eigene Überzeugung einfach mal den Nachmittag “durchzocken“ lassen, um des lieben Familienfriedens willen?

Es liegt selten Segen darauf, gegen die eigene Überzeugungen zu handeln. Eltern sollten ihren Instinkten trauen. Zur Beruhigung muss ich aber sagen: Man darf auch mal inkonsequent sein, das gehört zum Leben dazu. Jeder von uns hat als Kind auch mal zu lange oder heimlich ferngesehen oder Gameboy gespielt. Davon geht die Welt nicht unter.

 

Wie kann ich mein Kind davon überzeugen, dass es die X-Box ausschaltet und für den Englisch-Test morgen lernt?

Möglicherweise gar nicht, da muss ich als Elternteil die X-Box selbst ausschalten. Als Eltern tragen wir die Verantwortung, und die sollte nicht an die Kinder ausgelagert werden, schon gar nicht garniert mit Vorwürfen. Es ist allerdings anstrengender, solche Mediennutzungsregeln aufzustellen und klar umzusetzen – und meinem Kind danach noch bei den Vokabeln zu helfen.

 

Wie kann ich meinem Teenie-Kind Hilfe bei seinen sozialen Krisen anbieten, wenn ich den Eindruck habe, dass meine Ratschläge unerwünscht sind?

Es ist wichtig, sich vor Augen zu führen, dass Jugendliche oft sehr kompetent darin sind, Probleme selbst zu lösen. Diese Kompetenz sollten wir ihnen nicht absprechen, sondern nutzen. Ich kann fragen: “Kannst du das Problem allein lösen, oder soll ich helfen?“ Wichtig ist auch, eine rote Linie zu ziehen: “Mit wem löst du dein Problem, wenn du es allein nicht schaffst? Kann ich mich darauf verlassen, dass du dann Bescheid sagst?“ Die meisten Jugendlichen reagieren sehr positiv darauf, dass man ihnen vertraut, und nutzen ein so gestaffeltes Hilfsangebot am Ende tatsächlich.

 

Und wann hilft ein Ratgeber wie Ihr Buch nicht mehr, wann sollte man sich an eine Beratungsstelle wenden und direkt Hilfe in die Familie holen? Wie geht man dafür vor?

Hierfür finden sich im Buch Checklisten, die bestimmte Problembereiche eingrenzen, wie zum Beispiel Suizidalität, Gewalt oder andere Grenzüberschreitungen. Es gibt ein vielfältiges Hilfsangebot für Familien mit hochkompetenten Helfenden. Meine Botschaft an Eltern ist: Ihr müsst da nicht allein durch. Die eigenen Grenzen zu erkennen und Hilfe anzunehmen, wenn man allein nicht weiterkommt, ist ein Merkmal von erfahrenen und kompetenten Eltern.

 

Und last but not least: Was kann man tun, um all die schlauen Dinge, die in Ihrem Buch stehen, im Erziehungs-Alltag nicht wieder zu vergessen?

Indem man die Übungen und Anregungen einfach ausprobiert und die Dinge, die funktionieren, immer wieder und häufiger in den Alltag einfließen lässt. Darüber hinaus würde ich mich freuen, wenn mein Buch einen Veränderungs- und Entwicklungsprozess in Eltern anstößt, der über die im Buch beschriebenen Probleme und Lösungen hinausgeht und Eltern ermutigt, die eigene Entwicklung und den eigenen Lebensweg wieder stärker in den Fokus zu nehmen.

 

Danke für das Gespräch, Dr. Oliver Dierssen

 

Buch: „Wenn dir dein eigenes Kind fremd ist und es deinem Kind mit dir genauso geht“

von Dr. Oliver Dierssen

mosaik Verlag

 

Siehe auch unter "Wortwelten".


Bewusstes Leben August - Dezember 2022


(Außer) Kontrolle

© Gerd Altmann – Pixabay.com
© Gerd Altmann – Pixabay.com

Autor: Ulrich Hoffmann

 

Der Zeitgeist lässt uns glauben, wir sollten jederzeit alles unter Kontrolle haben. Und wenn das nicht gelingt, wäre es unsere Schuld. Psychologen sagen, das ist der sicherste Weg in Burnout oder Depression. Denn vieles lässt sich einfach nicht kontrollieren. Andererseits steigert es unsere Lebenszufriedenheit enorm, wenn wir eine möglichst umfangreiche Selbstwirksamkeit entfalten. Deshalb ist es wichtig zu erkennen, was wir beeinflussen können und was nicht. Und herauszufinden, wie wir mit dieser Kränkung unserer Allmachtsfantasie besser klarkommen. Vielleicht kennen Sie das sogenannte »Gelassenheitsgebet«: »Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.« Da nickt doch eigentlich jede*r. Denn dagegen ist wenig einzuwenden. Aber woher nun die Gelassenheit, den Mut und die Weisheit nehmen, wenn Gott noch nicht geliefert hat? (…) Das »Gelassenheitsgebet« wird oft im Rahmen von 12-Schritt-Programmen wie bei den Anonymen Alkoholikern genutzt. Weil es die Erkenntnis auf den Punkt bringt, dass wir auf manche Dinge Einfluss haben und auf andere nicht. Und dass dagegen weder Alkohol noch andere Drogen, Sex, Shopping, TV oder Essen helfen. Wer sich im Alltag ständig an den unbeeinflussbaren Dingen die Zähne ausbeißt, braucht früher oder später Hilfe. (…)

 

Garantien gibt dir keiner 

Kontrolle ist gut – mit dieser Annahme wachsen wir auf. Nicht nur sozial, auch in unseren Hirnen ist das so verdrahtet. Einer der größten Stressfaktoren für uns ist: Unsicherheit. Dummerweise leben wir in einer Zeit, die sehr viel Unsicherheit mit sich bringt. Auf immer weniger Dinge, die uns direkt betreffen, haben wir wirklich Einfluss. Und immer mehr Dinge betreffen uns. Anhaltende Unwetter auf der anderen Seite der Erde beeinflussen die Preise des Wochenendeinkaufs und ebenso die Laune unseres Chefs. Eine neue Krankheit, das mussten wir 2020 schmerzhaft lernen, kann sich rasend schnell ausbreiten und alles auf den Kopf stellen. Im März 2020 – wie wir jetzt wissen: in der Woche vor dem ersten Lockdown – habe ich noch in Österreich mit einem Luftfahrt-Ingenieur geplaudert. Er erzählte begeistert von seinem Fachgebiet und erwähnte ganz nebenbei, dass es toll sei, einen krisenfesten Job zu haben. Sechs Monate später war die Luftfahrtbranche im Megakrisenmodus. Corona ist sicher ein krasses Beispiel. Aber es ist eben nur ein Beispiel von vielen für eine Entwicklung, vor der wir die Augen nicht verschließen sollten. (…)

 

Wir können auch anders 

»Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne«, schrieb Hesse, und da ist was dran. Aber wie viele Ehen, bei deren Schließung diese Zeilen deklamiert wurden, sind gescheitert? Wir wissen schon längst, dass wir die Zukunft nicht vorherbestimmen können. Die Frage ist: Wie leben wir mit der Tatsache, dass wir niemals sichergehen können? Dass es eben keine Garantien auf die Zukunft gibt? Kann es gelingen, sich davon nicht entmutigen zu lassen? Es kann. Wir sind nie gezwungen, weiterzumachen wie bisher. Es gibt Techniken, um die Unsicherheiten einzuordnen und auszuhalten. Es gibt Möglichkeiten, das Wichtige einigermaßen sicher vom Unwichtigen zu trennen. Und, ja, am Ende muss man den Mut zusammennehmen und loslegen. Aber man weiß dann, womit und warum. (…)

 

Und immer wieder: die Zeit 

Einerseits weiß man mittlerweile, dass ein übergroßer Kontrollwunsch, die sogenannte »Allmachtsfantasie«, ein direkter Weg in Depression oder Burnout ist. Denn wer alles kontrollieren will, wird ständig scheitern. Dann tun die meisten Menschen, was der US-Psychologe Paul Watzlawick so schön als »mehr desselben« bezeichnete: Wir drehen richtig auf, wollen noch mehr kontrollieren, denn ganz offensichtlich ist nur deswegen nicht herausgekommen, was wir wollen, weil wir uns nicht genug Mühe gegeben haben! So treten wir im Leerlauf das Gaspedal voll durch, kommen aber nicht weiter. Das ist ebenso anstrengend wie frustrierend und schlägt irgendwann um in abgrundtiefe Erschöpfung und gefühlte allumfassende Machtlosigkeit. Trotzdem gehen wir alle doch davon aus, dass unsere Handlungen irgendeine Auswirkung auf die Zukunft haben. Das klingt erst mal banal, ist es aber gar nicht. 

Im Alltag arbeiten wir mit der Annahme, dass unser Handeln die Zukunft beeinflusst. Je kleiner dieser Einfluss, desto unangenehmer für uns. Doch diesem Gefühl lässt sich etwas entgegensetzen. Gerade in schwierigen Situationen können wir mit einfachen Handlungen wieder mehr Selbstwirksamkeit erfahren. Wir können ein Instrument lernen, einen Kuchen backen, die Laufschuhe hinter dem Schrank hervorholen. Etwas ganz Konkretes tun, was nicht nur ablenkt, sondern tatsächlich beruhigt und stärkt. Auf dieselbe Weise können wir lernen, mit Unsicherheit oder Unzufriedenheit besser umzugehen. Erst mal einen kurzen Moment lang. Dann einen etwas längeren. Und immer so weiter. Einen Berg besteigen wir ja auch nicht in einem riesigen Schritt, sondern wir trainieren vielleicht erst ein wenig, wenn es ein anspruchsvoller Berg ist. Und dann machen wir uns auf den Weg, Stunde um Stunde. Denken wir am Berg hingegen die ganze Zeit an den kompletten Aufstieg, sind wir abgelenkt von der Größe unseres Vorhabens. Besser kommen wir voran, wenn wir uns nur auf die nächsten Schritte konzentrieren. Die Analogie lässt sich noch weiterführen: Wer unzufrieden mit dem Hausberg ist, weil der nicht den Erwartungen entspricht, kann ein paar Urlaubstage opfern und eine lange Anfahrt zu einem besseren Berg in Kauf nehmen. Oder umziehen. Oder eine interessantere Route am Hausberg suchen. Was den Hausberg aber auf alle Fälle gar nicht juckt, ist, wenn wir verärgert zu Hause bleiben und ihn blöd finden.

 

Die falschen Vorwürfe 

Wir erleben, dass die Welt um uns herum scheinbar immer öfter macht, was sie will. Das stresst. Also wenden wir uns ab und beschäftigen uns lieber mit etwas anderem. Zugleich werden wir von den Medien wie sozialen Netzwerken zur Selbstoptimierung aufgefordert, und dazu, jemand Besonderes zu sein. Unsere ganz persönliche Berufung zu finden und zu erfüllen. Nun fühlt es sich vielleicht toll an, jemand Besonderes zu sein. Aber ursprünglich gemeint war hier doch wohl der Begriff der Individualität. Jede*r ist einzigartig, keine Frage. Aber kann man daraus schließen, dass jede*r etwas Besonderes ist? Zumal das Besondere einer Lebensleistung oft ja erst im Nachhinein anerkannt wird. Weder van Gogh noch Galileo hatten zu Lebzeiten viel Freude an ihrem Ausnahmenaturell. Innerhalb eines Jahrhunderts haben wir gesamtgesellschaftlich den Halt der Religion verloren. Und mussten zugleich erfahren, dass die Politik keinen hinreichenden Ersatz bieten kann. Daher befinden wir uns nun im Zeitalter des Individualismus: Jede*r ist für sich allein verantwortlich. Das ist eine verdammt große Last. Denn wenn etwas nicht so läuft, wie wir es gerne hätten, müssen wir entweder selbst die Verantwortung dafür schultern oder uns mit dem Schicksal arrangieren. Beides ist nicht einfach, und oft tendieren wir genau in die falsche Richtung. Suchen die Schuld für Dinge, die wir nicht beeinflussen können, bei uns und möchten uns gegen alles versichern, was im unwahrscheinlichsten Fall passieren könnte. Aber wir erkennen nicht, wo wir mal wirklich etwas ausrichten könnten. Wenn es in der Beziehung nicht läuft, liegt das in unseren Augen (vor allem) am anderen. Wenn die Partnersuche nicht klappt, sind die dort draußen alle bindungsunfähig. Aber wenn wir den Job verlieren oder Krebs bekommen, dann machen wir uns selbst den Vorwurf, wir hätten nicht genug Fortbildungen absolviert oder nicht gesund genug gelebt. Verkehrte Welt. 

Was in diesen Situationen fehlt, ist Vertrauen. Dabei ist es unserer Psyche erst mal egal, woher das Vertrauen kommt. Gott, das Universum, (…) wir selbst – solange wir der Ansicht sein können, »irgendwie wird das schon«, geht es uns besser. Vertrauen stabilisiert. Woher aber Vertrauen nehmen in einer säkularisierten Welt? Vielleicht erklärt nichts so sehr den ständig zunehmenden Drang zur Kontrolle – und sein zwangsläufiges Scheitern – wie der verdrängte und daher unbemerkte Mangel an Vertrauen. Es ist wie Eis essen gegen Liebeskummer. Oder Schreibtisch aufräumen gegen Terminstress. Ein Autokorso gegen den Klimawandel. Fühlt sich unmittelbar gut an, hilft aber nicht. Die Kunst ist also, kurz innezuhalten und etwas Abstand zu gewinnen. Und aus diesem Abstand heraus besser beurteilen zu können, wie wichtig das Problem wirklich ist. Ob es nur nervt, man aber gut damit leben kann. Oder ob es unbedingt gelöst werden muss. Und wie das vielleicht gehen könnte. Entscheidend ist, sich davon zu verabschieden, alles hinkriegen zu wollen. Darauf hofft man vielleicht mit 20, aber selbst in dem Alter ist es leider unrealistisch. Zum Erwachsenwerden gehört auch die Einsicht, dass nicht alles möglich ist. Wir aber sehr wohl die Wahl haben, worauf wir unsere Energie verwenden. Und es lohnt sich, dabei auch mal die »höheren Werte« in den Blick zu nehmen. Warum nervt uns, was uns nervt? Wogegen wehren wir uns dabei? Warum tun wir, was wir tun? Was sagt das über uns? Und geht das vielleicht besser, einfacher, beides? Oft fallen uns negative Momente auf, positive aber nicht (denn da ist ja alles in Ordnung). Doch wenn wir unseren Blick mal auf sie lenken, statt immer nur auf das, was nicht läuft, lernen wir mit der Zeit, wann es uns gut geht. 

 

Was zu tun ist und warum 

Woher kommt Vertrauen? Lässt das Gefühl sich erzeugen? Und wie hängt diese Frage mit den Dingen zusammen, die wir kontrollieren können – oder eben nicht? In diesem Buch werde ich versuchen, abzugrenzen, worauf wir (viel) Einfluss haben und worauf nicht (oder nur in geringem Maße). Ich werde (…) daher fragen, 

• woher der gesellschaftsdurchdringende Allmachtsanspruch kommt, 

• warum es sich beruhigend anfühlt, alles unter Kontrolle haben zu wollen, 

• weshalb wir damit scheitern müssen, 

• warum sich dieses Scheitern so schlimm anfühlt, 

• woran wir erkennen können, was sich ändern lässt und was nicht, 

• wie wir besser mit den Dingen klarkommen, die sich nicht ändern lassen, 

• auf welche Weise wir möglichst erfolgreich beeinflussen, was in unserer Macht steht, 

• warum Resilienz gesünder ist als Perfektion (und wie man sie erlernen kann),

• wie wir uns sogar mit dem Scheitern anfreunden können, und 

• worum es wirklich geht im Leben.

 

Textauszug aus „(Außer) Kontrolle“ von Ulrich Hoffmann mit freundlicher Genehmigung des Mosaik Verlages. Siehe auch unter „Wortwelten“.


Mit dem Atem das Fundament legen

© Mitchell Griest – Unsplash.com
© Mitchell Griest – Unsplash.com

Autor: Daniel Siegel

 

In der ersten Woche dieses Programms legen wir das Fundament für die Praxis des Bewusstseinsrades, und zwar, indem wir uns auf den wichtigsten Baustein konzentrieren. Wir lernen, mithilfe des Atems unsere Aufmerksamkeit zu stabilisieren.

Bewusstes Atmen schafft eine gewisse innerliche Kohärenz, was wahrscheinlich an der Struktur der Wiederholung von Inhalation und Exhalation, Einatmen und Ausatmen liegt. Es ist tief befriedigend und erdend, etwas zu erwarten, was dann geschieht, so wie es beim Atmen der Fall ist. Es kann dem Leben eine gewisse Zuverlässigkeit und Berechenbarkeit verleihen. Für viele ist es so, dass eine solche Fokussierung auf den Atem eine Kohärenz schafft, und zwar nicht nur durch physiologische Ausgeglichenheit in der Herzregion, sondern auch durch die geistige Klarheit, die lange über die reine Übungsphase hinaus anhalten kann.

Diese Übung – sich auf den Atem zu fokussieren und zu ihm zurückzukommen, wenn der Geist abschweift – kann für die Entwicklung Ihrer Meditationspraxis das beste Werkzeug sein und ein Geschenk, das Sie im täglichen Leben immer wieder beglückt. Denn, kaum zu glauben: Wir atmen ja immer!

In jedem Moment unseres Wachzustands gibt es einen unaufhörlichen Fluss von Energie und Information, der durch die Filter unseres Geistes fließt. Und wir können einen Weg finden, unser Wohlbefinden so aufzubauen, dass wir für jedes Objekt unserer Aufmerksamkeit offen sein können – Empfindungen, Erinnerungen, Fantasie – und nichts aus unserem Bewusstsein ausschließen müssen. Stellen Sie sich vor, Sie hätten einen Geist mit dieser »Her damit!«-Einstellung, von innen heraus offen für alles, was das Leben uns beschert! Sie sind registrierender Zeuge des Flusses, und ein Weg, diesen Zeugen zu stärken, besteht darin, die Linse zu stabilisieren, mit dem wir den Fluss erleben. Ein sehr nützlicher Ankerpunkt für diese Übung, einer, der sich in vielen Kulturen auf der ganzen Welt findet, ist der Atem. Wenn wir eine solche grundlegende Übung zum Atemgewahrsein machen, stärken wir die Fähigkeit des beobachtenden Zeugen und stabilisieren damit unsere Aufmerksamkeit. Mit der erweiterten Version des Bewusstseinsrades können wir, wie wir bald sehen werden, dieses Stabilisieren der Aufmerksamkeit fördern und auch weitere Aspekte hinzufügen, sowohl um den Energiefluss zu beobachten als auch zu ändern.

Für die erste Woche unseres gemeinsamen Weges lade ich Sie ein, abwechselnd die beiden nun folgenden Übungen mit dem Atem zu machen und Ihre Eindrücke davon auf den vorgesehenen leeren Seiten festzuhalten. Angemerkt sei noch, dass Sie im weiteren Verlauf natürlich dieses und jedes andere Element der Übung gerne Ihren Bedürfnissen entsprechend abändern können.

 

Meditation: Atem-Gewahrsein

Ein paar Tipps zum Anfang:

 

VERSUCHEN SIE, WACH ZU BLEIBEN. Wenn man sich dem Inneren zuwendet, sich zum Beispiel auf die Körperempfindung beim Atmen fokussiert, lässt man die auf die Außenwelt gerichtete Aufmerksamkeit los. Für manche Menschen ist so ein innerer Fokus etwas so gänzlich Anderes als ein äußerer, dass es für sie fremd, seltsam oder sogar unangenehm ist. Manche Menschen finden diesen inneren Fokus öde und langweilig. In dieser Situation gibt es die Tendenz, diesen Fokus zu verlieren, weniger wach zu sein, schläfrig zu werden oder tatsächlich einzuschlafen. Zwar ist das berühmte »kleine Nickerchen« wahrscheinlich die am meisten unterschätzte menschliche Aktivität, aber vielleicht möchten Sie ja in den Genuss der segensreichen Wirkungen der Praxis kommen und bleiben deshalb lieber wach. Mehr noch: Hellwach zu bleiben gehört zu dem Prozess, in dem Sie lernen, den Aufmerksamkeits-Fokus des Geistes zu kräftigen, denn Sie merken, wann Sie groggy werden, und wecken sich dann wieder auf. Den Zustand Ihrer Wachheit tatsächlich zu »beobachten«, gehört zu dem Prozess, in dem Sie genau die Fähigkeit vertiefen, den Fluss von Energie und Information zu beobachten. Sie können diese Information über Ihre Schläfrigkeit nun nehmen und Ihre Energie entsprechend so modulieren, dass Sie wach bleiben, ja sogar noch wacher werden.

Ein Beispiel: Sie könnten, wenn Sie die Augen geschlossen haben, überlegen, ob Sie sie nicht ein wenig öffnen, um Licht hereinzulassen und das Gehirn zu stimulieren. Sie können die gesamte Übung mit offenen oder teilweise offenen Augen machen (die Lider einen Spalt offen). Wenn Sie das nicht wachhält, versuchen Sie es im Sitzen statt im Liegen. Wenn Sie sitzen, können Sie es im Stehen versuchen, und wenn Sie stehen, können Sie es mit Herumgehen versuchen. Um die Aufmerksamkeit zu stabilisieren, können Sie etwas tun, was den Energiefluss verändert und den Geist belebt. Es geht darum, dass Sie Ihre Wachheit und Ihren Energiezustand beobachten und dann etwas tun. Sollten Sie allerdings wirklich Schlaf brauchen, ist es vielleicht besser, die Übung ganz bewusst einen Moment sausen zu lassen, zu schlafen und die Pause zu genießen!

Noch ein Tipp: Wenn Sie diese Übung in der Gruppe machen, könnte die gemeinsame Übereinkunft hilfreich sein, dass jemand, der tatsächlich einschläft und womöglich zu schnarchen anfängt, von anderen Teilnehmenden aufgeweckt werden darf. Es ist nämlich schwer, ein Schnarchen zu ignorieren! Es ist besser, das vorher zu klären und es zu erlauben, Schnarchende mit einem sanften, respektvollen Stups zu wecken. 

 

ENTSPANNUNG VERSUS MEDITATION. Es gibt einen Unterschied zwischen Entspannung und Meditation. Entspannungstechniken sind großartig, um sich zu beruhigen, aber ihre Resultate sind nachweislich ganz andere als die Wirkungen einer meditativen Achtsamkeitspraxis. Sie könnten also durchaus entspannt sein, wenn Sie diese kontemplative Atemübung – oder später das Bewusstseinsrad – machen, aber genauso gut ist es möglich, dass Sie sich überhaupt nicht entspannt fühlen, und das ist völlig in Ordnung. Meditation ist nicht das Gleiche wie Entspannung – weder in der Tätigkeit selber noch in den Ergebnissen. Meditieren bedeutet eher, dass Sie stabil und klar werden, sogar, wenn um Sie herum das Chaos herrscht – oder in Ihnen. Achtsames Gewahrsein besteht darin, zu beobachten, was geschieht, während es geschieht. Das ist das rezeptive Gewahr-Sein, das wir »Präsenz« nennen. Das ist die Klarheit, die durch die Meditation aufgebaut wird, denn in dieser dürfen die Dinge aufsteigen und im Gewahr-Sein, der Nabe des Rades, einfach erlebt werden.

 

EMPFINDEN VERSUS BEOBACHTEN. Es gibt einen Unterschied zwischen Empfinden und Beobachten. Wenn wir das Gewahrsein für Empfindungen öffnen, zum Beispiel für die des Atems, werden wir zu einer Art Kanal, der irgendetwas in unser Gewahrsein fließen lässt; zum Beispiel die Empfindung des Atems an den Nasenlöchern, derer wir gewahr sind. Aufmerksamkeit ist hier also eher wie ein Schlauch, eine Leitung, die Wasser durch sich hindurchfließen lässt. Im Gegensatz dazu gibt es, wenn wir etwas beobachten, eher so etwas wie einen Zeugen, der eine Wahrnehmung konstruiert – der zum Beispiel das Wasser zu Blöcken gefrieren lässt, um dann ein Iglu daraus zu bauen –, und weniger einen Kanal, der einen Strom weiterleitet. Und wie wir sehen werden: Wenn wir von diesem Zeugen-Standpunkt aus beobachten und erzählen, dann konstruieren wir eine Geschichte über etwas – sogar über den Atem –, statt den Fluss des Empfindungsstroms im Kanal einfach nur zu fühlen. Wir können den Energiefluss auch mit Seifenlauge vergleichen, und der Geist wäre der kleine Ring mit dem Griff, den wir in die Lauge tauchen, um dann Seifenblasen in allen Größen zu pusten.

Durch Beobachten werden wir zu einer Art Zeuge, um schließlich von einer Erfahrung zu erzählen. Wir könnten sagen, dass wir so Erfahrungen machen, durch Beobachten, Zeuge sein und Erzählen. Dies sind alles Formen der Konstruktion, weil wir darin als Beobachtende, Bezeugende und Erzählende eine Rolle spielen, die alle ihren Beitrag leisten, um aus dem Moment ein Erlebnis zu konstruieren. Und diese Konstruktion kann sich gewaltig unterscheiden von dem empfindsamen Fluss, ein Kanal, für das Erleben zu sein.

Darum geht es also bei der Atem-Gewahrseins-Übung: Wir nehmen die Empfindung des Atems in den Fokus der Aufmerksamkeit und lassen sie unser Gewahrsein ausfüllen. Das ist etwas ziemlich anderes als die Aufforderung, den Atem zu beobachten, zu bezeugen oder das Erlebnis des Atmens zu formulieren: »In diesem Moment atme ich.« Vielleicht kommt Ihnen das als Haarspalterei vor, aber Sie werden sehen, dass die Unterscheidung zwischen der Wahrnehmung der Empfindung und dem Beobachten ein fundamentaler Baustein für die Integration Ihres gesamten Erlebens und Ihr geistiges Wachstum ist.

 

SEIEN SIE FREUNDLICH ZU SICH. Die Übungen mögen alle einfach sein, aber leicht sind sie durchaus nicht. In vielerlei Hinsicht ist das reflektierende Schauen nach innen eine der größten Herausforderungen für uns Menschen. Der französische Mathematiker Blaise Pascal sagte einmal: »Alle Probleme der Menschheit rühren daher, dass der Mensch unfähig ist, still und allein in seinem Zimmer zu sitzen.« In der Tat ist unsere Reflexionsfähigkeit das Herzstück jeder emotionalen und sozialen Intelligenz, Fähigkeiten, die viele Menschen nicht gelernt haben. Dies sind die Werkzeuge, die Sie in die Lage versetzen, Ihr Innenleben zu verstehen und mit dem inneren, seelischen Leben von anderen in Berührung zu kommen.

Wir sind so daran gewöhnt, uns nach außen zu fokussieren, dass solche Übungen der Selbstreflexion für viele Menschen neu sind. Eine längere Zeit still dazusitzen ist für manche nahezu unerträglich. Wir lassen uns gerne von äußeren Reizen ablenken oder reden, wenn ein Moment der Stille eintritt, um die Lücke zu füllen. Und deshalb ist es ziemlich wichtig, sanft mit sich umzugehen und zu erkennen, dass fast das ganze Leben sich bisher auf Äußeres fokussiert hat und voll ist mit äußeren Einflüssen – von Leuten, dem ganzen Technikkram und anderen Dingen in der Umgebung. Jetzt aber bereichern Sie Ihren Lebensweg, indem Sie lernen, Ihr Innenleben zu reflektieren.

Es kann am Anfang unangenehm sein, mit diesen Übungen der Selbstreflexion vertraut zu werden. Wieder möchte ich Sie einladen, zu sich selbst freundlich zu sein. Es ist harte Arbeit, und »Perfektion« gibt es hier nicht. Wir müssen ja immer bedenken: Der Geist hat sozusagen »seinen eigenen Kopf«! Es ist ein Teil Ihrer Aufgabe, zu erkennen, dass Energie und Information einfach fließen. Manchmal können Sie sie gut lenken und die Aufmerksamkeit steuern; manchmal führen sie schlichtweg ein Eigenleben, und die Aufmerksamkeit wird mal hierhin, mal dorthin gezogen. Für das, was passiert, offen zu sein, ist der erste Schritt. Und freundlich zu sich selbst zu sein, wird Ihnen helfen, während Sie mit diesem Reiseführer unterwegs sind.

 

Textauszug aus „Achtsames Gewahrsein“ von Daniel Siegel mit freundlicher Genehmigung des Arbor Verlages. Siehe auch unter „Wortwelten“.


Bewusstes Leben April - August 2022


Der Sinn des Gebens

© Vonecia Carswell – Unsplash.com
© Vonecia Carswell – Unsplash.com

Autorin: Kristina Simons

 

Anderen zu helfen, erfüllt uns mit Zufriedenheit. Denn Wohltaten lösen ganz unmittelbar Glücksgefühle aus, langfristig geben sie uns Anerkennung und Sinn. Der Zusammenhang ist sogar messbar. Höchste Zeit also, anderen – und auch sich selbst – Gutes zu tun.

 

Geben ist seliger denn Nehmen, heißt es schon im Neuen Testament. Doch es macht nicht nur seliger, sondern auch glücklicher. Wer sich anderen gegenüber großzügig verhält, gastfreundlich ist, Geld spendet oder jemandem Zeit und ein offenes Ohr schenkt, weiß um das gute Gefühl, das dabei entstehen kann – selbst wenn nicht unmittelbar ein Dankeschön oder ein Lächeln folgt. „Warm glow effect“ nannte der Wissenschaftler James Andreoni Ende der 1980er-Jahre dieses wohlige Gefühl, das Menschen nach einer guten Tat empfinden.

 

Der Zusammenhang zwischen Großzügigkeit und Glücksempfinden lässt sich sogar auf neuronaler Ebene nachweisen. In einer Studie der Neurowissenschaftlerin Soyoung Q. Park an der Universität Lübeck erhielten 50 Probanden einen Monat lang wöchentlich Geld. Die Hälfte von ihnen sollte dieses Geld für Freunde und Bekannte ausgeben. Und tatsächlich zeigte diese Gruppe bei der Bildgebung durch funktionelle Magnetresonanztomographie eine erhöhte Aktivität in dem Gehirnareal, das mit großzügigem, uneigennützigem Verhalten in Zusammenhang gebracht wird. Zugleich gab es bei ihnen eine stärkere Verbindung zu einem weiteren Bereich, der ihnen Glücksgefühle bescherte.

 

Der Sinn des Gebens

Doch es geht um mehr als ein spontanes Wohlgefühl. Die Psychologie-Professorin Tatjana Schnell von der Universität Innsbruck hat in einer breit angelegten Studie Menschen danach gefragt, wo sie den größten Sinn in ihrem Leben finden. Am häufigsten nannten die Teilnehmer Lebensbereiche, die die Psychologin als „horizontale Selbsttranszendenz“ zusammenfasst, also das Absehen von sich selbst und den eigenen momentanen Wünschen, wenn man etwas für andere Menschen oder die Natur tut.

 

„Nach mir die Sintflut – das lassen die Jungen nicht mehr gelten.“

 

Der Entwicklungspsychologen Erik H. Erikson sieht im Geben sogar ein prägendes Bedürfnis einer bestimmten Lebensphase. Er entwickelte den Begriff der Generativität und bezeichnete damit die siebte Stufe der psychosozialen Ich-Entwicklung im Alter von 45 bis 65 Jahren. In dieser Lebensphase wollen wir demnach Werte für künftige Generationen schaffen und weitergeben. Dabei geht es nicht nur darum, für die eigenen Kinder zu sorgen. Generativität meint, sich den kommenden Generationen und der Menschheit im Allgemeinen verpflichtet zu fühlen und danach zu handeln.

Nichts anderes fordert schließlich auch die Fridays for Future-Bewegung, die seit mehr als drei Jahren für Klimaschutz und Klimagerechtigkeit auf die Straße geht: Die Alten müssten mehr an die Jungen denken und sich stärker für die Zukunft des Planeten einsetzen, fordern sie. Auch wenn das bedeute, Klimaschutz über das eigene Wohl und die eigene Bequemlichkeit zu stellen. Nach mir die Sintflut – das lassen die Schülerinnen und Schüler nicht mehr gelten.

 

»Wer sich sozial engagiert, nimmt am gesellschaftlichen Leben teil.« 

 

Tatsächlich sind immer mehr Menschen ehrenamtlich aktiv. Rund 31 Millionen engagieren sich hierzulande für das Gemeinwohl und opfern dafür großzügig ihre Freizeit. Die größte Gruppe bilden mit 21 Prozent die 50- und 59-Jährigen, gefolgt von Menschen, die 70 oder älter sind. Ältere engagieren sich ehrenamtlich in allen gesellschaftlichen Bereichen: in der Nachbarschaftshilfe, in Mentorenprojekten mit Kindern und Jugendlichen oder bei generationsübergreifenden sozialen und kulturellen Projekten, im Sport ebenso wie bei der Unterstützung von Älteren oder pflegenden Angehörigen.

 

Denn sich sozial zu engagieren, ist auch eine Möglichkeit, nach dem Ausscheiden aus dem beruflichen Alltag weiter am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Gerade für die 65- bis 85-Jährigen ist das von zentraler Bedeutung, wie die Generali-Altersstudie von 2017 zeigt. In keiner anderen Gruppe ist die Bereitschaft demnach so ausgeprägt, Verantwortung für das eigene und das Leben von Mitmenschen zu übernehmen, egal ob innerhalb und außerhalb der Familie. Selbst bei angeschlagener Gesundheit sind Ältere, die sich sozial engagieren und aktiv sind, zufriedener. Das kann sich gerade in der letzten Lebensphase positiv auswirken, wie unter anderem eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung bestätigt.

 

Helfen durch Spenden

Wer keine Zeit findet, um sich sozial zu engagieren, kann anderen natürlich auch finanziell helfen. Und das tun viele, wie die Zahlen aus der Studie „Bilanz des Helfens“ zeigen, die die Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) jährlich im Auftrag des Deutschen Spendenrats erstellt: Rund 19 Millionen Menschen in Deutschland haben im Jahr 2020 Geld an gemeinnützige Organisationen oder Kirchen gespendet. Das entspricht 28,5 Prozent der Bevölkerung. Eine weitere Möglichkeit ist gemeinnütziges Vererben. Fast jeder und jede dritte Deutsche ab 50 Jahren kann sich laut einer Umfrage der GfK von 2019 vorstellen, eine gemeinnützige Organisation im Testament zu bedenken – bei den Kinderlosen ist es sogar mehr als die Hälfte.

 

Doch wer helfen will, muss nicht reich sein. Eindrücklich belegen das zwei Geschichten, die 2011 und 2012 in der Wochenzeitung „Die Zeit“ erschienen sind: Maria und Josef im Ghetto des Geldes sowie Maria und Josef in Neukölln. Als obdachloses Paar verkleidet, zogen der „Zeit“-Redakteur Henning Sußebach und die Schauspielerin Viola Heeß kurz vor Weihnachten durch mehrere Städte im Taunus. Laut Gesellschaft für Konsumforschung leben hier die wohlhabendsten Menschen Deutschlands. Doch die erhoffte Hilfe blieb aus. Kaum jemand war auch nur ansatzweise bereit, mit den beiden zu sprechen, geschweige denn, ihnen Geld oder Obdach zu geben. Selbst der Pfarrer ließ sie nicht mit ihren Schlafsäcken im Pfarramt übernachten. Die Menschen lebten hier nach der Logik: Wieso versprechen sich Arme ausgerechnet von Reichen Hilfe?, resümiert Sußebach.

 

Nach Veröffentlichung der Geschichte bekam die Redaktion viele Briefe mit dem Tenor: Arme Menschen wären auch nicht mitfühlender gewesen. Um das zu überprüfen, zog Henning Sußebach ein Jahr später mit der Journalistin Nadine Ahr durch das für eine hohe Hartz-IV-Quote bekannte Berlin-Neukölln. Etwa die Hälfte aller Kinder lebt hier von staatlichen Transferleistungen. Doch ausgerechnet im armen Neukölln erfuhren die beiden auf obdachlos getrimmten Reporter viel Hilfe: von Essen und Trinken über warme Socken bis hin zu Schlafplätzen. Menschen hörten ihnen zu und boten ihnen ohne zu zögern Unterstützung an: etwa beim Gang zum Amt, bei der Job- und Wohnungssuche.

 

Glücksgefühle

Hier in Neukölln bestätigten sich wissenschaftliche Erkenntnisse, die amerikanische Psychologinnen und Psychologen der University of California gewonnen haben: Demnach sind Personen aus unteren sozialen Schichten im Alltag stärker auf Kooperation angewiesen als Menschen aus reicheren Haushalten. Da sie selbst die Sorgen kennen würden, entwickelten sie ein besseres Gespür für die Emotionen ihrer Mitmenschen und seien mitfühlender. Ob ihre Unterstützung bei den Helferinnen und Helfern in Neukölln Glücksgefühle ausgelöst hat, wurde nicht gemessen. Bei den beiden „Hilfsbedürftigen“ tat sie das auf jeden Fall.

 

Gastbeitrag des Online-Magazins Prinzip Apfelbaum, auf der Grundlage des darin erschienenen gleichnamigen Artikels, erschienen in der Ausgabe „Erfüllung“ im November 2021. Alle Artikel und Ausgaben des Online-Magazins können Sie kostenlos lesen unter: www.das-prinzip-apfelbaum.de .


Wenn das Leben kippt

© No-longer-here – pixabay.com
© No-longer-here – pixabay.com

Autorin: Tita Kern

Wir alle haben ein mehr oder weniger deutliches Bild davon, wie wir uns das Leben vorstellen, wie wir selbst sein möchten und was wir uns für unsere Kinder wünschen. Ein Bild, dem wir – das ist ganz normal – im Laufe unseres Lebens immer wieder einmal mehr, ein anderes Mal weniger nahekommen. Nach Schicksalsschlägen oder in Lebenskrisen jedoch kann es manchmal in so weite Ferne rücken, dass wir eine ganz neue Sicht auf uns und die Welt lernen müssen. Dann geht es darum, unter veränderten Vorzeichen weiterzugehen und uns anzupassen an das, was nun ist, selbst wenn wir es so nie gewollt haben.

Wie gelingt es Menschen in stürmischen Zeiten, einen so festen Stand zu erlangen und sich so flexibel auf die Anforderungen der Krise einzustellen, dass sie durchstehen, was das Leben ihnen abverlangt? Oder dass sie sogar gestärkt, mit neuen Erkenntnissen oder tieferen Beziehungen daraus hervorgehen? Die Antworten auf diese Fragen sind vielschichtig und bilden die Basis für das Bild des inneren Kompasses, das sich als roter Faden durch dieses Buch ziehen wird. Es soll nicht nur verdeutlichen, wie innere Stabilität und Flexibilität entstehen, sondern auch, was wir selbst dazu beitragen können. (…)

 

Wie wir uns im Leben ausrichten: unser innerer Kompass

Wäre es nicht wunderbar, wenn wir zu jeder Zeit ein starkes Instrument zur Verfügung hätten, das uns hilft, stabil zu stehen und uns je nach Lebensanforderung ganz flexibel auszurichten? In meiner Vorstellung ist es tatsächlich so, dass wir Menschen eine Art inneren Kompass besitzen, bei dem sich – wie auch bei einem echten Kompass – um eine stabile Mitte herum jeweils zwei Pole einander gegenüberliegen:

 

Das sind zum einen Eigenständigkeit und Verbundenheit, zum anderen Gelassenheit und Entschlossenheit. Diese Pole und die mit ihnen verbundenen Fähigkeiten ermöglichen uns einen stabilen Stand, aber auch die Beweglichkeit, die wir brauchen, um uns auf wechselnde Bedingungen einzustellen und immer weiterzuentwickeln. Stabil und beweglich zugleich, entwickeln wir ein Gefühl zu uns selbst, ein Bild von der Welt und unsere Einstellung zu den Beziehungen, die wir haben. Wir können aktiv werden und zur Ruhe kommen. Wenn das gelingt, fühlen wir uns selbstwirksam, aber auch als Teil einer Gemeinschaft. Wir verfügen über ein gewisses Maß an Akzeptanz und Entspanntheit, besitzen aber gleichzeitig auch die Fähigkeit, Dinge aktiv anzupacken.

So hilft uns der innere Kompass jeden Tag dabei, uns zurechtzufinden und unser Leben zu bewältigen. Er erfüllt aber vor allem auch dann eine wichtige Aufgabe, wenn wir mit Problemen oder Stress konfrontiert sind. Denn gerade in solchen Situationen versuchen wir, uns wieder ins Gleichgewicht zu bringen, indem wir uns über die verschiedenen Pole ausrichten. Dabei nutzen wir die Pole, die uns in unserem Leben besonders gut geholfen haben, unsere »Lieblingspole«, häufiger als die anderen. Zum Beispiel gibt es Menschen, die zuallererst den Kontakt zu anderen suchen, wenn ein Problem auftaucht; sie balancieren sich über den Pol der Verbundenheit aus. Andere fangen sofort an zu handeln, setzen also eher auf ihre Eigenständigkeit. Das ist völlig nachvollziehbar. Auf diese Art entwickelt sich nach und nach unser ganz eigener Stil im Umgang mit herausfordernden Situationen, unser persönlicher Problemlösestil.

Im Kapitel und bei der Übung »Welcher Krisentyp sind Sie?« werfen wir einen genaueren Blick auf diese »Krisentypen « und auch darauf, warum uns unsere bevorzugten Strategien manchmal zum Fallstrick werden können. Alle vier Pole sind nützlich und ihr gutes Zusammenspiel ermöglicht uns das größtmögliche Repertoire in unserem Problemlöseverhalten. Idealerweise lernen wir alle vier Pole schon als Kind kennen und können ausprobieren und erfahren, wie es ist, wenn wir sowohl die Möglichkeit haben, immer wieder etwas aus eigener Kraft zu schaffen, als auch erleben, dass wir Hilfe bekommen, wenn wir diese brauchen. Wenn wir lernen, wann wir loslassen und aus der Anspannung gehen dürfen und auch, wann wir selbst tätig werden müssen. (…)

Durften wir alle Pole (kennen)lernen und immer wieder üben, wie wir sie einsetzen können, um unterschiedliche Situationen zu meistern, dann haben wir wahrscheinlich einen guten »inneren Gleichgewichtssinn« entwickelt. Wenn unsere Eigenständigkeit und Verbundenheit ausgewogen sind, sind wir mit uns selbst und anderen in echtem Kontakt, können uns zuwenden und auf gesunde Art abgrenzen. Ist unsere Gelassenheit trainiert, dann haben wir nicht andauernd das Gefühl, aufpassen und auf der Hut sein zu müssen. Unsere Entschlossenheit wiederum schenkt uns die Energie, uns den Anforderungen des Lebens zu stellen.

 

Welcher »Krisentyp« sind Sie?

Wie schon erwähnt, haben wir alle »Lieblingspole«, die unser inneres Gleichgewichtsbedürfnis besonders oft aktiviert und andere, die uns weniger liegen. Welche das sind, hängt zum einen davon ab, was uns von klein auf über Problemlösung beigebracht wurde und was wir daher gut geübt haben. Zum anderen spielt aber auch unsere Persönlichkeit eine Rolle: Manche Kinder beschäftigen sich von Anfang an gern allein und möchten vieles am liebsten ganz eigenständig ausprobieren, andere suchen viel Kontakt und fühlen sich in der Verbundenheit besonders wohl. Manche entspannen leicht und sind schnell zu beruhigen, während andere kaum zu stoppen und immer in Aktion sind. Der innere Kompass zeigt also immer eine Mischung aus Veranlagung und Lerngeschichte. Um der eigenen persönlichen Mischung ein wenig auf die Spur zu kommen, bietet sich ein Gedankenexperiment an.

 

Übung: Ein kleiner Notfall – wie reagieren Sie?

Stellen Sie sich bitte folgende Situation vor: Es ist Freitagnachmittag und der technische Notdienst teilt Ihnen mit, dass Ihre Kühl-Gefrier-Kombination irreparabel defekt ist. Die Kühlleistung wird immer weiter abnehmen und in spätestens einem Tag ganz ausfallen. Beide Geräte sind voller Lebensmittel. 

Gehen Sie mit dem Beispiel in Kontakt und versuchen Sie, ein wenig den Druck zu spüren, den eine solche Situation aufbauen kann. Es geht nicht darum, dass Ihnen sofort eine Lösung einfällt. Sie sind sicher sehr geübt im »Probleme aus der Welt schaffen «. Es geht vielmehr um Ihre Tendenzen im Umgang mit der Situation, die sich dabei zeigen. In welcher der folgenden vier Strategien erkennen Sie sich momentan am ehesten wieder?

 

»Viele Köche verderben den Brei.«

Sie sagen Ihre Termine für den Nachmittag ab, um sich den Rücken freizuhalten. Die Meinung anderer würde Sie momentan eher stören oder noch mehr aufbringen, daher überlegen Sie zunächst allein, was Ihre Möglichkeiten sind und wie Sie diese umsetzen können.

▶ Aktivierter Problemlösestil: Eigenständigkeit

 

»Geteiltes Leid ist halbes Leid.«

Sie rufen sofort eine vertraute Person an und berichten ausführlich von Ihrem Problem. Sie erzählen, wie sehr Sie sich ärgern und wie schwierig es ist, wenn so etwas ausgerechnet am Freitagnachmittag passiert. Gemeinsam prüfen Sie verschiedene Ideen und entwickeln einen Plan.

▶ Aktivierter Problemlösestil: Verbundenheit

 

»Es wird nichts so heiß gegessen, wie es gekocht wird.«

Sie drücken die Pause-Taste und beschäftigen sich mit etwas anderem. Das Problem rücken Sie erst einmal in den Hintergrund, denn Ihre Devise lautet: Jetzt ist es halt so. Erst mal abwarten und keine voreiligen Entscheidungen treffen. Mit ein wenig Abstand lassen sich Probleme viel klarer betrachten.

▶ Aktivierter Problemlösestil: Gelassenheit

 

»Was du heute kannst besorgen …«

Schon nach einer halben Stunde haben Sie alles Wissenswerte im Internet recherchiert und eine Telefonnummer herausgesucht, bei der Sie sich Hilfe erhoffen. Sie haben eine To-Do-Liste mit der Überschrift »Kühlschrank« gemacht, die ersten vier Punkte sind bereits abgehakt.

▶ Aktivierter Problemlösestil: Entschlossenheit

 

Was ist Ihr erster Impuls? Was der zweite? Was würde Ihnen gar nicht einfallen? Welche Lösungsstrategie wäre sogar unangenehm oder würde den Stress zusätzlich steigern, wenn Sie zu ihr gezwungen wären? Natürlich ist die Übung etwas überzeichnet, denn in der Regel verfügen wir über verschiedene Strategien und nutzen eine Mischung aus diesen. Dennoch gelingt es vielen Menschen durch dieses kleine Gedankenexperiment, der eigenen Haupttendenz auf die Spur zu kommen. Ich zum Beispiel erkenne mich vor allem im Problemlösestil Entschlossenheit wieder. To-do-Listen sind mein ständiges Werkzeug, und mein erster Gedanke bei einem Problem ist: Was kann ich tun? Erst wenn ich eine erste Idee dazu habe, entsteht der Impuls, einer anderen Person davon zu erzählen. Allein der Gedanke, jemand könnte mir vorschreiben, dass ich zunächst ganz in Ruhe abwarten sollte, lässt meinen Stresspegel steigen oder macht mich gereizt.

 

Wir haben also nicht nur eine oder mehrere Tendenzen, wie wir Probleme bevorzugt angehen, sondern es gibt auch Strategien, die uns fremd sind und unseren Stress eher noch erhöhen. Vielleicht ist diese Denkweise neu und spannend für Sie, vielleicht lag Ihr persönliches Ergebnis für Sie aber auch völlig auf der Hand. Ganz egal, was Sie gerade herausgefunden haben, wichtig ist: So sieht es heute in Ihnen aus. Das kann in der Vergangenheit ganz anders gewesen sein und steht auch für die Zukunft nicht unverrückbar fest. Denn die Art und Weise, wie wir mit Problemen umgehen, ist über unsere Lebensspanne hinweg durchaus dynamisch und vielen Veränderungen unterworfen. Denken Sie nur einmal daran zurück, was Ihnen als Kind das Gefühl von Stabilität gab. Wie sehr veränderte sich Ihr Bedürfnis nach Verbundenheit vielleicht im Teenageralter? Welche Faktoren nutzen Sie im Erwachsenenalter, mit denen Sie sich bevorzugt ausbalancieren? Betrachten Sie diese Übung also als kleine Bestandsaufnahme, wie es jetzt gerade für Sie ist, mit der heutigen Tagesform, in Ihrem jetzigen Alter, angesichts Ihrer momentanen Lebenssituation – jetzt gerade aktuell, aber alles andere als in Stein gemeißelt.

 

Textauszug aus „Wenn das Leben kippt“ von Tita Kern mit freundlicher Genehmigung des Kösel-Verlages, siehe auch unter „Wortwelten“ 


Likest du noch oder lebst du schon?

© Anastasia Gepp – pixabay.com
© Anastasia Gepp – pixabay.com

Autorin: Christina Feirer

Unser Belohnungszentrum und das Dopamin

Unser Gehirn und unser Körper sind faszinierend. Joachim Bauer, ein deutscher Neurowissenschaftler, Facharzt und Psychotherapeut, schildert, dass aus neurobiologischer Sicht Menschen nach zwischenmenschlicher Anerkennung, Wertschätzung, Zuwendung und Zuneigung streben. In seinem Buch Prinzip Menschlichkeit geht er sogar noch einen Schritt weiter mit der Behauptung, dass uns Menschen nichts so sehr motiviert, wie von anderen gesehen zu werden oder Anerkennung, Zuwendung und Liebe zu erfahren. Unbewusst wollen wir als Person gesehen werden. Unser Gehirn verfolgt demnach mit jedem Ziel im Alltag den tieferliegenden Sinn, wahrgenommen zu werden. Genau diese Behauptung unterstreicht den Instinkt des Dazugehörens und unterstützt, dass dieser Instinkt tief in uns verankert ist.

Die Verankerung der Instinkte reicht jedoch nicht aus, wenn es in uns keine Motivation gibt, diese auch zu verfolgen. Doch damit wir tatsächlich unseren Instinkten folgen und somit unsere Überlebenschance steigern, gibt es unterstützende Mechanismen in uns. Ein Beispiel dafür ist unser Belohnungszentrum, welches in unserem Gehirn sitzt. Dieses Zentrum befindet sich im sogenannten Mittelhirn. Das Belohnungszentrum motiviert uns dazu, überlebensnotwendige Dinge zu tun. Und wie wir wissen, will unser Gehirn uns in Sicherheit wissen. Demnach ist alles, was zum Überleben beiträgt, gut und förderlich. Joachim Bauer beschreibt in seinem Buch noch eine Draufgabe, nämlich den „Treibstoff des Motivationssystems“, wie er es nennt. Bei diesem Treibstoff handelt es sich um Dopamin. Dopamin ist auch bekannt als Glückshormon. Dieses Hormon soll uns motivieren, antreiben und Höchstleistungen ermöglichen. Bauer unterstreicht, dass eine wichtige Funktion von Dopamin darin besteht, Energie zu erzeugen, um sich auf ein Ziel hinzubewegen. Es macht sowohl körperlichen als auch psychischen Antrieb möglich. (…) 

In seinem Buch Körpereigene Drogen beschreibt der Arzt und Psychotherapeut Josef Zehentbauer Dopamin als einen Botenstoff, der wach, aufmerksam, optimistisch und gut gelaunt macht. Er erhöht den seelischkörperlichen Antrieb und nützt den Effekt der Selbstbelohnung. Das Gefühl wird als angenehm empfunden und man hat Motivation, weiterzumachen. (…)

 

Unsere Urinstinkte, Belohnungen – und das Smartphone

Welche Rolle spielen nun unser Belohnungszentrum, Dopamin und Urinstinkte in Hinblick auf unsere Smartphone-Nutzung? Um dies zu verdeutlichen, lade ich dich dazu ein, die vorherigen Beispiele, also den Strauch mit Beeren oder den Spielautomaten, durch dein Smartphone zu ersetzen. Könnte es sein, dass dein Smartphone ein Begleiter ist, der dir Belohnungen garantiert? Womöglich denkst du jetzt an viele nervige E-Mails, die tagtäglich auf deinem Display erscheinen. Und du fragst dich, welche Belohnung die vielen Mails, gefüllt mit Arbeitsaufträgen deines Chefs, darstellen sollen?

Aber gehen wir eine Ebene tiefer. Vorher habe ich beschrieben, was unser Überleben, evolutionär gesehen, gefördert hat. Dazu gehört zum Beispiel, dass du ein anerkannter Teil einer Gruppe bist. Auch wenn die E-Mails deines Chefs nerven. Dennoch gibt es eine Person, die an dich denkt. Eine Person, die deinen Status hebt, indem sie dir wichtige Informationen oder Tätigkeiten anvertraut. Genau das hätte deine Überlebenschancen in der Urzeit massiv erhöht. Teil einer Gruppe zu sein, wird auch in sozialen Netzwerken wunderbar suggeriert. Du postest ein Strandfoto aus deinem Urlaub. In der untergehenden Abendsonne posierst du am weißen Sandstrand mit klarem und türkisem Wasser im Hintergrund. Natürlich willst du dieses fantastische Foto mit deinen Freunden teilen. Schließlich willst du sie ja auch am Urlaub teilhaben lassen. Nur wenige Minuten nach dem Hochladen erreichen dich bereits die ersten Likes und Kommentare. Deine Freunde teilen ihre Anteilnahme, bewundern dich und lassen dich wissen, wo sie sich gerade befinden. 

 

Was löst diese Interaktion aus? Ganz klar, du wirst gesehen, du bist anerkannt und Menschen schenken dir ihre Aufmerksamkeit. Und somit bist du Teil einer Gruppe und ein Urinstinkt von dir ist befriedigt. Grund genug, dich nun reichlich mit einer Dosis Dopamin zu belohnen. Das fühlt sich gut an, das bleibt hängen und motiviert dich, genau diesen Prozess immer und immer wieder zu wiederholen.

Ein weiteres Beispiel bezieht sich auf die Nahrungssuche. Natürlich hat sich diese in der heutigen Zeit stark gewandelt. Nahrung ist kein unsicherer Faktor mehr und ich habe unzählige Möglichkeiten, um jegliches Essen zu kaufen und zu verspeisen. Lass uns jedoch auch hier wieder hinter die Kulissen und ein bisschen tiefer blicken. Gibt es in der heutigen Zeit Beispiele, die mit der Nahrungssuche, also mit der Motivation zum Suchen und Finden, vergleichbar sind? Wie sieht es zum Beispiel mit Online-Shops aus? Wie sehr freut es dich, wenn du ein Produkt, das genau heute im Angebot ist, ergattert hast? Ob du es tatsächlich brauchst oder nicht, das spielt oftmals keine Rolle. Das Suchen und Finden von Schnäppchen, Rabatten und angeblich einmaligen Angeboten lässt unsere Herzen höherschlagen. Zusätzlich bereitet es auch Freude, Informationen, Gerüchte, Neuigkeiten oder sogar Ideen für Dekorationen oder Basteleien zu finden. Und auch dafür wird in sozialen Netzwerken (…) genug geboten. Evolutionär ist dies vergleichbar mit dem Fund einer leckeren Mahlzeit und belohnt werden wir mit einem kräftigen Cocktail an Glückshormonen.

 

Was ist also, wenn unser Smartphone doch unbewusst mit außerordentlichen Belohnungen auf uns wartet? Zusätzlich sind auch diese Belohnungen ungewiss und unsicher. Aber wir wissen, dass sie immer wieder mal eintreten. Und bereits die Möglichkeit einer Belohnung kann überaus motivieren. Die unsichere Belohnung ist somit perfekt. Und unsichere Belohnungen, also „Random Rewards“, wirken bekanntlich ja noch einmal ein Stück attraktiver auf uns.

Kurosch Yazdi ist auf Suchterkrankungen mit Schwerpunkt Verhaltenssüchte spezialisiert. Er leitet eine Suchtabteilung und hat zu diesem Thema auch das Buch Junkies wie wir verfasst. In seinem Buch beschreibt er unser menschliches Belohnungszentrum als Quell der Sucht. Drogensüchte, aber auch Verhaltenssüchte wie Essen, Shoppen oder Glücksspielen sorgen genau dort für einen Dopamin-Kick. Nachdem dies Teil unserer Biologie ist und wir alle ein Belohnungszentrum besitzen, schlummert in jedem von uns Suchtpotential. Jedoch unterstreicht er auch: Der Kern der Sucht, also der biologische Mechanismus, ist gut und sogar überlebenswichtig.

 

Frage dich selbst: In welchen Momenten greifst du besonders häufig zum Smartphone? Was ist der Auslöser dafür, was sind deine Reaktion darauf und welche Belohnung könnte dahinterstecken?

 

Sofortige Belohnung mag unser Gehirn am liebsten!

Für unser Gehirn ist es wunderbar, sofort belohnt zu werden. Wie du bereits weißt, mag es Sicherheit und den Energiespar-Modus. Beides wird erfüllt, wenn wir unmittelbares Feedback in Form einer Belohnung erfahren. Die Digitalisierung fördert dieses Phänomen. Informationen oder Unterhaltung sind jederzeit verfügbar und erfordern fast keine Wartezeit mehr. Wie lange musst du dich gedulden, um einen spannenden Film anzuschauen oder ein gewünschtes Lied anzuhören? (…) Wie lange dauert es, bis du auf Google Informationen oder Restaurant-Empfehlungen zu einer Stadt einholst, in die du gerade gereist bist? Je nach Lesegeschwindigkeit dauert es nur wenige Minuten, ehe du dich mit neuem Wissen bereichert hast. Für unser Gehirn sind diese Szenarien ein wahres Schlaraffenland. Jede Unterhaltung, Information oder Kommunikation wirkt unbewusst wie eine Belohnung. Und wenn diese Belohnung sofort eintritt, ist kaum noch Energieaufwand notwendig.

 

Leider vergessen wir in diesem Zusammenhang eine wichtige Kehrseite, (…) nämlich dass sich jeder Klick, auf den eine schnelle Reaktion folgt, gut anfühlt. Mitunter sogar besser als der Gedanke an eine unsichere Belohnung in der fernen Zukunft. Nachdem es sich gut anfühlt, tendieren wir dazu, Aktionen mit sofortiger Belohnung zu wiederholen und diese Gewohnheiten zu festigen. Nun braucht es zukünftig immer mehr und mehr Willenskraft, um aus der kurzfristigen Belohnung auszusteigen und dich langfristigen Projekten zu widmen. (…) Indem wir kurzfristigen Belohnungen nachgeben, gewöhnen wir uns immer mehr an schnellen Spaß. Zusätzlich verlernen wir, uns zu gedulden. Stell dir vor, du führst genau diese Handlungen tagein, tagaus aus. Mal dir dein Verhalten in einigen Jahren aus. Vermutlich muss für dich in der Zukunft alles noch schneller gehen. Warten senkt deine Laune und so tun es langfristige Tätigkeiten, deren Ergebnisse in ferner Zukunft liegen. Prokrastination und Ungeduld werden deine ständigen Begleiter. Alexander Markowetz hat dieses Phänomen in seinem Buch Digitaler Burnout sehr ausführlich beschrieben. Bei Prokrastination handelt es sich um das Aufschieben von bestimmten Tätigkeiten und Aufgaben. Hierzulande spricht man umgangssprachlich auch gerne von der „Aufschieberitis“. Und all das nur, weil du dich oft von schneller Belohnung verführen hast lassen und genau danach süchtig geworden bist.

 

Für mich sind die Herausforderungen mit dem Umgang der digitalen Medien eine große Chance für unser eigenes persönliches Wachstum. Wir können unser Smartphone-Verhalten als Anlass nehmen, um uns mit uns selbst auseinanderzusetzen.

 

Textauszug aus „Likest du noch oder lebst du schon“ von Christina Feirer mit freundlicher Genehmigung des Kremayr & Schermiau Verlages.

Siehe auch unter „Wortwelten“.