Nachhaltigkeit August - Dezember 2020


Unsere Welt neu denken

© Gerd Altmann – pixabay.com
© Gerd Altmann – pixabay.com

Autorin: Maja Göpel

 

»Mitte des 20. Jahrhunderts erfahren die Menschen zum ersten Mal, wie ihr Planet aus dem All aussieht.  Vielleicht werden künftige Historiker einmal zu der Einsicht gelangen, daß dieser Anblick unser Bewußtsein grundlegender veränderte, als es selbst der – das menschliche Denken zutiefst erschütternden – kopernikanischen Revolution des 16. Jahrhunderts durch das Verbannen der Erde aus dem Mittelpunkt der Welt gelungen war.«

Aus dem »Brundtland-Bericht« der Weltkommission für Umwelt und Entwicklung der Vereinten Nationen

 

London, Oktober 2019. In der morgendlichen Rushhour klettern zwei Männer auf das Dach einer U-Bahn, sodass diese den Bahnhof nicht mehr verlassen kann. Die Pendler*innen, die mit dem Zug zur Arbeit fahren wollen, stehen vor verschlossenen Waggons. Da die Aktion bald den ganzen Betrieb lahmlegt, wird es auf dem Bahnsteig enger und lauter. Während die Leute langsam verärgert realisieren, dass sie zu spät kommen werden, entrollen die Männer auf dem Zugdach ein Transparent, auf dem steht: »Business as usual = Death«, was so viel heißt wie: Weitermachen wie bisher bedeutet den Tod. Im Fall der Pendler*innen hätte weitermachen wie bisher bedeutet, zur Arbeit zu gehen. In ein Büro etwa oder in eine Fabrik. Sich an einen Computer zu setzen, in eine Konferenz, an eine Maschine, etwas herzustellen oder in Auftrag zu geben. Umsatz und Gewinn zu steigern, zum Wachstum beizutragen, den eigenen Job, die eigene Existenz zu sichern. Um Miete zu zahlen, Kredite zu bedienen und den Kindern und sich etwas kaufen zu können. Kurz: weiterzumachen mit dem Leben, wie Sie, wie wir alle es kennen und gewohnt sind. Was kann daran falsch, ja sogar tödlich sein?

 

Die beiden Männer, die an diesem Londoner Herbsttag auf dem Zug stehen, gehören zu einer Gruppe von Umweltaktivist*innen, die sich »Extinction Rebellion«* nennt, was so viel bedeutet wie »Aufstand gegen das Aussterben«. Wobei das Aussterben, gegen das sie rebellieren, nicht bloß das der tierischen Arten meint, das wir in so rasant ansteigendem Ausmaß in Kauf nehmen. Es geht ihnen nicht nur um Wale, Bienen oder Eisbären. Nein, sie meinen ganz ohne Ironie das Aussterben der eigenen Art, der Menschheit. Also uns. Verglichen mit Greta Thunberg – jenes Mädchen, das mit einem Schulstreik eine der größten Protestbewegungen in der Geschichte der Menschheit ausgelöst hat – sind die Mitglieder von Extinction Rebellion die zivil Ungehorsamen unter den Klima- und Umweltschützer*innen. Sie verlangen von der Politik zwar auch, dass sie endlich nachhaltig etwas gegen die Erderwärmung unternimmt, und unterbreiten dafür konkrete Vorschläge. Aber sie gehen nicht nur demonstrieren, sondern blockieren öffentliche Abläufe, oft in bunten Kostümen und mit der Grundregel, immer freundlich zu bleiben. An jenem Londoner Herbsttag sperren Hunderte Aktivist*innen Straßen, ketten sich an Brücken oder kleben sich in der Eingangshalle eines Flughafens fest. Sie wollten ohne Gewalt und für so viele Menschen wie möglich spürbar das unterbrechen, was sie für die wahre Ursache des Klimawandels und der ausufernden Zerstörung von Leben halten: unseren ganz normalen Alltag.

 

Für die Leute, die an diesem Morgen nicht in ihren Zug steigen können, ist das so schwer auszuhalten, dass sie die zwei Aktivisten mit Sandwichs und Getränken bewerfen. Als das nichts hilft , klettert einer der Pendler schließlich nach oben und zieht die Männer vom Dach auf den Bahnsteig hinunter, wo sie von der wütenden Menge verprügelt werden, noch bevor die Polizei eingreifen kann und sie schließlich festnimmt. Bei dieser Konfrontation ging es nicht um ein nährendes Stück Brot, um einen Schluck sauberes Wasser, ein schützendes Dach über dem Kopf oder um den letzten Liter Benzin. Es ging nur um ein paar Minuten Verspätung auf dem Weg zur Arbeit. Die einen wollen die Welt retten, die anderen wollen ins Büro. Die einen wollen mit Gewohnheiten brechen, die anderen daran festhalten. Und obwohl man anerkennen muss, dass es bei den Gruppen im Kern um ihre Existenz und die ihrer Kinder geht, scheint das eine Anliegen das andere auszuschließen. Anscheinend muss der eine verlieren, damit der andere gewinnen kann. Es gibt nur entweder oder, nur »wir« oder »die«.

 

Sieht so die Zukunft in Zeiten des Klimawandels aus? Wird das unser Leben, werden das unsere Kämpfe sein? In unserer heutigen Welt kommen nahezu gleichzeitig überall Systeme unter Druck, die über Jahrzehnte verlässlich funktioniert zu haben scheinen und die Menschheit Tag für Tag und immer umfassender mit Energie, Nahrung, Medikamenten und Sicherheit versorgten. Sie prägten eine Epoche, in der es, grob gesagt, von allem immer mehr gab. Wohlstand, auch für die Armen. Fortschritt, in allen Bereichen von Wissenschaft und Technik. Frieden, auch zwischen Ländern, deren politische Systeme grundverschieden sind. Wenn alles immer mehr wird, fallen auch Verteilungsfragen nicht so stark ins Gewicht. Das Erstaunen darüber, dass diese Epoche einmal enden könnte, der Widerstand, den der bloße Gedanke daran auslöst, und die Ratlosigkeit, was danach kommen könnte, zeigen, wie sehr wir uns an diesen Zustand gewöhnt haben, für wie normal wir ihn halten. Was in der Generation unserer Eltern noch als Privileg galt, ist heute für die meisten Menschen Alltag.

 

Gleichzeitig spüren wir, dass ein »Weitermachen wie bisher« nicht funktionieren wird. Es  sind ja nicht nur der Klimawandel, das Plastik in den Weltmeeren, der brennende Regenwald oder die Massentierhaltung. Da sind auch die explodierenden Mieten in den Städten, die wild gewordenen Finanzmärkte, der immer größer werdende Graben zwischen Arm und Reich, zunehmende Burn-out-Zahlen und die unüberschaubaren, vielschichtigen Folgen der Gentechnik und der Digitalisierung. Längst hat sich ein Gefühl von Zeitenwechsel in unsere Wahrnehmung von der Welt eingeschlichen. Unsere Gegenwart wirkt zerbrechlich, während unsere Zukunft unaufhaltsam auf jene Szenarien zuzulaufen scheint, die wir aus Weltuntergangsfilmen kennen. Aus den von der Moderne so sehr geförderten Utopien sind Dystopien geworden. Aus unserem Vertrauen in die Zukunft Sorge und Angst. Was im kleineren Maßstab gute Lösungen und hohen Komfort versprach, ist, global aufsummiert, zur Bedrohung geworden. Wir ahnen, dass wir vor immensen Umwälzungen stehen: Das, was einmal sein wird, lässt sich mit dem, was gerade noch war, immer weniger erklären, Selbstverständlichkeiten und Patentrezepte lösen sich auf. Jede Antwort auf ein Problem scheint zugleich ein anderes zu verschlimmern. Und so nehmen auch die Auseinandersetzungen darum zu, welches Problem unter allen als Erstes zu lösen sei. Was aber, wenn wir Hebel fänden, mit denen wir mehrere Probleme gleichzeitig angehen könnten? Hebel, die zwar viele Gewissheiten infrage stellen, es uns aber erlauben, statt reaktiv eine schlechte Zukunft abzuwehren, proaktiv eine wünschenswerte Zukunft zu gestalten?

 

Solche Werkzeuge zu erkunden ist meine Einladung an Sie. Denn Zukunft ist nichts, was bloß vom Himmel fällt. Nichts, das einfach nur so passiert. Sie ist in vielen Teilen das Ergebnis unserer Entscheidungen. Deshalb möchte ich Sie dazu einladen, die Welt, in der Sie, ich, wir alle leben, genauer anzuschauen, um das, was in ihr möglich ist, wieder neu zu denken. Das hat die Menschheit in ihrer Geschichte schon mehrfach getan, typischerweise in Krisenzeiten. Viele technologische Durchbrüche sind aus der Not heraus entstanden, eine Alternative zu finden. So wie jetzt die erneuerbaren Energien. Viele gesellschaftliche Umbrüche sind aus der Überzeugung entstanden, dass die Dinge sich doch auch anders gestalten lassen. Und siehe da: Frauen können wählen und Länder regieren. Die heutigen Umwälzungen verfügen über eine Größenordnung, die nicht nur Teile, sondern die Ganzheit von Gesellschaft en umfasst. Sie werden in der Wissenschaft als große Transformationen beschrieben und umfassen wirtschaftliche, politische, gesellschaftliche und kulturelle Prozesse – und damit meinen sie auch die Art und Weise, wie wir auf die Welt schauen. 

 

Beispielhaft werden hier gern die neolithische oder die – sehr viel später stattfindende – industrielle Revolution genannt. Im ersten Fall sind kleine, nomadische Gruppen sesshaft geworden und mit der Zeit zu feudalen Agrargesellschaft en herangewachsen. Im zweiten Fall hat besonders die fossile Energienutzung eine ganz andere Organisation von Wirtschaft und Gesellschaft ermöglicht, Bürgertum und Nationalstaaten kamen ins Spiel. Unsere heutige Welt unterscheidet sich fundamental von der Welt vor zweihundertfünfzig Jahren, als die industrielle Revolution begann. Und doch suchen wir heute vorwiegend mit der  damaligen Sichtweise auf die Welt nach Lösungen. Wir haben vergessen, unsere Denkmuster auf ihre Tauglichkeit für die Gegenwart zu prüfen. Sie zu hinterfragen macht den Blick auf die Hebel frei, mit denen wir aus der Krise in die Zukunftsgestaltung im 21. Jahrhundert kommen.

 

Dieses Buch ist also kein Klimabuch. Es handelt nicht davon, um wie viel Grad die durchschnittliche Temperatur auf der Erde in den kommenden Jahren steigen und welche Folgen dies für das Leben auf unserem Planeten haben wird. Es berichtet nicht von geschmolzenen Eisschilden, dem stetigen Ansteigen des Meeresspiegels oder von Landstrichen, in denen niemand mehr leben kann, weil sie überflutet wurden, sich in Wüsten verwandelt haben oder immer wieder von verheerenden Stürmen heimgesucht werden. Es erzählt nicht vom größten Artensterben seit dem Ende der Dinosaurier, von der Versauerung der Ozeane, von Wassermangel, Hungersnöten, Epidemien und Flüchtlingsströmen oder einem der unzähligen anderen Szenarien, vor denen Wissenschaft ler*innen aus aller Welt seit Jahrzehnten warnen und deren Eintreten sie, oft viel schneller, als sie es selbst für möglich gehalten haben, inzwischen in immer neuen Studien vermelden.

 

Ich bin keine Klimaforscherin. Ich bin Gesellschaftswissenschaftlerin, und mein Hauptinteresse gilt der politischen Ökonomie. Ich sehe mir die Art und Weise an, wie Menschen wirtschaften und ihr Zusammenleben gestalten. Welche Beziehungen sie dazu zur Natur und zu anderen Menschen eingehen. Wie sie mit Ressourcen umgehen, mit Energie, Material, Arbeitskraft. Nach welchen Regeln sie Arbeit organisieren, Handel und Geldströme. Welche Technologien sie entwickeln und wie sie diese einsetzen. Vor allem interessiert mich, warum genau die Lösungen entstehen, die entstehen, und warum sich einige Konzepte durchsetzen, andere hingegen nicht. Welche Ideen, Werte und Interessen stehen dahinter? Woher kommen diese Ideen? Wie konnten aus ihnen jene mächtigen Theorien werden, die heute nicht nur unser Wirtschaft en bestimmen, sondern unser Denken, unser Handeln, unser Leben überhaupt – mitunter sogar wie wir uns fühlen? Und warum sind die Ideen, die sich in den letzten zweihundertfünfzig Jahren in diesen Theorien verstetigt haben, heute nicht unbedingt hilfreich, um aus der Krise unserer Ökosysteme und Gesellschaft en eine Chance für die Zukunft zu machen?

 

Es mag sich so anfühlen, als habe sich unser Wirtschaftssystem ganz natürlich entwickelt, etwa wie sich einst Flora und Fauna ganz ohne unser Zutun entwickelt haben. Aber  Systeme, die Menschen gemacht haben, funktionieren anders. Wir schätzen unsere Lage ein, geben uns Regeln und verändern damit unsere Situation. Diese Veränderung kann kulturell, marktbezogen oder auch einfach eine nationale Grenze sein, meist spielt mehreres zusammen. Selbst wenn wir diesen schöpferischen Anteil an unserer Realität im Alltag kaum mehr wahrnehmen oder rückverfolgen können, weil aus Ideen und Innovationen längst Gemeinplätze, Gesetze, Institutionen und Gewohnheiten geworden sind – es sind unsere selbst gemachten Regeln, aus denen die Welt, wie wir sie kennen und uns eingerichtet haben, besteht.

 

Wenn wir also verstehen wollen, wie es passieren konnte, dass die Menschheit den Planeten – den einzigen, den sie zur Verfügung hat – in der Lebensspanne zweier Generationen an den Rand des Kollapses gebracht hat, müssen wir uns diese Ideen, Strukturen und Regeln wieder bewusst machen. Was »bewusst machen« bedeutet? Zu erkennen, was man tut, und zu fragen, warum man es tut. In der Wissenschaft nennen wir das eine reflexive Vorgehensweise. Darin liegt eine Chance – nämlich die, zu lernen. Denn wer nicht hinterfragt, was und warum er etwas tut, kann sich auch nicht entscheiden, anders zu handeln. Wenn wir für Alternativen nicht offen sind, gleicht unsere Antwort auf neue  Probleme oft nur einer Kopie des bereits Bekannten. Grundlegend zu hinterfragen und mit abweichenden Antworten zu experimentieren heißt, Freiheit und Gestaltungskraft zurückzugewinnen. Es bietet die Chance, rechtzeitig neue Originale zu schaff en, statt Herausforderungen stets mit altgedienten Kopien zu begegnen.

 

Deshalb bin ich so gerne Wissenschaftlerin. Und deshalb schreibe ich dieses Buch. Es ist kein Kompendium nuancierter Details, Fakten, Zahlen und Unterschiede zwischen einzelnen Modellen und Prognosen. Es ist der Versuch, die großen Linien des heute zu spürenden Zeitenwandels in möglichst zugänglicher Form darzulegen und ein paar Ideen und Sichtweisen anzubieten, die zwischen den scheinbar unauflöslichen Positionen der Bewahrer*innen und Blockierer*innen vermitteln – damit wir Orientierung in den Suchprozess nach einer gemeinsamen nachhaltigen Zukunft bringen können.

 

Ich bin in einem Dorf in der Nähe von Bielefeld aufgewachsen, in dem sich meine Eltern mit ein paar Freund*innen, die ebenfalls Kinder hatten, ein altes Bauernhaus ausgebaut hatten. Das Haus war so groß, dass jede Familie ihre eigenen Räume hatte, aber trotzdem waren wir ständig alle zusammen. Bis heute sind die Kinder der Freund*innen meiner Eltern wie Geschwister für mich. Wir gingen alle auf dieselbe Schule, eine neu gegründete Reformschule, in der es statt Zensuren nur sogenannte Berichte zum Lernvorgang gab. Wenn wir nachmittags nach Hause kamen, übernahm abwechselnd einer der Erwachsenen den Kinderdienst, sodass die anderen arbeiten konnten. Wir Kinder verschwanden in dem Bauwagen, der in unserem Garten stand und den wir, natürlich, in Regenbogenfarben angemalt hatten. Klar, dass wir im Dorf als Hippies galten, dabei hatten alle Erwachsenen bürgerliche Berufe. Meine Eltern sind Mediziner*innen, sie engagieren sich für verbesserte Prävention von Krankheiten und die Bewältigung von Traumata. Beide sind bis heute Mitglieder des ippnw, dem Verein Internationaler Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs.

 

Für die Achtzigerjahre der Bundesrepublik Deutschland hatte ich also eine typisch untypische Kindheit, und doch wurde mir durch die bunte Mischung an Lebensläufen in unserer Reformschule immer wieder bewusst, wie privilegiert wir in unserem ökosozialen Bauernhaus aufwuchsen. Ich mochte zwar die vegetarischen Burger nicht besonders, die es bei uns zu Hause gab, zumindest hätte ich dazu gern Cola getrunken, die es wiederum auf unserem Speisezettel nicht gab. Aber Fleisch fehlte mir auch nicht unbedingt, nur die Milch, die Nüsse und die Pilze. Das war nach Tschernobyl. Ich erinnere mich noch genau an den dicken Sack Milchpulver in der Speisekammer und die Ansage, die ersten Tage nach dem Unfall nicht durch die Felder zu streifen. Das Ausmaß der Strahlung war unklar. Es war eigenartig, zumal sie ja unsichtbar ist. Ein paar Jahre später kam der erste Golfkrieg und wir blockierten im Protest für Frieden mit anderen Schüler*innen den Bielefelder Jahnplatz. 

 

Irgendwann in dieser Zeit fragte ich mich: Alle Menschen, die ich kenne, wünschen sich Liebe, Frieden, die Überwindung von Armut und eine schöne und sichere Umwelt. Warum also machen wir das dann nicht einfach? Was hält uns als Gesellschaft davon ab? Antworten auf dieses Paradoxon zu finden, ist wohl der Antrieb, der mich bis heute durch die Welt trägt. Ich habe in Deutschland, Spanien, der Schweiz und in Kanada studiert, bin mit dem Rucksack durch Südamerika und die USA gereist, habe als Ehrenamtliche für den Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland gearbeitet und dadurch Hongkong, Mexiko und Welthandelskonferenzen kennengelernt, bei denen wir mit dem internationalen Netzwerk »Our World is Not For Sale« kooperierten. Für die Stiftung »World Future Council (WFC)« habe ich mit Vordenker*innen der Nachhaltigkeit aus aller Welt Politikempfehlungen für einen besseren Schutz der Interessen und Rechte zukünftiger Generationen entwickelt und bei den Vereinten Nationen in New York sowie der Europäischen Union in Brüssel für sie geworben. Als ich Mutter wurde, habe ich mich beruflich für das Wuppertal Institut entschieden, eine Forschungseinrichtung für Umwelt, Klima und Energie. Dort konnte ich viele meiner praktischen Erfahrungen mit Ansätzen der Transformationsforschung verknüpfen und theoretisch ausarbeiten.

 

Ich war immer mit einem Bein Wissenschaftlerin, aber ich wollte nie Wissen erlangen, um es nur im kleinen Kreis mit anderen Expert*innen und Entscheidungsträger* innen zu teilen. Es hat mich immer auch in die breite Gesellschaft gezogen, meist an Orte, wo Menschen für Ziele jenseits ihres eigenen Wohlstands und Erfolgs brennen und alles geben. Von ihnen habe ich unglaublich viel gelernt und mich bemüht, es in meine wissenschaftliche Tätigkeit einfließen zu lassen. Heute arbeite ich als Generalsekretärin des Wissenschaftlichen Beirates der Bundesregierung für Globale Umweltveränderungen (WBGU). Das ist ein Gremium unabhängiger Expert*innen, das regelmäßig den Wissensstand zu den wichtigsten Umwelt- und Entwicklungstrends zusammenträgt, damit politische Entscheidungsträger*innen sich daran orientieren können. Einen großen Teil meiner Zeit stecke ich in die Kommunikation der Ergebnisse, um sie möglichst vielen Menschen verständlich zu machen. Denn gerade in vermeintlich postfaktischen Zeiten bleibe ich unbeirrbare Humanistin, die an die Kraft von Wissen und Gewissen glaubt. An die Chance auf Verständigung, wenn die Wurzeln des Missverstehens ergründet werden und Menschen sich jenseits ihrer festgefahrenen Rollen begegnen können.

 

Im März 2019 habe ich deshalb zunächst mit einer kleinen Gruppe von Wissenschaftler*innen die »Scientists for Future (S4 F)« gegründet und einen offenen Brief formuliert, der die Proteste der jungen Leute auf unseren Straßen mit einer Aneinanderreihung von Fakten als vollkommen gerechtfertigt unterstützte. Wir hätten nie damit gerechnet, dass innerhalb von drei Wochen 26 800 Wissenschaftler*innen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz diesen Brief mitzeichnen würden. Oder dass die Bundespressekonferenz zur Diskussion unserer Position ein Erfolgsschlager in den sozialen Medien werden würde. Wir sehen es als unsere Verantwortung, in dieser Zeitenwende Angebote für neue Originale zu liefern. Und ich sehe in der Bereitschaft , sich zu informieren und Gewissheiten zu hinterfragen, eine unglaubliche Chance. Damit ist zwar nicht gleich das Paradoxon meiner Jugend gelöst, aber die wichtigste Voraussetzung für Veränderung geschaffen: Ein Möglichkeitsraum wird sichtbar.

 

Die weltweiten Krisen in Umwelt und Gesellschaft sind kein Zufall. Sie offenbaren, wie wir mit uns und dem Planeten umgehen, auf dem wir leben. Wenn wir diese Krisen meistern wollen, müssen wir uns die Regeln bewusst machen, nach denen wir unser Wirtschaftssystem aufgebaut haben. Erst wenn wir sie erkennen, können wir sie auch verändern – und unsere Freiheit zurückgewinnen.

 

Textauszug aus „Unsere Welt neu denken“ von Maja Göpel mit freundlicher Genehmigung des Ullstein Verlags. Siehe auch bei „Wortwelten“.