Hommage an die Bodhisattva Greta - von Manfred Folkers

Every time I see a child,

I think about the world

we will leave behind

for that child.

(Thich Nhat Hanh)

 

Jedes Mal wenn ich ein Kind sehe,

denke ich über die Welt nach,

die wir diesem Kind hinterlassen.

  

Im Jahr 1981 geriet mein Leben in eine Phase, die von Erschöpfung, Rückzug, Antriebslosigkeit und Zukunftszweifel gekennzeichnet war. Einige Gründe für diesen Zustand hat die amerikanische Systemwissenschaftlerin und Buddhistin Joanna Macy zehn Jahre später in Worte gefasst: „Heute haben wir die Sicherheit verloren, dass wir eine Zukunft haben werden. Und ich glaube, der Verlust dieser Gewissheit ist die zentrale psychologische Realität unserer Zeit. Viele Therapeuten tun sich schwer mit der Vorstellung, dass die Sorge um das Wohl der Allgemeinheit so groß sein kann, dass sie den Einzelnen in ernste Bedrängnis bringt (*).“ 

 

Die Bewältigung meiner Krise enthielt auch einen Vortrag eines weißbärtigen Professors über das Leben im Allgemeinen und im Besonderen. In der anschließenden Diskussion nahm ich all meinen Mut zusammen und fragte ihn: „Wenn ich feststelle, dass sich die Gesellschaft in eine falsche Richtung entwickelt und ich mich mit meiner eigenen Kraft an diesem Irrweg zu beteiligen habe - was soll ich tun?“ 

 

Seine Antwort „weitergehen“ befriedigte mich nicht, gehörte aber zum Beginn einer Kurve, die mich fast zwei Jahre durch Süd- und Ostasien führte, um als Individual-Reisender (damals Backpacker oder Traveller genannt) die Welt aus ungewohnten und möglichst unterschiedlichen Blickwinkeln zu betrachten. 

 

Auf diese Weise kam ich mit fernöstlichen Weisheitslehren in Berührung und beschäftigte mich nach meiner Rückkehr mit Achtsamkeit und Entschleunigung, indem ich Taijiquan, Qigong und Sitz-Meditation lernte und praktizierte. Zahlreiche Retreats mit Thich Nhat Hanh und dem Dalai Lama halfen mir, die Essenz des Dharma zu verstehen und von einer grundsätzlichen und vollständigen Verbundenheit mit der Welt (Intersein) ausgehend eine Art inneren Frieden zu erleben. 

 

Die schwedische Umwelt-Aktivistin Greta Thunberg hat in einem viel jüngeren Alter eine ähnliche Krise durchgemacht und darauf wesentlich radikaler und offensiver reagiert. Ihre Schlussfolgerungen aus ihrer Analyse des Umgangs der Menschen mit der globalen Biosphäre hat sie am 25. 1. 02019 auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos zusammengefasst: „Ich will, dass ihr in Panik geratet und die Angst verspürt, die ich jeden Tag habe!“ 

 

Indem sie diesen Aufruf am 23. 7. 02019 im französischen Parlament mit der Aussage ergänzte: "Ihr müsst uns nicht zuhören. Aber Ihr müsst der Wissenschaft zuhören. Das ist alles, was wir verlangen", verhielt sie sich wie eine Bodhisattva, jener „im Weltleben stehenden Menschen, die von Güte und Mitgefühl getragen“ sich „zum Wohle aller mitfühlenden Wesen einsetzen“ (Wikipedia). 

 

Greta Thunberg ist keine Ikone, sondern eine bodenständige Person, die tief in unsere gegenwärtige Lebensweise hineingeschaut und aus ihren Einsichten konkrete Aktionsvorschläge erarbeitet hat. Sie verkörpert Botschaften, die zum Nachdenken anregen: Über die Unterschiede zwischen den als notwendig erkannten und den tatsächlichen Handlungen, über eigene Inkonsequenzen im Umgang mit Ressourcen, über unangemessene Lebensträume und Alltagsgewohnheiten, über den eigentlichen Sinn des Daseins. 

 

Die 16-jährige Greta ist eine von Festigkeit und innerer Freiheit durchdrungene Persönlichkeit, die es nicht stört, wenn viele Menschen die von ihr ausgehenden Botschaften (noch) nicht an sich heranlassen wollen, sondern mit allen Mitteln probieren, die Botschafterin zu „bashen“ oder zu diskreditieren. Sie ist eine Bodhisattva, weil sie aus voller Überzeugung daran arbeitet, den vor 40 Jahren von Hans Jonas formulierten „ökologischen Imperativ“ zu verwirklichen: "Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlungen verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden." (**) 

 

Greta ist ein Mensch wie du und ich, denn wir sind alle potentielle Bodhisattvas, also prinzipiell in der Lage, ein integeres Leben zu führen. Indem wir unsere räumlich-materielle Verbundenheit mit der Erde akzeptieren und sie als unseren - einzigen - Heimatplaneten anerkennen, verhelfen wir ihr zu einer Stimme in uns selbst, die uns ständig zu einer achtsamen und behutsamen Pflege der Mitwelt aufruft. Aus der Einsicht in unsere zeitliche Verbundenheit mit dem Dasein können wir den „friday for future“ auf alle Tage der Woche ausdehnen und der Zukunft eine Stimme in der Gegenwart geben. 

 

Möge es Greta und uns gelingen, zum Wohle aller - auch der zukünftigen - Wesen zu wirken. 

 

Manfred Folkers, Oldenburg (September 02019), https://www.achtsamkeit-in-ol.de/aktuelles-programm/

 

(*) Joanna Macy: Die Wiederentdeckung der sinnlichen Erde; Zürich 1994; S. 19 + 36

(**) Hans Jonas: Das Prinzip Verantwortung - Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation“,  Frankfurt 1979; S. 36